Schweitzer Fachinformationen
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Dann kam der erste September, wie immer mein Schmerzenstag. Das neue Schuljahr begann, und aus dem Bauverein strömten die Kinder mit ihren Zuckertüten. Seit zwei Jahren bekam ich auch eine von Mamma, eine Belohnung für die Heimschule und ein Trost wegen des Schulverbots. Ich hatte einen Ranzen mit nichts drin, ein Brottäschchen, in dem nie ein Frühstücksbrot auf die Schulpause gewartet hatte. Sie dachte, ich ginge damit im Garten auf und ab und spielte Schulweg. Aber ich hasste das ganze Theater, und sie meinte es gut, wie sie sagte.
»Guck doch mal in deine Tüte rein, Osvald! Meinst du, die Nazikinder haben solch feine Konfekte vorzuweisen? Alle aus Paris und Brüssel, Schoko-Muscheln, Côte-d'Or-Pralinés, und edle Fondants aus Portugal. Was glaubst du, haben die Kinder drüben in ihren Tüten? Haferflockensplitter, Drops und steinharte Kekse!«
Ich fraß das Zeug nie, ich schüttete es auf dem Komposthaufen aus und machte Erde drüber. Diesmal war die Tüte goldgrün, ein kleines Bildchen war draufgeklebt - eine blonde Artistin balancierte auf dem Hochseil. Diesmal gab ich die feinen Konfekte den Polen auf dem Feld, die gerade den Roggen mähten.
Die fraßen es sofort auf, schneller als die KZler vom Bombensplitter.
An diesem Tag fiel wieder ein Tiefflieger aus dem Himmel - man hörte ihn erst, als er über einem war. Er war nicht von Gott erbeten, sauste übers Feld auf unser Haus zu und feuerte seine Garben direkt in unseren Obstgarten. In der Verlängerung traf er oben an der Ecke der Danziger die Eisbude. Sie ging in Flammen auf, und Rand erzählte am Abend, den Eisbudenmann hätten sie nur noch zur Hälfte gefunden. Er brachte mir die Silberplatte, gereinigt, wie er die Mamma beruhigte, ich legte sie zu meinem Bombensplitter als Andenken an den Krieg.
Paris sei gefallen, erzählte der Alte, und sie hätten die riesige Hakenkreuzfahne auf dem Eiffelturm gegen die Trikolore ausgetauscht - die sei noch größer.
Mir machte das nichts aus, ich hatte sie ja noch auf meinem Film mit Zarah Leander, und wenn ich wollte, konnte ich sie wehen lassen, solange der Film reichte. Plötzlich hatten alle Angst vor den asiatischen Horden. Ich stellte mir sie vor wie die Veddas auf Ceylon in meinem Lieblingsbuch. Sie stahlen anderen Stämmen die Frauen und die Kinder, meistens nachts.
»Wenn die Russ'n komm'n, dann wirste mitgenomm'n und in 'n Sack gesteckt uuuund fortgeschleppt .«, sang Rand und lachte dabei.
Mamma war darüber äußerst empört, denn die Russen, das glaubte sie fest, würden uns nach Jahren endlich wieder wie Menschen behandeln.
Alle waren nervös und auf dem Sprung, als wollten sie schnell weit weg verreisen. Mamma und der Alte flüsterten miteinander, sahen mich immer öfter mit langen Blicken an. Einmal nahm mich Mamma beiseite: »Weißt du noch, mein Sohn Osvald«, begann sie, »und erinnerst du dich, wie wir Mäuse in der Drahtkorbfalle gefangen haben?«
Ich wusste noch - aber worauf wollte sie hinaus?
Sie schniefte herum. »Wie soll ich es dir nur sagen? Du hast sie immer noch eine Weile gefüttert, weil sie nicht hungrig sterben sollten.«
Sie nahm den kleinen Fettkreppel vom Teppich und setzte ihn mir auf den Schoß.
»Ach du«, sie küsste mich auf die Stirn, »eigentlich bist du so ein verständiger Junge, und stark bist du auch, das weiß ich genau. Du hältst was aus, du kommst nach mir, Osvald.«
Noch immer wusste ich nicht, was sie von mir wollte. Der Alte war da, und er schaute aus dem Fenster zum Feldweg hin.
»Die Menschen haben nun mal nichts übrig für die kleinen Mäuse, sie müssen weg!«, fuhr sie fort.
Ich wusste das, ich hatte sie ja immer im Wasserbassin ertränkt. Ich musste das tun, weil ihre vornehmen Eltern das auch immer getan hatten. Ertrinken sei wie ein Traum, in den man hineinschwebt, das gelte auch für junge Katzen und Hunde und vor allem für Mäuse, hatte die Oma Frankel gesagt, die jetzt in Theres wohnte. Es sei der schönste aller Tode.
Wenn's nach mir gegangen wäre, hätte ich ihnen eine mit dem Spaten übergezogen - sieben auf einen Streich.
Ich musste daran denken, wie sie im Wasser herumstrampelten und ihnen die Augen aus dem Kopf traten vor Anstrengung.
»Der alte Rand hat seine immer mit Petroleum übergossen«, sagte ich, »und angebrannt!«
Kaum hatte ich das gesagt, verfiel sie in einen Weinkrampf. Dem Alten war das peinlich.
»Mäuse«, sagte er, »warum sagst du nicht gleich Ratten und bleibst damit im Jargon?«
Sie jammerte noch lauter.
»Ich sehe vor meinen Augen das Gewimmel der Zigeuner, von denen das Fräulein Schwerdtfeger erzählt hat. Gerade jetzt solltest du so etwas nicht sagen, Armin!«
Sie ging mit Fettkreppelchen in die Küche. Ich sah für einen kurzen Moment zwei große Koffer in der Küche stehen.
