Schweitzer Fachinformationen
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»Ich hatte heute einen schrecklichen Albtraum!«
Zugegeben, diesen Satz hatte Samuel Lindholm, mein Therapeut, schon öfter gehört. Mit diesem Satz konnte ich Lindholm schon immer sehr glücklich machen. An Albträumen hatte Lindholm seine helle Freude. Je grässlicher und detailreicher, desto besser. Was ich daraus gelernt habe, ist: Ob ich ihm von einem düsteren, maroden Haus, Zombies oder apokalyptischen Zuständen erzähle - jede einzelne Komponente war immer ich selbst. Seit Lindholm meine Träume deutete, erzählten mir andere Leute sehr ungern ihre eigenen, weil sie meine niederschmetternde Diagnose fürchteten.
Lindholm sah mich aufmerksam an. Er trug wieder eine seiner Weiß-Weiß-Kombinationen, die ich so an ihm liebte, und die Sonne, die hinter ihm durch die riesigen Fenster seiner Schwabinger Praxis schien, setzte ihm einen Heiligenschein auf. Schröder, mein alter irischer Setter, lag vor mir auf dem Fußboden und schnarchte.
»Tatsächlich«, sagte er und kritzelte etwas auf das Blatt Papier, das er auf einer Lederunterlage auf seinen Knien balancierte. Ich wunderte mich immer, wie er, ohne den Augenkontakt abzubrechen, zusammenhängende Dinge auf dieses Blatt schreiben konnte. Vielleicht konnte er es auch nicht und arbeitete in Wahrheit heimlich seine Einkaufsliste fürs Wochenende aus. Das traute selbst ich mir blind zu.
»Der Traum handelte von mir.«
Überraschung!
»Tatsächlich!« In seiner Stimme schwang ernsthaftes Entzücken.
»Ich war in einer Beziehung.«
Mein Smartphone vibrierte in meiner Hosentasche, und ich zog es heraus. Unhöflich hin oder her. Ich hatte seit Neuestem jede Menge krasses Zeug an der Backe. Zum Beispiel meinen rumänischen Handwerker, der kein Wort von dem verstand, was ich ihm sagte, und der irgendwelche Dinge im Evvie's reparierte, von denen vorher nie die Rede gewesen war. Nicht dass Missverständnisse aufkommen. Sergiu war wirklich ein herzensguter Mann, nur mit dem Hang zu ausschweifenden Feiern und spontanen Änderungen der Auftragslage. Jedenfalls musste ich ständig erreichbar sein, damit ich aufziehende Katastrophen, was das Evvie's betraf, im Keim ersticken konnte.
Ich sah auf dem Display, dass es meine Schwester Anna war, und drückte den Anruf entschlossen weg.
»Catterberg, Sie SIND in einer Beziehung«, sagte Lindholm etwas kraftlos, schaffte es aber trotzdem, dieses »sind« so zu betonen, dass es in meinen Ohren zu klingeln begann.
Das Smartphone begann sofort wieder zu vibrieren.
Ich hob zwei Finger, um Lindholm anzudeuten, dass er mir zwei Minuten geben sollte.
»Anna, ich bin mitten in einer Therapiesitzung!«, zischte ich ins Telefon.
Lindholm kritzelte wieder etwas auf das Blatt und strich es dann durch. Was kein gutes Zeichen war.
»Mein Gott, ich verstehe nicht, wie du dir immer noch diese Therapie leisten kannst.«
Das verstand ich auch nicht. Beziehungsweise ich konnte sie mir nicht leisten.
»Mit all deinen Ausgaben für das Evvie's«, fügte Anna hinzu.
Ganz genau.
»Fass dich kurz, die Zeit läuft!« Ich atmete tief durch, damit Lindholm nicht den Eindruck bekam, ich würde gleich durchknallen. Manchmal reagierte er etwas empfindlich auf meine Familienstreitigkeiten, was nur daran lag, dass er keinerlei Erfahrung mit Familien wie meiner hatte. Man konnte mit so einer Familie nicht in sich ruhen. Es war schlichtweg unmöglich. Außer man war komplett zugedröhnt. Oder hatte eine Nahtoderfahrung hinter sich. Dann vielleicht. Ich habe gelesen, dass man nach einer Nahtoderfahrung eine tiefe Dankbarkeit gegenüber allen Dingen empfindet. Vielleicht sogar gegenüber seiner eigenen Familie. Aber selbst wenn man nicht in sich ruhte, konnte man den Eindruck erwecken, dass man es tat.
»Maggie hat in die Familiengruppe geschrieben, dass wir heute Abend bei ihr aufschlagen sollen. Warum liest du deine Nachrichten nicht?«
»Ich habe schon was vor!«
»Es ist wichtig.« Anna senkte beschwörend die Stimme. »Es geht um Mutter.«
»Ach was. Es geht immer um Mutter!«, brauste ich auf.
»Entschuldigen Sie«, sagte ich zu Lindholm, der erschrocken zusammengezuckt war.
»Anna, ich habe etwas wirklich Wichtiges vor.«
Ich hatte mich voll im Griff. Ich war total entspannt. Ich lächelte sogar.
»Nichts kann wichtiger sein als deine Familie! Maggie sagt, wir sollen um acht da sein, und sie fragt, ob du noch eine Flasche Rum oder Eierlikör besorgen kannst. Besser Eierlikör.«
»Hmm.«
»Wenn Eierlikör, dann bitte auch die Waffelbecher mit dem Schokorand.«
»Mindestens drei Packungen.«
Ich legte nachdrücklich auf und stopfte das Smartphone zurück in meine Hosentasche.
»Wollen Sie darüber reden?«, fragte Lindholm sehr sanft.
