Schweitzer Fachinformationen
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I.
Es ist eine Schande.« Gewiss keine arge Schande, sondern nur eine unwesentlich kleine und noch dazu die ganz persönliche eines durchaus gleichgültigen Mannes. Hätte Leonhard Glanz jemals über der Zeiten große Schande nachgedacht, in der er seines Lebens Mannesjahre verbrachte, diese Jahrzehnte nach dem mörderischen Ersten Weltkrieg, so hätte er gewusst, dass eben dieses Wort Schande ein Superlativ im Geschehen der Welt ist. Da aber Leonhard Glanz gerade jetzt zu eben diesem Denken kommen sollte, so ist es unsere Aufgabe, ihm auf den krummen und ganz systemlosen Wegen zu folgen, die ihn dahin kommen lassen. Nehmen wir diese Begleitung auf verknäuelten Wegen als eine Pflicht auf uns, so enthebt uns das der anderen, peinlichen Pflicht, selbst über die infame Schande unserer Tage nachzudenken, die so penetrant zum Himmel stinkt, dass in ihrer Pestatmosphäre längst die mühselig aufgezogene, allgemeine, menschliche Kultur verdorben ist, gleich für Blütenkeimlingen unter schmierigem, giftigen Mehltau. Denn bedächten wir einmal des Tages, des eben gleichen Tages Schande - da ist keine Ausnahme, keine, - so müssten wir weinen ob dieses niederträchtigen Elends. Und weinten wir, so müssten wir erblinden, denn der Tränen wäre kein Ende.
Aber die Welt ist schön in der Pracht ihre Farben, der Unendlichfältigkeit ihrer Gestalten. Strahlende Welt, wohlgeschaffene, formvollendete Welt. Dass wir dich sehen. Dass wir dich schauen. Wir haben ja keine Lust, uns blind zu weinen. Wer tut uns das? Hinweg mit ihm. Nieder mit ihm. Schlagt ihn, schlagt, schlagt ihn tot. Aber gerade das hatten wir in dem mörderischen Weltkrieg getan. Zehn Millionen Menschen hatten wir ja totgeschlagen. Es müssen die Falschen gewesen sein. Denn sahen wir danach die Welt in ihrer Pracht und ihrer Schönheit? Nichts sahen wir in des Alltags Grau und das Wochenende der genau bemessenen Freizeit ist nur ein Abziehbild. Wir hatten die Falschen erschlagen. Und nun stecken wir in der Zeiten Schande. Bis an den Hals. Tiefer. Bis an die Nase. Tiefer. Bis über die Augen.
»Es ist eine Schande«, sagte der gleichgültige Mann Leonhard Glanz halblaut vor sich hin. Und er meinte damit den niemanden interessierenden Umstand, dass er sich schon am frühen Morgen in ein Kaffeehaus begab, um dort so oder so seine Zeit zu vertun. Allerdings, dieser sein früher Morgen war schon vorgerückter Vormittag. Leonhard Glanz war ein Spätaufsteher. Nicht von jeher und aus Gewohnheit. Nein, früher war er sogar immer sehr zeitig aufgestanden. Vielleicht werden wir von diesem Früher noch etwas erfahren, wo Leonhard Glanz noch seinem Beruf nachging, der zwar nichts mit Berufung zu tun hatte, aber eine lebhafte Beschäftigung war. Beschäftigung, Geschäft, Geschäft, Geschäftigkeit, Heftigkeit, Heft, Haft, Haft, Haft.
Die Spirale, in der sich da eben das Denken des Leonhard Glanz bewegte, löste eine frostige Ängstlichkeit in ihm aus. Er sah scheu zur Seite, vergewisserte sich aber sogleich, dass die ankriechende Angst ganz grundlos sei. Denn hier war die warme Sicherheit, die Geborgenheit in einem nicht eleganten, aber anheimelnden Kaffeehaus. Und ein kleiner, rundlicher, steifbeiniger Wirt zog ein begrüßendes, breites Schmunzeln auf, das ihm leichter fiel als eine Verbeugung und das den Gästen das Gefühl familiärer Zugehörigkeit gab. Kein Lächeln, das wie Sonnenschein über eine Wasserbahn zieht, nein, ein rechtes, breites Schmunzeln, das zerläuft, wie ein Fettauge auf dünner heißer Suppenbrühe.
