KAPITEL 1
Der gedeckte Tisch im kleinen Garten lädt zum Frühstück ein. Es ist sieben Uhr morgens auf Guadeloupe und das Thermometer zeigt fünfundzwanzig Grad. Derweil sich die anderen Familienmitglieder noch mit dem Wachwerden beschäftigen, sitze ich mit meinem Kaffee im Garten. Meine Lieben wissen um meine Stummheit, bevor das Koffein wirkt und so ist es nur gut, dass sie sich mit dem Aufstehen Zeit lassen. Pudelnass liegt unser Golden Retriever Flinny auf der schattenspendenden Veranda. Er kommt gerade von einem Strandausflug zurück. Für ihn bedeuten diese jährlichen Sommerferien ein Leben ohne Leine, ohne Hundeschule und Asphalt, «zügellos» sozusagen, pures Glück. Die zu den kleinen Antillen gehörende Insel Guadeloupe erstrahlt frühmorgens in einem besonders weichen Licht. Bedächtig nippe ich an meinem Kaffee, während meine Augen das leuchtende Rot und Gelb der Hibiskus- und Bougainvillea-Stauden betrachten. Sie bilden den Zaun des üppig wuchernden Gartens, der unseren kleinen, im Kolonialstil erbauten Bungalow umgibt. Er steht in einer ruhigen Residenz, in St. François, unweit des äussersten Ostzipfels der Insel. Wenn ich morgens, noch schlaftrunken die Rollläden am Fenster der amerikanischen Küche hochziehe, bestürmen mich sogleich die Sucriers, diese Zuckervögel mit ihrem unersättlichen Verlangen nach Zucker. Das Barfuss-Dasein und T-Shirt-Leben in der Natur mit ihren spektakulären Farben unter dem tiefblauen Himmel setzt in mir immer wieder Glückshormone frei. Dazu kommt ein Gefühl tiefer Naturverbundenheit und vollständiger Gelassenheit, als ob ich alles Bisherige hinter mir lassen könnte. Auch in diesem Jahr setzen diese Empfindungen ein, obwohl mein Ehemann und der Vater von Nicole und Simone nicht mehr dabei ist. Eher scheint sich die Wahrnehmung durch die Tatsache zu verstärken, dass auch meine zweite Ehe gerade Schiffbruch erleidet. Unsere Trennung begleiten keine hässlichen Szenen und niemand spricht von Scheidung, doch das ist kein Trost für das Ehe-Aus. So kommt es, dass uns in diesem Jahr meine Freundin Paula begleitet. Ihre Anwesenheit, so hoffe ich, lenkt ein wenig von der aussergewöhnlichen Situation ab. Paula ist eine Frohnatur, zehn Jahre jünger als ich und spielt im Schauspiel-Ensemble eines Kleintheaters in der Zürcher Altstadt. Ich kümmere mich dort um die Öffentlichkeitsarbeit. Diese Aufgabe wäre für mich massgeschneidert, müsste ich mich nicht ständig mit zwei Dramaturgen auseinandersetzen, die mir aufgrund meiner früheren Werbetätigkeit die Kompetenz für die Belange der Theaterarbeit absprechen.