»Sag du's dem Jungen, Armin, ich kann nicht mehr!«, sagte sie noch, ehe sie die Tür schloss.
»Mitleid aus zweiter Hand«, fauchte ihr der Alte hinterher. »An mir hängt es wieder!«
Er wollte mir was sagen, aber da war Motorengeräusch zu hören. Draußen fuhr eine Zugmaschine mit Hänger vor. Die kam jedes Jahr um diese Zeit und brachte die Deputatbriketts.
Ein Arbeiter lud die Säcke ab, ein zweiter schmiss sie ins geöffnete Kellerfenster.
Der Alte nahm mich an der Hand und ging mit mir in den Garten. Er sagte mir, dass die Mamma und der Kleine jetzt fortfahren würden. Ich könne nicht mit, für mich hätte er in der Nähe keinen Platz gefunden.
Ich erschrak. »Jetzt von zu Hause weg, die Mamma?«
Er wischte sich die nasse Stirn.
»Es wird langsam gefährlich, Osvald!«
Ich hatte das Gefühl, ab jetzt ginge alles sehr schnell.
»Sei vernünftig, Junge, ich muss auch verschwinden, außerdem hat uns die Gräfin gekündigt.«
»Aber warum nehmt ihr mich nicht mit?«
Ich zitterte wie Espenlaub. Dann kam die Mamma mit dem Kleinen aus dem Haus. Die beiden Arbeiter schleppten ihren Kofferkrempel zur Zugmaschine. Sie hatte sogar ihren guten Persianermantel angezogen.
Sie heulte. »Meine Musik, meine Noten, mein Klavier, meine Nähmaschine, meine Fotos alle .«
Und ich stand da und konnte keinen Fuß rühren.
Die meinten es ernst.
Der alte Rand eilte zu mir. »Jesus!«, keuchte er, »das geht ja alles wie der Blitz!«
Mamma winkte mir, nahm Olafs Händchen und winkte mit ihm. Der Alte heulte, die Arbeiter rauchten seine französischen Zigaretten.
»Osvald, mein guter Junge«, rief sie, »wenn der Krieg aus ist, dann gibt's ein Wiedersehen. Der gute Herr Rand wird sich um dich kümmern!«
Ich kam mir vor wie eine angebrannte Maus. Ich wollte aus dem Feuer laufen, aber ich war schon zu sehr versengt. Dann fuhr die Zugmaschine an, ich sah, wie im großen Fahrerhaus alle winkten. Ich bin wie tot, dachte ich, allein, tot, man wird mich vergessen.
Rand nahm mich mit ins Haus. Oben in meinem Zimmer sah ich aus dem Fenster, sah meine ganze Familie den Feldweg hinunterfahren. Über der Stadt stand eine gelblich weiße Rauchwolke.
Wie ich später zu wissen kriegte, wurden Mamma und Olaf nach Klein-Steubern gefahren, da hatte der Obermedizinalrat aus der Frauenklinik einen Bauern aufgetrieben, der solche Frauen wie Mamma, auch mit Kind, in einem umgebauten Schweinestall versteckte - natürlich für Geld.
Für mich war kein Platz mehr.
Aber was für ein Affentheater.
Der Alte hatte es mit der Angst bekommen. Seine Oberen wurden von Tag zu Tag nervöser. Den Wichtigsten hatten sie an die Westfront kommandiert. Seine Forschungen kamen nicht recht voran, das Institut war teilweise während des letzten Nachtangriffs getroffen worden.
Die Schweiz war seine einzige Rettung. Er wollte die Schwerdtfegern mitnehmen, und mit mehr als einer Person ließen sie ihn nicht ausreisen. Also musste die Familie untergebracht werden, natürlich nicht in Theres, denn er hatte nicht die Absicht, vor Ende des Krieges zurückzukommen.
Später, sehr viel später machte er den Versuch, mir das alles zu erklären.
»Sieh mal, Osvald, die reine Forschung war meine Leidenschaft, die Mamma kann es bezeugen. Ich wollte die Menschheit erlösen von den Bakterien und Viren, ich wollte alle glücklich machen. Ja - euch im Besonderen! Ich wollte, dass alle Nutzen aus meinem leidenschaftlichen Forschertemperament ziehen. Euch konnte ich immerhin vor den Banditen retten. Aber mein schönster Traum, die künstliche Massenproduktion von Penicillin zu realisieren, den Nobelpreis für mein Vaterland zu erringen, das ist mir weder im Krieg noch danach gelungen. Und als alles zu Ende war, kamen die Nachforschungen, die Untersuchungen, die Verleumdungen und die Anklagen. War er nicht doch ein falscher Doktor? Wir haben es immer vermutet! So raunte es überall. Wer für die Nazibanditen gearbeitet hatte, dem war alles zuzutrauen. Osvald, meine Urkunden sind echt. Die Kerle in Berlin haben mich bezahlt für Dinge, die ich tun wollte und nicht dafür, dass sie von mir was verlangten. Osvald, ich bin leider in manche Falle getappt. Aber, mein Sohn, immer habe ich sie meiner Gnade ausgeliefert. Sie wollten das Penicillin, entweder um sich reinzuwaschen von allem oder um ihr beschissenes System zu retten. Dafür riskierten sie meinen Ausflug ins Land der Anständigen.
Lass uns einander keine Vorwürfe machen, mein Sohn!« Das alles sagte er mir viel später.
Und wegen Mamma fügte er noch hinzu, dass er mit der Ulla, der Schwerdtfegern, doch nur beisammen war wegen der Forschungsnotizen. Sie hätte...
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