»Nicht nötig.«
»Sie können hier über alles reden.«
»Ich weiß! Aber meine Familie ist wie die zerstörerische Wucht eines Hurrikans. Wird sie immer bleiben. Egal was ich tue, aus dieser Familie wird nie eine sanfte, warme Brise. Auch wenn ich es mir noch so sehr wünschen würde.«
Ich war richtig stolz, dass mir spontan so eine gute Metapher eingefallen war. Wenn man eines in der Therapie lernte, dann den Gebrauch von Metaphern.
»Ich meinte Ihre Beziehung.«
»Ach so.«
»Sie sagten, in Ihrem Albtraum befanden Sie sich in einer Beziehung. Und ich wies Sie darauf hin, dass Sie sich tatsächlich in einer Beziehung befinden. Nicht nur im Traum.«
Das aus Lindholms Mund zu hören, war einfach grauenhaft. Es fühlte sich an, als hätte ich ihn betrogen und er wäre mir auf die Schliche gekommen. Noch schlimmer: Er war mir auf die Schliche gekommen, und es machte ihm nichts aus. Die Tatsache, dass ich einen Freund hatte, ließ ihn vollkommen kalt.
»Es ist keine wirkliche Beziehung«, versuchte ich seine Aussage zu relativieren.
»Was ist es dann?« Lindholm beugte sich nach vorne und sah mich mit diesem intensiven Therapeutenblick an, der mich jedes Mal schwach werden lässt.
»Es ist platonischer Sex«, sagte ich. »Wir haben eine richtig gute platonische Sexbeziehung.«
»Sie kennen die Definition von platonisch?«
»Ich meinte im übertragenen Sinne«, lenkte ich ein.
»Sie meinten Sex ohne Liebe.«
Auch Lindholm hatte grausame Tage. Ich konnte das nur zu gut verstehen. Wenn ich Therapeut wäre, würde ich meinen Klienten ständig solche Theorien vor den Latz ballern. Ich wäre eine schreckliche Therapeutin. Ich wäre mit Sicherheit boshaft und unfair. Besonders wenn ich meine Tage hätte oder Migräne. Oder beides. Meine Klienten würden heulend aus der Praxis rennen, weil ich mich nicht im Griff hatte. Wer wollte denn in der Therapie schon die Wahrheit hören? Ich konnte Lindholm nur zu gut verstehen. Aber ich nahm es ihm übel, dass er seinen schwachen Moment ausgerechnet bei mir hatte.
»Das war nicht fair«, sagte ich. »Bei solchen Dingen könnten Sie etwas tiefer in die Therapeutentrickkiste greifen.«
»Ist es wahr?«
»Ist es nicht!«, brauste ich wieder auf. »Ist es natürlich nicht! Was halten Sie von mir. Mika wohnt bei mir! Sehe ich aus wie eine Bitch?«
Mika war nicht der Einzige, der bei mir wohnte. Wir verbrachten den Großteil der Nächte auf der Couch im Wohnzimmer oder in Lucinda Becketts Zimmer, wenn sie nicht da war. Meine Schwester Anna saß mir mit ihren drei Kindern immer noch auf der Pelle, seit sie vor Kurzem ihren Mann verlassen hatte. Völlig zu Recht übrigens, immerhin hatte Julius seine Yogalehrerin gevögelt. Zum Glück war wenigstens Eva inzwischen ausgezogen. Nicht zurück in ihre alte Wohnung in Friedhofsnähe, sondern in ein schickes Apartment im Glockenbachviertel. Ich hatte keine Ahnung, wie sie es geschafft hatte, diese Wohnung aufzutreiben. Aber sie war superschick, und ich gönnte sie ihr natürlich von Herzen. Solange sie dortblieb und nicht wieder bei mir im Wohnzimmer saß. Lucinda Beckett sagte, so würde es auf Dauer mit Anna und den Kindern nicht weitergehen. Das sah ich auch so. Zu viele Menschen auf kleinem Raum war noch nie eine gute Idee gewesen. Ich wartete nur darauf, dass wir alle von Annas Kindern die Kopfläuse bekamen. Oder etwas anderes Ekliges.
»Weiß Ihr Partner davon?«
»Wovon?« Ich konnte nichts dagegen tun, dass meine Stimme etwas maulig klang.
»Dass Sie Ihre Verbindung nicht als Beziehung wahrnehmen.«
»Natürlich!«, sagte ich nachdrücklich.
Natürlich nicht. Mika war wie ein kuscheliger Hundewelpe. Also auf gewisse Weise. Rein geistig gesehen. Körperlich natürlich nicht. Körperlich war er der Knaller. Manchmal musste ich, wenn ich ihn ansah, an dieses Wolfsrudel in Twighlight denken. Typen, die sich ständig herumschubsten, balgten und vermöbelten, nicht weiter als bis zum nächsten Morgen dachten, aber bombe aussahen. Ja, er war mein Jacob. Dass er bei seinem aktuellen Kellnerjob meistens ohne Hemd unterwegs war, war ein echter Bonus.
Und Lindholm? Lindholm musste mein Edward sein. Allein wie er in der Sonne funkelte. Ich legte den Kopf schief und sah ihn intensiv an. Natürlich war er mein Edward. Unnahbar. Geheimnisvoll. Auf grausame Weise sexy.
»Und wie empfindet er die Situation?«, riss mich Lindholm aus meinen Gedanken.
»Es ist alles okay zwischen uns.«
»Das glaube ich Ihnen nicht.«
»Sie wollen mir nur nicht glauben«, versetzte ich.
»Ich würde Ihnen nur allzu gerne glauben, aber ich kenne Sie zu...
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