Langsam lässt der Kaffee meine Lebensgeister erwachen und ich beginne alles aufzutischen, was ein reichhaltiges Frühstück ausmacht. Begleitet werde ich von Zouk-Musik aus dem Radio. Sie soll die anderen zum Frühstück anlocken. Die Kinder kommen dann auch ziemlich schnell und ziemlich verschlafen über das Wohnzimmer auf die Veranda, kurz darauf erscheint Paula. «An welchen Strand gehen wir heute?», fragt mich Nicole grinsend, denn eigentlich kennt sie bereits die Antwort. «Ihr habt doch sicher schon einen im Kopf.» «St. Anne», sprudelt es aus Nicole und Simone heraus. Der weite Sandstrand von St. Anne mit seiner hohen Palmendichte ist speziell für Kinder geeignet. Entfernte Korallenriffe haben ein natürliches Wasserbecken geschaffen, in dem sie sich tummeln können. Ohne Taucherbrille sind die quicklebendigen Fische im glasklaren, türkisblauen Wasser zu beobachten. Ich sehe in die von Joghurt und Mangos verschmierten, glücklichen Kindergesichter und fast wie von selbst bilden sich die Worte in meinem Mund, doch ich wage nicht, sie meinen Kindern gegenüber auszusprechen. Als sich Paula nach dem Frühstück genüsslich eine Zigarette gönnt, muss mein Blick tadelnd statt nachdenklich wirken. Sie nimmt wohl an, ich würde ihr das Rauchen vorwerfen. «Ich weiss, was du denkst, lass mich noch während der Ferien sündigen. Zurück in der Schweiz werde ich mit dem Rauchen ernsthaft aufhören, du kannst mich beim Wort nehmen.» «Es ist nicht das Rauchen», sage ich leise. Sie schaut sinnend dem Zigarettenrauch nach. «Willst du vom Theater weg?» Dabei lacht sie schallend. «Du wirst denen doch nicht die Freude machen, indem du jetzt aufgibst! Die werden sich mit der Zeit abfinden müssen, dass jetzt ein frischer Wind alles ein wenig aufmischt.» Paula denkt offensichtlich an meine problematische Zusammenarbeit mit den Dramaturgen. «Das ist es nicht, sondern ich denke seit einiger Zeit an eine geografische Veränderung, eine Auswanderung hierher.» Sie ist weder überrascht noch erstaunt und sagt nur: «Dann mach es», es klingt so, als stimme sie irgendeinem Ausflug zu. Eine solche Antwort habe ich nun wirklich nicht erwartet. «Mit zweiundvierzig Jahren und zwei Töchtern von zehn und zwölf ist das noch möglich. Ihr kennt bereits das Land. Ich traue dir so etwas zu.» So nimmt das Thema seinen Anfang, das uns während der kommenden vier Wochen begleiten wird. Zunächst sprechen wir im Geheimen wie zwei Teenager, deren Eltern nichts von ihren Schwärmereien erfahren dürfen, bis wir kurz darauf von den Kindern belauscht werden und die Geheimniskrämerei ein jähes Ende findet. Die Aufklärung über die mögliche Auswanderung habe ich mir ebenso wie die Reaktion meiner Töchter anders vorgestellt - sie sind voller Begeisterung. So wird mein Wunsch realistischer. Doch kein Tag vergeht ohne mein Wenn und Aber, sei es die Sorge um die bevorstehende Zahnspange oder um Ballettstunden; Dinge, die ich den Kindern, wo auch immer sie sind, nicht vorenthalten will. Die grösste Hürde aber sehe ich in Sprache und Schule. Hinzu kommt noch die wenig erquickliche Aussicht auf die Reaktion meines Ehemannes. «Hör mal, wir sind hier nicht in einem Drittwelt-Land, sondern sozusagen in Frankreich. Das ganze System ist französisch. Frankreich geniesst einen guten Ruf in der Medizin. Wenn du dir weiterhin nur das Negative vorstellen willst, solltest du das Ganze vergessen.» Paula reisst der Geduldsfaden. Ihr Machtwort hält mir vor Augen, wie sehr ich mich mit meinen Bedenken im Kreis drehe. Sie hat sicher recht. Natürlich darf ich Respekt gegenüber dem Vorhaben zeigen, aber ich sollte mich nicht dauernd mit möglichen Folgeerscheinungen beschäftigen. Was zunächst als Bild entworfen wurde, gewinnt von Tag zu Tag mehr Konturen und nähert sich der Wirklichkeit. Langsam zieht die Triebfeder an, die jeden Schritt lenken wird. Geduld gehört nicht zu meinen Tugenden, oft schon wurde sie von jäher Spontaneität weggefegt. Packte mich eine Unternehmung, ein Umzug, ein Arbeitswechsel so war das Ziel Ausgangspunkt der Planung. Eine Arbeitsstelle oder Wohnung wurde gekündigt, bevor ich mich anderweitig abgesichert hatte. Das Glück stand mir in dieser Hinsicht immer zur Seite. Auch dieses Mal beginnt mein Zeitplan in umgekehrter Richtung, also vom Ende her gedacht. In acht Monaten, so rechne ich es mir aus, will ich hier auf Guadeloupe sein. Dieser Zeitraum müsste für die Vorbereitungen reichen. Das heute festgesetzte Datum ist die Initialzündung für den Start ins Neue.