Leonhard Glanz setzte sich in die Ecke eines mit der Zeit höchst nachgiebig gewordenen Plüschsofas. Man meint zu sitzen, aber nein, noch nicht. Jetzt erst. Ein klein wenig zu tief hinter dem Marmortisch. Leonhard Glanz fühlt sich wieder gerechtfertigt, vor sich selbst und vor der Welt. Er ist ein Mann moralischer Grundsätze. Freilich bedurfte es nur des rundlichen Wirtes schmalzgebackenen Schmunzelns, um das säuerliche Bedenken zu beheben. Und so, im Vollgefühl seiner persönlichen Lebensrechte, bestellt sich Leonhard Glanz beim Kellner einen Braunen, mit Schlagobers, dazu frische, blonde Semmeln und Zeitung. Natürlich Zeitung. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Man muss etwas auch für das Geistige tun, obwohl es Leonhard Glanz nicht zu sehr auf das Geistige ankommt, aber man muss doch wissen, was in der Welt eigentlich gespielt wird. Also Zeitung.
Für das Morgenfrühstück ist es wohl schon reichlich spät. Die Stadt hat schon um Stunden früher mit ihrer Arbeit begonnen. Freilich, Leonhard Glanz hat jahrzehntelang um diese Tageszeit auch schon ein tüchtiges Teil Betätigung hinter sich gehabt. Tätigkeit könnte man allenfalls noch sagen, wenn auch ihr Tür selbst es Arbeit nannte. Es war aber keine Arbeit und es wird sich ergeben, dass Leonhard Glanz überhaupt keine Arbeit verstand, aber auch ganz und gar keine.
So braucht also dieser späte Frühstücksgast vor sich selbst in dieser Beziehung keine moralischen Bedenken zu haben. Der Wirt? Wir entsinnen uns des leckeren Schmunzelns. Der Kellner? Ha, der Kellner. Leonhard Glanz hatte gelernt, dass ein Kellner für den Gast kein gleichberechtigtes Wesen sein könne. Ein Kellner, was ist schon ein Kellner. Bitte sehr. Bitte gleich. Einen weißen Kaffee, braunen Kaffee, schwarzen ohne. Frische Brötchen. Mit Butter. Bitte sehr. Ohne Butter. Wie Sie wünschen. Bitte nur Platz zu nehmen. Das Messer ist stumpf. Hier ein besseres Messer. Ein besserer Esser. Sofort. Sogleich. Ein Glas Wasser. Im Augenblick. Mit einer Fliege darin. Ganz ohne? Bitte sehr, ganz wie der Herr befehlen. Ein Zöllner. Ein Kölner. Ein Kellner. Lächerlich. Ein Kellner ist für Leonhard Glanz kein Wesen. Natürlich nur in seiner Eigenschaft als Kellner. Sonst? Ich bitte Sie. Im Zeitalter des Humanismus. (Oder wie nennt man es doch? Humanismus? Natürlich Humanismus. Humanismus ist ein gutes Wort.) Allerdings hat Leonhard Glanz vor gewissen Kellnern in sehr teuren Restaurationen immer eine gewisse Angst gehabt. Sie waren so vornehm, diese Kellner. Man weiß auf einmal gar nicht mehr, wie man eigentlich Messer und Gabel anfassen soll. Was? Frischen Spargel soll man mit der Hand .? Was Sie nicht sagen.
»Ober, wo bleibt denn mein Kaffee?«
Ist schon da. Bitte sehr. Der Kaffee rechts, die Brötchen links. Die Butter in der Mitte. Die Zeitung. Ist schon da, die Zeitung. Die Morgenzeitung von gestern Abend. Das Mittagsblatt von heute früh. Die Zeitung von morgen. Wie der Herr befehlen.
Bitte sehr.
