Schweitzer Fachinformationen
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Der schönste Dialog über die Unendlichkeit stammt von Hamlet und seinem Vater.
Nicht vom Dänenprinzen und dem Geist, sondern von Hägar dem Schrecklichen und seinem Sohn.
Sie stehen auf einem Feld, versunken in die Betrachtung des Firmaments.
"Kommst du nicht ins Staunen, Papa", fragt Hamlet, "wenn du all die Sterne am Himmel siehst?"
"Ja", sagt Hägar. "Sie sind so klein und so mickrig und wir sind so groß."
Karin hat mir den Strip einmal geschenkt, hinter Glas und hübsch gerahmt. Ich vermute, sie wollte damit andeuten, dass ihr meine Nächte auf dem Balkon langsam ein wenig barbarisch vorkamen. Vielleicht hegte sie aber auch heimliche Sympathien für mein Staunen über den Himmel und sah mich eher als kindlichen Hamlet mit winzigem Wikingerhelm, der seinem Vater zu erklären versucht, dass da draußen noch etwas ist. Etwas Erhabenes, Ehrfurcht Gebietendes, das seinen zu eng gezogenen Horizont übersteigt.
Mein Teleskop ist nicht sehr groß, und außer dem Orionnebel, den Mondkratern und den Umrissen der Andromedagalaxie kann ich nicht viel beobachten. Aber wenn ich einen beliebigen Ausschnitt des Himmels anvisiere, sehe ich das Funkeln von hunderten Glutnestern auf einem schwarzen Tuch, hin und wieder den aufgleißenden Schweif einer Sternschnuppe, und fühle mich auf unvernünftige Weise getröstet und den Niederungen des Alltags enthoben. Bis hierher bin ich in Karins Augen nur ein Eskapist. Verzeihlich: Wer flüchtet nicht gerne aus der Wirklichkeit, in der wir leben? Was sie irritiert, ist die Beharrlichkeit, mit der ich in jeder klaren Nacht den Stand der vier großen Jupitermonde in ein A3-Notizheft eintrage, selbst bei Februarfrost, unermüdlich und präzise: Jupiter ein kleiner runder Klecks, die Trabanten vier Punkte. Io, Europa, Ganymed und Kallisto: Bevor ich nicht aufgezeichnet habe, in welchem Abstand und Winkel zum Planeten sie stehen, Datum und Zeit hinzufüge, die Skizze mehrmals überprüfe und bei Fehlern von vorne beginne, bis alles seine Richtigkeit hat, kann ich nicht schlafen. Wenn der Stand des Jupiter die Beobachtung verhindert, was oft über Monate hinweg der Fall ist, werde ich unruhig. Als Therapeutin fallen Karin da schon böse Begriffe ein, analer Charakter ist noch einer der harmlosen. Doch immer, wenn sie sie verwendet, lächelt sie dabei milde.
Nun aber sitze ich hier an diesem ungastlichen Ort und überlege, ob es nicht angebrachter wäre, die Vergangenheitsform zu verwenden. Wer weiß, wann ich sie wiedersehen werde, Karin und mein Teleskop.
Mit zehn Jahren bekam ich mein erstes Buch über Astronomie geschenkt. Es hieß schlicht "Sterne", war ein kleines Taschenbuch mit unscharf gedruckten Fotos und verzerrten Himmelskarten und entfachte in mir die erste kosmische Begeisterung. Ich erfuhr, dass es Fixsterne, Planeten, Galaxien und Nebel gab, dass eine Zündholzschachtel voller Materie eines weißen Zwerges auf der Erde sieben Tonnen wiegen würde und dass der Umfang des roten Überriesen Beteigeuze größer war als die Umlaufbahn des Mars um die Sonne. Ein Freund meines Vaters, den ich damals Onkel Martin nannte, hatte mir das Päckchen überreicht, mit geheimnisumwobener Miene, als enthielte es Schatzkarten, die nur er und ich je zu Gesicht bekommen würden. Seit diesem Moment musste er jedes Mal, wenn er bei uns zu Gast war, mit mir eine halbe Stunde auf dem Balkon verbringen. Mit ausgestreckter Hand zeigte ich auf Lichtpunkte und nannte stolz Namen, Entfernungen, Farben und Spektralklassen. Er nickte stumm und klopfte mir auf die Schulter. Irgendwann besuchte er uns nicht mehr, und ich machte mir Vorwürfe. Erst später erfuhr ich, dass der Bruch meines Vaters mit Onkel Martin mehr mit meiner Mutter als mit mir zu tun gehabt hatte.
Aber die eigentliche Geschichte begann mit dem Tod meines Vaters vor fünf Monaten. Es ging alles sehr schnell. Eines Abends rief er an und fragte, ob er zu uns kommen könne. Sofort.
Er sah müde aus. Zuerst dachte ich, er sei noch ein wenig mitgenommen von dem Essensgelage, das er drei Tage zuvor anlässlich seines fünfundsiebzigsten Geburtstages veranstaltet hatte. Für jedes gelebte Jahr einen geladenen Gast. Er hatte sich seine alte Motorradlederjacke über ein weißes Hemd mit offenem Kragen gezogen und die Gäste bis zwei Uhr früh mit seinem finsteren Humor bei Laune gehalten. Erst als wir ihn mit vereinten Kräften die Stufen zu seiner Wohnung hochgetragen hatten, befiel ihn wieder die Melancholie und er rief nach meiner Mutter, die seit zehn Jahren tot war. Nachdem er sich in mehreren Konvulsionen erbrochen hatte, legten wir ihn ins Bett und deckten ihn zu.