Die Abende lassen wir gewöhnlich mit einem Apéro beginnen. Wir sitzen auf der Veranda, vor uns stehen die hübschen, kleinen Tische mit köstlichen Snacks. Heute mixe ich die Zutaten zu einem Planteur, ein karibisches Getränk aus Ananas-, Orangen- und Guavensaft, dazu einige Tropfen Grenadine-Sirup, gewürzt mit Zimt und Zitrone und natürlich einem guten Schuss weissen Rum. Paula nimmt genüsslich einen ersten Schluck und fragt nebenbei: «Wie kommt es eigentlich, dass man siebentausend Kilometer entfernt auf den französischen Antillen ein Ferienhaus kauft?» «Oh, das ist tatsächlich eine kuriose Geschichte, sogar doppelt kurios. Zum einen wie ich zu diesem Ort fand und zum anderen, wie das Haus uns fand. Eine Apéro-Zeit reicht dafür nicht aus.» «Dann erzähl sie mir in Fortsetzungen während unserer Abende», meint Paula. Ich schaue nach den Mädchen, wie sie versunken «Hostess und Passagier» spielen. Soeben verlangt ein Passagier nach mehr Chips. Als Chefhostess komme ich schnell ins Spiel und sorge für Nachschub, dann verschwinde ich in die Küche. Mein Drink benötigt einige Eiswürfel. «Und?», fordert mich Paula lächelnd auf. Ich nehme einen kräftigen Schluck, bevor ich beginne:
«Ich litt monatelang an plötzlich einsetzendem Herzrasen. Schlaflosigkeit machte die Nächte zu meinem Feind. Die Vermutung, auch meine zweite Ehe sei im Begriff zu zerbrechen, war der Grund, doch ich wollte es mir einfach nicht eingestehen, zu gross war die Scham. Der Gedanke an ein zweites Versagen brachte mich zur Verzweiflung. Mein Hausarzt, dem ich ein ganz besonderes Vertrauen entgegenbringe, riet mir zu einer Auszeit, alleine, am allerbesten in einem Ferienclub. Er hatte keine Ahnung, wie absurd sein Vorschlag für mich klang, denn für Clubferien war ich schon im gesunden Zustand nicht zu begeistern, geschweige denn in einer Krise. Ich sehnte mich nach nichts anderem als Ruhe. Als ich dann später eine französische Tageszeitung in den Händen hielt, ich glaube, es war in einem Café, liess mich ein Inserat über Reisen nach Guadeloupe innehalten. Verstohlen riss ich es heraus, um zu Hause den Reiseveranstalter anzurufen. Eigentlich spielte es gar keine grosse Rolle, wohin ich reise, ein Inserat über Appenzell hätte vielleicht das Gleiche bewirkt und mich nach Ausserrhoden gebracht. Ich buchte ziemlich emotionslos, interessierte mich zunächst nicht für Land und Leute von Guadeloupe. Es war so ganz anders als bei meinen vorherigen Reisen, da schürte ich die Vorfreude anhand allerlei Informationen. Aber dieses Mal hemmte mein desaströser Zustand jegliche Neugierde. Umso mehr staunte ich bei meiner Ankunft in Pointe-à-Pitre. Im Gewimmel zwischen Touristinnen, Touristen und Einheimischen hörte ich völlig...