Kapitel 2
Eine Melodie wehte durch die frostige Luft herüber. Jingle Bells. Leises Glockengeläut, der Rhythmus der Schellen, eine samtene Stimme. Das alles konnte nur eines bedeuten: Weihnachten. Arthur Hummel schüttelte mürrisch den Kopf. In den nächsten Wochen würden sie noch mehr als genug Weihnachtslieder zu hören bekommen. Trotzdem gab es da draußen irgendeinen Spaßvogel, der gar nicht genug davon bekommen konnte und sich schon jetzt auf die Adventszeit einstimmte, am Abend vor der Eröffnung des Weihnachtsmarktes.
Arthur Hummel ertappte sich dabei, in Weihnachtsstimmung zu geraten. Er nahm sich zusammen. So ein Unsinn! Missmutig blickte er aus seinem Holzhäuschen heraus. Vielleicht wurden ja nur irgendwo die Lautsprecher getestet.
Draußen in den Gängen wurde überall gearbeitet. Schmale Häuschen wurden aufgebaut, mit Giebelchen und hübschen Markisen. Ein kleines Weihnachtsdorf entstand hier, mitten in Berlin, dahinter ragte das Rote Rathaus in den Himmel und ein Stück weiter der Fernsehturm. Schausteller schmückten Weihnachtsbäume, installierten Lichter und räumten Waren ein. In den Pausen standen sie in kleinen Gruppen zusammen und probierten schon mal den Glühwein dieser Saison. Wie jedes Jahr vor der Eröffnung herrschten Aufregung und Vorfreude. Würde es ihnen gelingen, wieder einen bunten und unvergesslichen Weihnachtsmarkt zu erschaffen? An den sich die Kinder der Stadt noch lange erinnerten? Alle nahmen das als sportliche Herausforderung.
»Hey, Opa!«, rief ein türkischer Jugendlicher, der mit seinen Eltern den Socken- und Wollmützenstand nebenan betrieb. »Mach doch mal eine Pause! Komm zu uns, wir trinken ein Glas Punsch. Du bist herzlich eingeladen!«
Der junge Mann kannte Arthur Hummel offenbar noch nicht. Sonst hätte er niemals so etwas gefragt.
»Du bist wohl neu hier, du Rotzlöffel. Ein bisschen mehr Respekt, wenn ich bitten darf!«
Der Junge grinste frech. »Sorry. Und was ist jetzt mit dem Punsch?«
»Ich hab keine Zeit für so was. Ich bin schließlich zum Geldverdienen hier. Und jetzt troll dich, und lass mich in Ruhe arbeiten.«
Arthur stellte einen Karton mit geschnitzten Krippenfiguren auf die Verkaufsfläche und wickelte einen betenden Hirten aus. Vorsichtig lugte er zum Nachbarstand, wo der Junge ein paar andere Schausteller zusammengetrommelt hatte. Die Stimmung war gut, es wurde viel gelacht. Arthur achtete nicht darauf und wandte sich seiner Arbeit zu. Er hatte es immer vorgezogen, Abstand zu den anderen Schaustellern zu halten. Sich mit Menschen einzulassen, bedeutete nur, Ärger zu bekommen. Es war besser, er blieb allein mit seiner Arbeit.
Das ganze Jahr über saß er in seiner kleinen Werkstatt und schnitzte Krippenfiguren. Nirgendwo sonst konnte er seine Einsamkeit so gut vergessen. Er konnte völlig versinken in dieser Arbeit, denn er liebte seine Figuren, jedes Detail an ihnen. Natürlich stand der Verkaufspreis in keinem Verhältnis zu den endlosen Arbeitsstunden. Aber das störte ihn nicht. Solange irgendein Detail - die Finger des Jesuskindchens oder die Nüstern des Esels - nicht perfekt war, legte er die Figur nicht aus der Hand. Er steckte sein ganzes Können hinein, bis alles am Ende genauso aussah, wie er sich das vorstellte. Seine Krippen sollten die schönsten der ganzen Stadt sein. Dafür arbeitete er Tag und Nacht.