Wieviel ist eigentlich die Uhr? Wie bitte? Das will ich gar nicht wissen. Wozu brauche ich das zu wissen? Für mich ist es früh am Morgen. Sieben Uhr, acht Uhr. Neun, zehn, elf. Wo ist der Unterschied. Der Tag ist noch lang genug. Der Tag wird sogar noch viel zu lang werden. Für einen, der mit der Arbeit fertig ist, wenn er aufgestanden und sich angekleidet hat. Leonhard Glanz hat nichts zu tun.
Elf Uhr vormittags und nichts zu tun? Elf Uhr vormittags? Herr Glanz, rufen Sie doch bitte mal die Bank an, es fehlen noch zweitausend Mark für die Wechsel, die wir heute einzulösen haben. Herr Glanz, wollen wir die Offerte von Liverpool nun acceptieren? Wir müssen bis zwölf Uhr gedrahtet haben. Herr Glanz, draußen ist der Vertreter von der oldenburgischen Jute-Sack-Fabrik. Herr Glanz hin, Herr Glanz her. Die Bank, die Post, die Expedition. Melden Sie mal dringendes Gespräch mit Oldörp in Lübeck an, ich muss den alten Oldörp sprechen. Fragen Sie mal bei der Paketfahrt an, ob die »Washington« noch für hundert tons Raum hat. Wo ist eigentlich mein Tintenstift? Mein Tintenstift, Tintenstift?
Elf Uhr vormittags. Und Leonhard Glanz sitzt beim Morgenkaffee. Und es ist ganz egal. Es ist sogar schon Viertel nach.
Ganz egal.
Warum? Ach so, Sie meinen wieso? Leonhard Glanz hat doch gar kein Geschäft mehr. Leonhard Glanz hat doch gar keine Beschäftigung mehr. Hat keine Tätigkeit und nichts zu tun. Leonhard Glanz hat überhaupt nichts mehr. Nicht einmal Geld. Keine Angst. Das Frühstück wird er bezahlen. So viel hat er noch. Für zwei Wochen. Sagen wir mal, für drei Wochen. Wenn keine Mädchen dazwischenkommen, für vier Wochen. Was kosten hier wohl die Mädchen? Sagen wir, fünf Wochen im Höchstfall. Aber ist das Geld? Und dann, nach fünf Wochen und einem Tag? Leonhard Glanz hat nichts mehr. Garnichts. Leonhard Glanz ist ein Emigrant.
Vielleicht, vielleicht wird Leonhard Glanz, der Emigrant, zum ersten Mal in seinem Leben einen Beruf haben. Vielleicht. Wenn es auch vorläufig noch nicht danach aussieht. Kaffeehaussitzen und sonst alles egal Finden ist gewiss kein Beruf. Das wird einen Kampf geben. Da werden die Dinge aufeinander schmettern. Da werden die Trompeten blasen. Da werden sich die Riesen und Drachen in Harnisch werfen, auf in das Giftgas. Mit flatternden Fahnen und einstweilen noch haltender Bügelfalte. C-Dur und fortissimo. Leonhard Glanz hatte einmal eine Freundin, die spielte Klavier. Allegro moderato und so. Sie war blond und die Musik von Mendelssohn. Keine Ahnung hatte sie, was das für eine Rassenschande war. Mendelssohn und dann Leonhard Glanz. Als er sie zuletzt traf, zufällig auf der Straße, kam sie ihm mit hochgerecktem rechten Arm entgegen. Es war peinlich. Nicht zu sehr, weil Leonhard Glanz den »deutschen Gruß« der alten Römer ja nicht erwidern konnte, sondern weil sie - es war im heißen Sommer - eine farbige Seidenbluse trug und unter der Achsel war die Bluse feucht und die Farbe hässlich ausgeschwitzt. »Guten Tag«, sagte Leonhard Glanz, da fiel ihr erst das Rassenschänderische ihres Betragens ein. Der Arm fiel herunter, das eben noch lachende Gesicht zerfiel zu Angst. Sie blickte sich scheu um und ging schnurstracks in das nächste Haus. Es war der Laden der...
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