"Adrian", sagte er, als er eine Viertelstunde nach seinem Anruf an unserem Küchentisch saß, "ich muss dir etwas mitteilen." Karin wusste sofort, dass etwas Bedrohliches geschehen war. Mein Vater liebte sie, und wenn er nur mich ansprach, war das immer ein Zeichen dafür, dass er aus Ratlosigkeit Zuflucht zu den Blutsbanden suchte, die ihm im Vollbesitz seiner Kräfte immer verdächtig waren.
"Ich war gestern und heute bei Stefan", sagte er. "Er hat mich von oben bis unten durchgecheckt. Du weißt schon, Gastroskopie, Endoskopie, die üblichen Foltermethoden." Er holte tief Luft und nahm einen Schluck von dem Cognac, den Karin vor ihn hingestellt hatte. Seine weißen Haarsträhnen standen in wilden Bögen seitlich von den Ohren ab. In diesem Moment erinnerte er mich an das Foto eines Lisztäffchens, das ich einmal in einem Bildband über den Amazonas gesehen hatte.
"Meine Übelkeit kommt nicht von der schlechten Ernährung. Oder vom Alkohol. Sie kommt von einem kleinen Stück Scheiße, das sich in meiner Bauchspeicheldrüse eingenistet hat."
Karin, die eben noch damit beschäftigt war, einen Teller Schinken mit Melonen zu garnieren, ließ sich auf den Stuhl neben mir fallen. Ich spürte, wie sie dagegen ankämpfte, doch sie konnte ihr Aufschluchzen nicht unterdrücken.
"Na, na, so schlimm ist es auch wieder nicht", sagte mein Vater und tätschelte ihren Handrücken. "Ein alter Onkologe, der vom Krebs gefällt wird, das hat doch was, oder?"
"Wie lange noch?", fragte ich hilflos, was mir einen vernichtenden Blick von Karin eintrug.
"Drei Monate", sagte mein Vater. "Falls sich der alte Quacksalber nicht irrt und ich ihm nicht doch noch von der Schaufel springe." Er lachte hell auf, wie ein ungestümer junger Mann, der stolz darauf ist, sich in einem Kreis Erwachsener mit obszönen Reden wichtig zu machen.
Karin schaffte es, ihre Gesichtsmuskeln zu kontrollieren, und lächelte. Gegen die Tränen hatte sie aber keine Chance.
"Wir werden dir in allem helfen. Was immer du brauchst", sagte sie tapfer.
"Ich weiß, Kleines", sagte mein Vater. "Wenn ich ganz in Stefans Gewalt bin und nicht mehr reden kann, erinnere ihn bitte an sein Versprechen."
"Welches Versprechen?"
Noch ein Schluck Cognac.
"Es besteht nur aus einem Wort." Er blickte sich in der Küche um und blähte die Nasenflügel. "Es riecht hier so unangenehm frisch. Sag bloß, du rauchst nicht mehr, alter Hasenfuß."
"Doch, doch." Ich holte das Päckchen aus meiner Tasche und hielt es ihm hin. "Wir lüften nur öfter."
Er zog eine Zigarette heraus, brach den Filter ab und zündete sie sich an.
"Was machen die Sterne? Nachwuchs bei Jupiters? Oder immer noch die vier gleichen Bälger?"
Ich weiß nicht, warum ich das sagte, was ich sagte. Karin hätte sicher eine treffende Bezeichnung dafür. Hortend, fixiert, was weiß ich.
"Jupiter ist ein Planet, kein Stern. Und die Bälger werden immer mehr. Siebenundsechzig Monde sind es inzwischen."
"Aber du siehst immer nur vier!" Er lachte und hustete gleichzeitig.
Ich konnte nicht antworten, weil Karin ihren Arm ausgefahren hatte und mir mit ihren schmalen Fingern den Mund fest verschloss.
"Wie lautet das Wort", fragte sie.
"Morphium", sagte mein Vater.
Am nächsten Morgen sprach ich mit Stefan Höller, Onkologe wie mein Vater und sein bester Freund. Er hatte die Leitung der Abteilung im Allgemeinen Krankenhaus nach der Pensionierung meines Vaters von ihm übernommen.
Im dunklen Korridor der Station kam mir Stefan mit abwesendem Blick entgegen.
Seine Miene trübte sich, als er mich wahrnahm.
"Es tut mir so leid", sagte er zur Begrüßung.
"Wie schlimm ist es?", fragte ich.
Er nahm mich am Arm, zog mich ins Schwesternzimmer und drückte mich auf einen Stuhl.
"Es ist ein besonders aggressiver Tumor", sagte er. "Wir können nicht operieren, und dein Vater hat eine Chemotherapie strikt abgelehnt."
"Er wird sterben", sagte ich dumpf.
Stefan nickte und legte seine Hand auf meinen Unterarm. "Er kann noch ein, zwei Wochen zu Hause bleiben, dann werden die Schmerzen ihn zwingen, zu uns zu kommen."
Wir unternahmen Ausflüge mit meinem Vater, an seine Lieblingsorte. Es war ein sonnendurchfluteter Spätherbst. Karin fuhr, er saß neben ihr, ich im Fond. Der Semmering, das Waldviertel, die Wachau.
Einmal spätabends hielt uns die Polizei an. Karin kurbelte das Fenster herunter, der Beamte beugte sich herein. Mein Vater packte ihn am Kragen.
"Hauen Sie ab", sagte er. "Das hier ist ein Leichentransport."
Wir standen lange am Straßenrand, bis Karin alles erklärt hatte.
Mein Vater sträubte sich lange dagegen, ins Krankenhaus zu gehen. Als die Schmerzen kamen, bekämpfte er sie mit allem, was die Pharmazie zu bieten hatte....
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