Wieder wurde nebenan laut gelacht. Punsch und Glühwein wurden ausgeschenkt. Die Schausteller trugen die übliche Kleidung: dicke Stiefel, warme Hosen und mehrere Pullover übereinander. Arthur betrachtete die fröhliche Runde, doch ihm fiel nichts ein, was er mit ihnen hätte reden können. Er blieb lieber für sich.
Ein Stück entfernt entdeckte er plötzlich eine Katze. Ein schmales, getigertes Tier, das an den Hütten entlangschlich. Wer brachte denn sein Haustier zum Weihnachtsmarkt mit? Und war es richtig, das Tier allein in der Kälte herumlaufen zu lassen? Nicht, dass es am Ende noch verloren ging.
Arthur beugte sich über seine Verkaufsfläche.
»He!«, rief er in Richtung der Schausteller. »Wem gehört denn .?«
Er stockte. Die Leute drehten sich zu ihm um. Ihre Gesichter wirkten distanziert. Im Gegensatz zu dem Jungen, der ihn zum Punschtrinken eingeladen hatte, kannten sie Arthur bereits. Sie waren dem mürrischen und einsilbigen Mann schon in den vergangenen Jahren auf dem Markt begegnet. Keiner von ihnen schien ihn besonders zu mögen.
»Was gibt's denn, alter Mann?«, rief einer.
Arthur sah zu der Stelle hinüber, wo er eben die Katze gesehen hatte, doch die war verschwunden.
»Ach nichts«, brummte er und wandte sich wieder seinen Figuren zu. Die Schausteller murmelten, es wurde gekichert, doch Arthur störte sich nicht daran. Er wollte mit den anderen ohnehin nichts zu tun haben. Was ging es ihn an, wenn da jemand nicht auf seine Katze aufpassen konnte? Sollte das Tier doch hier erfrieren, das war nicht sein Problem. Dennoch wanderte sein Blick ein weiteres Mal zu den Hütten, wo die Katze gewesen war, doch sie blieb verschwunden. Er schlug sie sich aus dem Kopf und hob den nächsten Karton auf die Verkaufsfläche.
Am Morgen der Eröffnung herrschte strahlender Sonnenschein. In der eiskalten Nacht hatte sich Raureif gebildet, und bei jedem Atemzug entstanden kleine Wölkchen vor dem Gesicht. Arthur Hummel warf sein Elektroöfchen an, das ihn vor der ärgsten Kälte schützen sollte. Er trug lange Unterhosen, dicke Socken und eine Steppjacke. Trotzdem war es gut, das Öfchen dabeizuhaben, damit er sich zwischendurch aufwärmen konnte.
Der Sicherheitsdienst schob an den Eingängen die Eisengitter beiseite, und der Markt war eröffnet. Noch wurde zwar überall gearbeitet, es wurden Glasvitrinen geputzt, Grillroste und Mandelröster wurden angeworfen, und am Glühweinstand gegenüber beschrieb eine Frau mit Kreide die Preistafeln. Doch vereinzelt tauchten bereits erste Besucher auf, die neugierig umherflanierten. Erfahrungsgemäß würde es an den ersten Tagen ruhig bleiben, das war immer so. Der wirkliche Ansturm kam erst ab der zweiten Woche.
Arthur machte es sich auf seinem Sessel neben dem Öfchen gemütlich. Er zog sich eine Decke über die Knie und hing seinen Gedanken nach. Sophie, seine verstorbene Frau, hatte ihn immer ermuntert, an seinen Holzfiguren zu arbeiten. Sie hatte seine Schnitzereien so sehr geliebt. Früher war zu wenig Zeit dafür gewesen. Erst nach ihrem Tod hatte er richtig damit angefangen. Sophie war vor drei Jahren an einem Krebsleiden gestorben. Da war sie dreiundachtzig gewesen, vier Jahre älter als er. Dreiundachtzig, dachte er. Aber was hieß das schon? Sie hätten auch zusammen dreihundert Jahre alt werden können, und er hätte jeden Moment mit ihr genossen. Es wäre ihm niemals langweilig geworden mit Sophie. Sie fehlte ihm so furchtbar.
