Schweitzer Fachinformationen
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Das Thermometer an der Wand zeigte auf die Vierundzwanzig, die Uhr auf der Kommode zeigte auf die Drei, der Kalender in der Küche zeigte auf die Zwölf, der Wärmeregler drüben im Schlafzimmer zeigte auf Aus. Hätte Ernest mitgezählt gehabt, dann hätte er gewußt, daß die Summe der Projektile, die in seinen Körper eingedrungen waren, auf die Fünf zeigte. Aber wer, bitteschön, zählt schon mit, wenn man auf ihn schießt? Das müßte dann schon ein extrem zahlenbewußter Mensch sein.
Immerhin, daß es mehrere Kugeln gewesen waren, hatte er mitbekommen. Wobei er zu seinem Erstaunen immer noch nicht tot war. Er hatte sich das sehr viel rascher vorgestellt. Möglicherweise war es so, daß keins dieser Geschosse ihn an einer Stelle getroffen hatte, die geeignet gewesen wäre, seinen sofortigen Tod zu bewirken. Die Betonung liegt auf »sofortig«, denn er fühlte durchaus, wie er schwächer und schwächer wurde, was vielleicht aber auch mit dem Mittel zusammenhing, das ihm der Mann, der gefeuert hatte, nachdem er gefeuert hatte, verabreicht hatte. Faktum war jedenfalls, daß aus den verschiedenen Perforationen seines Körpers das Blut floß, und zwar nicht zu wenig.
Sollte das sein Ende sein?
Er sah über sich die Todesanzeige schweben, das schwarze, schmale Kreuz, darunter die Buchstaben, die vom Wind getragen, leicht vibrierend in der Luft standen und jenen Namen bildeten, den er so lange verleugnet hatte: Ernest Hemingway.
Er hatte es immer gehaßt, so zu heißen. Daß der eigene Familienname mit dem einer Person identisch war, die diesen Namen berühmt gemacht, ihm eine Aura, einen Glanz verliehen hatte, nun gut, das kam vor. Andere Menschen mußten auch damit leben, den Namen Brahms oder Churchill zu tragen, das war nicht so schlimm, solange man nicht auch noch Johannes oder Winston zu heißen brauchte. Doch genau das war in seinem Fall geschehen, weil seine Eltern auf eine dümmliche Weise stolz gewesen waren, wenn schon nicht verwandt, so eben namentlich mit dem großen amerikanischen Romancier verbunden zu sein. Und welche diesen Stolz auf die Spitze getrieben hatten, dadurch, ihren einzigen Sohn auf den Namen Ernest zu taufen. Ohne sich jemals vorzustellen, wieviel Spott und Hohn ihr Kind dank dieser Unsinnigkeit würde ertragen müssen. Vor allem natürlich wegen der halbgebildeten Erwachsenen, etwa den Lehrern in der Schule, die bei jedem falsch geschriebenen Wort, jeder unglücklichen Formulierung den kleinen Ernest darauf verwiesen, daß es sich bei ihm offensichtlich um den falschen Hemingway handle. Nun, da hatten sie absolut recht, es allerdings zu erwähnen, es mit billigen Wortspielereien vor aller Welt - und was wäre eine Klasse anderes als alle Welt? - breittreten zu müssen, hatte dazu geführt, daß die anderen Schüler diesen Umstand ebenfalls benutzten, um ihre Späße zu treiben, anfangs in Unkenntnis der eigentlichen Bedeutung, später dann mit konkreten Hinweisen auf den Nobelpreisträger, sein Werk und seine Lebensumstände. Wie oft hatte sich Ernest, bevor er eins auf die Nase bekommen hatte, den Spruch »Wem die Stunde schlägt« anhören müssen, so daß das Gesagte mehr geschmerzt hatte als der eigentliche Schlag, wie oft hatten Lehrkräfte, bevor sie ihm eine an der Kippe stehende Benotung bekannt gegeben hatten, süffisant vom »Haben und Nichthaben« gesprochen. Außerdem mußte er Fingerzeige in Bezug auf den Stierkampf - eins der ekelhaftesten Dinge, die er kannte: lebende Tiere aufspießen - sowie Anspielungen auf alte Männer, Meere und die Trunksucht über sich ergehen lassen, vor allem aber Bemerkungen über die Unart, sich eine doppelläufige Schrotflinte an den Mund zu halten und sich damit aus dem Leben zu befördern. Kaum ein Konflikt mit Gleichaltrigen, bei dem nicht am Ende die Empfehlung gestanden hatte, es dem versoffenen Großwildjäger gleichzutun.
Das Prinzip fast jeden Unglücks ist es, sich zu steigern, ganz wie Gäste oder Fieber. Gäste und Fieber kommen ja nicht, um gleich wieder zu gehen, sondern mal eine Weile zu bleiben und solange zu nerven, bis irgend eine Art von heimlicher oder lauter Eskalation eintritt und hernach die Heilung beginnen kann.
Ernests Unglück steigerte sich nun geradezu ins Unermeßliche, indem er mit zehn Jahren, als er sich bereits die längste Zeit dumme Witze über Safaris und das Boxen und tote Stiere und den Schnee auf dem Kilimandscharo hatte anhören müssen, zu stottern begann. Ja, anfangs schien er sich nur im Zuge einer Nervosität oder Aufgeregtheit in den Worten zu verfangen, wie Kinder manchmal reden, wenn die Gedanken ihnen davoneilen. Doch es wurde schlimmer, und bald konnte er keinen Satz mehr sprechen, ohne mühselig und verzweifelt über die Schranke zu steigen, die sich in seinem Mund gebildet hatte. Eine verknotete Zunge als Resultat einer verknoteten Seele. Woraus sich in der Folge jene Lösung ergab, die sich einem jeden Stotterer unweigerlich aufdrängt: nämlich den Mund zu halten.
