Schweitzer Fachinformationen
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Ferienbeginn. Überall stehende Autoschlangen. Wie die meisten anderen habe auch ich mein Auto verlassen und schlendere mit einer Wasserflasche unter dem Arm zwischen den wartenden Karosserien umher. Etwas entfernt ein Mann, der an seinem Wagen lehnt und in einer Zeitung blättert. Ein wenig gelangweilt spaziere ich auf ihn zu, bleibe neben ihm stehen, schaue ihm erst über die Schulter und lehne mich dann neben ihn an den Kühler. Ich trinke einen Schluck aus meiner Wasserflasche. Irritiert schaut er zur Seite.
»Da vorne gab es einen Unfall. Haben sie gerade im Radio durchgesagt.«
»Hmh.«
»Übrigens ein interessanter Artikel über das Stockholm-Syndrom«, sage ich und tippe auf den Innenteil der Zeitung, »den habe ich heute Morgen beim Frühstück gelesen.«
Er schaut mich kurz an, dann rückt er etwas zur Seite und schottet sich hinter den Blättern gegen mich ab.
»Hätten Sie Lust, mit mir eine Tasse Kaffee zu trinken?«
Er atmet tief aus und faltet langsam sie Zeitung zusammen.
»Warum sollte ich das tun? Ich kenne Sie doch gar nicht.«
»So wie Sie Ihren Metzger, Ihren Arbeitgeber, Ihre Frau auch zu einem bestimmten Zeitpunkt noch nicht gekannt haben.«
Ich schraube die Wasserflasche zu und halte sie gegen die Sonne.
»Was ist das denn für ein Vergleich. Zu meinem Metzger gehe ich, wenn ich ein Schnitzel will, und zu meinem Arbeitgeber, weil ich dort mein Geld verdiene. Und meine Frau .«
»Sie müssen sich nicht erklären. Alles gut. Es war lediglich ein Vorschlag.«
Ich drehe mich um und schlendere langsam zurück zu meinem Auto.
»Nein, bitte warten Sie.« Er schaut auf seine Uhr und streicht sich hektisch durch seine kurzen Haare, als könne er damit eine Entscheidung beschleunigen. »Ich wollte eigentlich direkt nach Hause und mich umziehen. Duschen, raus aus dem Anzug, wenn Sie verstehen . In zwei Stunden habe ich einen Termin. Reicht das? Ich meine . reichen zwei Stunden?«
»Wozu?«
»Na ja, um sich kennenzulernen.«
»Das vielleicht nicht. Aber für eine Begegnung.«
Ich lächle. Auf seinem Hemd sehe ich einen kleinen kreisrunden Fleck.
»Kennen Sie irgendein nettes Gartenlokal in der Nähe?«, fragt er.
»Ja, ich wüsste da was. Warten Sie an der übernächsten Ausfahrt auf mich. Ab da folgen Sie mir einfach. Es sind nur wenige Kilometer.«
Er lockert seinen Krawattenknoten. Dann zögert er einen Augenblick, als könne er sich nicht entschließen, ob er sich seines Schlipses ganz entledigen solle. Offenbar entscheidet er sich für die saloppe Variante. Mit einem schnellen Ruck zieht er sich den Stoffstreifen vom Hals, rollt ihn zusammen und lässt ihn in seiner Tasche verschwinden.
Ich sehe die Bedienung auf unseren Tisch zueilen. Jetzt bitte keinen Latte Macchiato bestellen, denke ich.
»Ich nehme ein Glas trockenen Weißwein«, sage ich schnell, um ihn mit meiner Alkoholvariante eventuell von der befürchteten Bestellung abzubringen und ihn in eine andere Richtung zu lenken.
»Und für mich bitte einen schwarzen Tee mit Zitrone.«
Mit der Steigerung einer Enttäuschung habe ich nicht gerechnet. Ein Teetrinker. Milde, milde, ermahne ich mich, vielleicht hat er .
»Das einzige, was ich meinem Magen nachmittags zumuten kann«, sagt er ein wenig entschuldigend. Er hat mein Gesicht gesehen. Die Teebestellung hat ihn nachträglich verunsichert. Mit einer Hand beginnt er die Utensilien auf dem Tisch zu ordnen. Handy, Notizbuch und Portemonnaie liegen jetzt so, dass sie an der Tischkante bündig abschließen.
»Macht doch nichts, jeder von uns hat ja seine kleinen Unverträglichkeiten.«
Am Nachbartisch brüllt ein Kleinkind und schlägt seiner Mutter immer wieder mit einem Plastikschwert auf den Schoß. Die Mutter ist solche Angriffe offenbar gewohnt, unbeirrt spricht sie mit ihrer Freundin weiter und lässt das aufgebrachte Kind gewähren.
»Bitte verzeihen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich heiße Konstantin Berger. Und um es kurz zu machen - ich bin Anwalt, frisch geschieden und Vater von zwei Kindern.«
Wie auf einem Klassentreffen. Hinter einem Anwalt könnte sich ein Männlein, aber auch ein Mörder verbergen. Warum interessieren immer nur diese drei Sachverhalte - Beruf, Familienstand, Anzahl der Kinder? Als würde das irgendetwas aussagen.