Es war ein einfaches Leben gewesen, das sie geführt hatten. Reisen, Geld, ein Eigenheim - das alles hatte es nicht gegeben. Seine Arbeit als Busfahrer bei den Verkehrsbetrieben hatte gerade einmal ihr Überleben gesichert. Trotzdem hätte er sich kein besseres Leben gewünscht.
»Die sind ja wunderschön!«
Eine Frauenstimme. Arthur hob den Kopf. Eine ältere Dame mit silbergrauen Locken und einem fein geschnittenen Gesicht war vor seinem Stand aufgetaucht.
»Sind die etwa handgefertigt?«, fragte sie und nahm eine Figur des Josef in die Hand, der eine winzige Stalllampe hielt und den Mantel schützend vor Maria und dem Jesuskindchen ausbreitete.
»Natürlich sind die handgefertigt. Das sieht man doch, was glauben Sie denn!«
Die Dame ließ sich von seinem ruppigen Tonfall nicht beeindrucken. »Beachtlich«, sagte sie. »Sehr gute Arbeit. Das sind ja richtige kleine Kunstwerke. Haben Sie die gemacht?«
Arthur brummte missmutig, was so viel wie Ja bedeuten sollte. Er mochte es nicht, wenn Kunden ihn in ein Gespräch verwickelten.
»Dann sind Sie ein wahrer Künstler«, fuhr die Dame unbeirrt fort. »Die Figuren sehen aus, als hätten sie ein Eigenleben. Eine Seele. Da kommen fabrikgefertigte nicht mit, das kann ich Ihnen sagen.« Sie blickte auf das Preisschild unterm Fuß des Josefs. »Sie könnten wesentlich mehr dafür nehmen.«
»Was ist jetzt, wollen Sie was kaufen oder nicht?«
Sie stellte die Figur wieder weg. »Ich bin Liselotte«, sagte sie und lächelte. »Liselotte Stubenrath. Eine der Märchenerzählerinnen. Wir sind also quasi Kollegen.«
Sie deutete zu einer Gasse, die im Stil einer Altberliner Straße gestaltet war. Pappfassaden bildeten die Kulisse wilhelminischer Häuserfronten, und in den Erdgeschossen waren Verkaufsfenster mit bunten Markisen eingebaut. Mittendrin gab eine kleine Theaterbühne, die in die Häuserfront eingelassen war. Dort war ein Wohnzimmer aus der Kaiserzeit mit einem großen Ohrensessel zu bestaunen, in dem die Märchenerzählerin bei ihrem Auftritt Platz nehmen würde. Arthur kannte die Bühne bereits von den vergangenen Jahren. An den Nachmittagen würden sich die Kinder davor tummeln und dem Geschehen mit großen Augen folgen. Nur diese Liselotte Stubenrath kannte er noch nicht.
»Im letzten Jahr habe ich Sie hier aber nicht gesehen«, sagte er. Das war ihm so herausgerutscht. Er wollte sich ja eigentlich gar nicht mit dieser Frau unterhalten.
»Nein, dies ist mein erstes Jahr.« Sie strahlte übers ganze Gesicht. »Ich bin ganz aufgeregt. Ich hoffe, die Kinder mögen mich.«
Arthurs Antwort war wieder ein Brummen. Das war zwar nicht besonders höflich, aber er wollte jetzt wieder allein sein. Die Schausteller taten immer gern so, als wären sie eine große Familie. Aber Arthur wusste, das war eine Lüge. Am Ende verbrachte jeder das Weihnachtsfest für sich allein.
Liselotte Stubenrath schien zu...