Es versteht sich, daß ihn seine Eltern zu diversen Ärzten brachten, denen alle möglichen Ursachen in den Sinn kamen, schließlich ist die Stotterei ein Eldorado freier Interpretation. Ärzte, die ihrerseits nicht ohne Amüsement den berühmten Namen des Kindes feststellten, ohne jedoch einen Bezug zu dessen verbaler Irritation herzustellen. Statt dessen übten sie sich im Kaffeesatzlesen. Ernests Eltern wiederum reagierten alsbald mit unterdrückter bis offener Aggression gegen ihren Jungen, weil sie sein Stottern als ein für alle sicht- beziehungsweise hörbares, beziehungsweise ab einem bestimmten Moment eben nicht mehr hörbares, dafür um so markanteres Zeichen des eigenen Scheiterns begriffen. Etwas, das sie als eine Ungerechtigkeit empfanden, als eine Bösartigkeit ihres Sohnes, dem sie doch mit so viel Liebe und Zuneigung begegnet waren. Nur leider nicht der Liebe, die darin besteht, einem Kind einen vernünftigen Namen zu geben.
Doch Rettung nahte. Und die Rettung hieß Europa. So heißt ja nicht nur einer der Monde des Planeten Jupiter, sondern auch das zerfranste Fünftel einer Landmasse auf der Erde. Ernests Vater wurde von seiner Firma nach Deutschland entsendet, um dort eine Zweigstelle aufzubauen. In Hamburg. Auf diese Weise kam der seit einem Jahr stotternde, zuletzt aber kaum noch aus seiner Verstummung herauszulockende Elfjährige in eine Stadt, die er sofort liebte, vor allem, wie man hier redete. Ohne, daß er vorerst ein einziges Wort verstanden hätte. Er war ja soeben noch mit dem Schweigen in Englisch beschäftigt gewesen. Aber die neue Sprache klang so schön, sie roch so gut, sie schmeckte so gut, und vor allem war sie fremd. Das war das Beste an ihr. Daß kein Mensch hier Ernest hieß und auch niemand von einem Ernest redete, sondern, wenn schon, dann von einem Ernst, und das mag nun zwar die deutsche Urform sein, klingt aber völlig anders, überhaupt nicht nach Safari und ähnlichem Unfug.
Ernest beschloß, ein Ernst zu werden. Weshalb er begann, die neue Sprache zu erlernen, und zwar mit einer Geschwindigkeit, die seine Eltern und jedermann verblüffte. Vor allem aber, daß er nicht mehr stotterte, so daß man hätte meinen können, er sei geheilt. Aber er war nicht geheilt, nicht auf Englisch, sondern nur auf Deutsch.
Nach einem Jahr war er so gut darin, um von der Sprachschule, auf die er gegangen war, in ein konventionelles Gymnasium zu wechseln. Die Versuche seiner Eltern, ihn in eine internationale, bilinguale Schule zu schicken, hatte er mit dem sofortigen Rückfall in sein altes Schweigen beantwortet, so daß man rasch von dieser Idee wieder abgekommen war. Auch von der Idee, den eigenen Sohn davon abhalten zu wollen, sich den Vornamen Ernst zu geben. Er setzte sich durch, so daß er von nun an also Ernst Hemingway hieß. - Man mag nun einwenden, daß es doch viel effizienter gewesen wäre, hätte er gleich einen völlig anderen Vornamen angenommen, doch möglicherweise war es gerade diese feine Abstufung, die so stark wirkte, stärker als die dramatische Flucht in Namen wie Daniel oder Sven oder Torsten. Nein, mit dem Namen Ernst war er zufrieden und parierte die natürlich auch in Deutschland stattfindenden literarischen Anspielungen mit frischgewonnener Bravour. Wobei sich die Menschen hier ohnehin sehr viel weniger für den großen alten Amerikaner und seine Kubageschichten und seine Fischgeschichten interessierten. Zumindest in den Freundeskreisen, in denen Ernst jetzt verkehrte. Hamburger Kleinbürgertum. Er liebte das Hamburger Kleinbürgertum, das sich freilich Mittelschicht nannte. Egal, er war zufrieden mit diesen Leuten und beherrschte ihre Sprache bald in einer Weise, als hätte er immer schon unter ihnen gelebt. Hatte somit auch kein Problem, dem in Deutsch vorgetragenen Unterricht zu folgen. Ein Fach allerdings verweigerte er, wie man sich denken kann. Was eigentlich an diesem Gymnasium gar nicht ging, sich des Pflichtgegenstands Englisch zu enthalten, aber nachdem ein gütiger und weiser Arzt ein Attest in der Art einer Befreiung vom Turnunterricht ausgestellt und dabei die nicht ganz unlogische Meinung vertreten hatte, daß ein Kind, das ohnehin schon perfekt Englisch erlernt habe, es nicht noch einmal zu erlernen brauche, nach dieser medizinischen und menschlichen Einsicht also wurde für Ernst von der nicht minder einsichtigen Schulleitung eine unbürokratische Speziallösung geschaffen. Man sagte sich wohl: Lieber ein Englischschüler weniger als ein Stotterer mehr. Eine Einstellung, die für Ernst einen weiteren Beweis darstellte, inwieweit die alte Welt die bessere war. Und Hamburg sowieso.
Als er acht Jahre später sein Abitur machte, war es bloß noch sein Familienname, der daran erinnerte, daß Ernst aus einem anderen Land stammte. Nicht, daß er in einem breiten Plattdeutsch redete, aber das taten ja auch seine Freunde nicht. Der...
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