»Und . haben Sie auch Hobbys? Ich heiße übrigens Frederike Felbert.«
Wenn du schlau bist, nimmst du mich jetzt hoch, denke ich.
»Frederike Felbert. Angenehm. Ein Alliterationsname. Sehr griffig. Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Hobbys kann man das kaum nennen. Ich bin nicht sehr gesellig. Schach mag ich, das habe ich von meinem Vater. Außerdem angle ich gerne und betreibe Ahnenforschung. Und ich interessiere mich für Echsen. Nicht besonders interessant, ich weiß.«
Er lacht, aber sein Lachen kommt verzögert, als hätte er die humoristische Komponente seiner Aussagen gar nicht erkannt. Ich stelle mir vor, wie er Echsen beobachtet, und verstumme. Die nächsten Sätze, die ihm aus dem Mund fallen, straucheln über die eigenen Leerstellen, mit schnell gesprochenen Fremdwörtern versucht er vergeblich Ansehen zu etablieren, stolpert aber mit wachsender Verunsicherung über Satzkonstruktionen und verheddert sich in Nebensätzen. Jetzt kommt er noch einmal auf die Alliteration zurück. »Frederike Felbert, ein schöner Name«, sagt er und verstummt jetzt ebenfalls.
Das Kind mit dem Plastikschwert hat endlich aufgegeben und sortiert nun kleine Steinchen auf der Tischdecke.
Ich schweige. Ich habe keine Ahnung, wie ich das Echsenoder Angelthema fortsetzen könnte. Ich versuche, mir Konstantin Berger in grünen Gummihosen vorzustellen. Irgendwie muss sich hinter diesem monotonen Warten auf das Beißen der Fische doch eine geheimnisvolle Macht verbergen. Trotz größter Mühe bleibt mir diese Macht aber verborgen. Sollte ich an dieser Stelle weiterfragen? Berger kommt mir zuvor.
»Und was ist mit Ihnen? Wie darf ich mir Ihr Leben vorstellen?«
Er verschränkt die Arme vor seiner Brust und schaut mich interessiert an.
Er sollte Reklame für Wasserbetten machen, denke ich. In den letzten Nächten habe ich schlecht geschlafen. Jetzt spüre ich plötzlich, wie sich die Müdigkeit langsam in mir ausdehnt.
»Ich bin ledig, kinderlos und seit zehn Jahren Grundschullehrerin.«
»Das passt gar nicht zu Ihnen. Ich meine . Grundschullehrerinnen sehen anders aus . irgendwie sanfter.«
»Sie meinen, geflochtener Zopf, ein wenig übergewichtig, Verständnis in den Augen, gütiger Blick?«
Er lacht, und ich frage mich, was an diesem Lachen nicht stimmt. Er lacht nach hinten und verursacht dabei kleine trockene Zischlaute.
»Ja, zumindest konnte ich mich dieses Klischees nie erwehren.«
Für einen kleinen Moment freue ich mich, dass er den Genitiv benutzt.
»Das kann ich verstehen«, sage ich, »Klischees, Floskeln, Gemeinplätze . damit bedienen wir uns doch alle. Das ist schnell und überschaubar, schafft Sicherheit, bringt Ordnung.«
»Dagegen ist nichts einzuwenden.«
Sein plötzlich kernig gewordener Ton widerspricht seinen weichen Gesichtszügen. Er wickelt den Teebeutel um den Löffel und drückt ihn vorsichtig aus.
Provisorisch annehmbar, denke ich, ein Garnelchen halt und nicht ein rosa Hummer. Ich beobachte seine Bewegung. Wie ahnungslos er an seinem Tee nippt. Warum denkt er nicht einfach weiter? Lustvoll, temporeich, ungeordnet? Warum kann er mir nicht mit Tucholsky kommen? »Die Basis einer gesunden Ordnung ist ein großer Papierkorb.« Oder mir einfach entgegenhalten, dass Ordnungsfanatiker ihre unnachgiebige Strenge mit Haltung verwechseln. Irgendetwas, ich will doch gar nicht viel. Eine logische Weiterführung, eine intelligente Frage, eine unerwartete Idee, ein bizarrer Gedanke . Irgendetwas! Aber nein, nur schmale Hirngespinste, spartanisch in der Ausführung. Der Wechsel des Rasierwassers mithin schon revolutionär.
Plötzlich spüre ich mich wieder, meine polemische Wut gepaart mit Langeweile und Überdruss. Keine gute Mischung. Und jetzt das: Ein Mann, eine Frau, einander fremd, in einem Gartenlokal mit Zierbrunnen und Plastikstühlen. Hier trifft Not auf Elend.
Seine Hand überprüft die Gürtelschnalle und streicht dann gedankenverloren über seinen Magen.
»Sagen Sie, warum haben Sie...
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