Schweitzer Fachinformationen
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Ich weiß noch, wie enttäuscht ich war, als wir den Freeway an der nördlichen Stadtgrenze verließen und in die typische amerikanische Vorstadtwelt eintauchten. Ein Laden für Klempnerbedarf, Las Margaritas, ein mexikanisches Restaurant, Cliffs Kartenkasino, Genes IGA-Lebensmittel, eine ARCO-Tankstelle, ein Stoffgeschäft. Es war schlimmer, als ich es mir hätte vorstellen können. Wir überquerten eine öde Avenue an einer Kreuzung mit viel zu vielen Autos, die auf Grün warteten, um nach links abzubiegen. Aber dann verengte sich die Straße auf zwei statt vier Fahrspuren, Bäume lehnten sich über die Fahrbahn und verdeckten den Himmel, und als mein Vater schließlich in eine noch kleinere Straße und eine Zufahrt bog, schaltete ich den Walkman aus. Wir kamen zu einem Wachhäuschen mit einer Schranke. Mein Vater kurbelte sein Fenster herunter, die Tür des hölzernen Häuschens öffnete sich, und ein uniformierter Wärter trat heraus. Er war alt und gebrechlich und sah nicht aus, als könnte er einen Angriff stoppen, sollte jemand den North Estate erobern wollen, für dessen Verteidigung er offensichtlich bezahlt wurde.
»Zu wem wollen Sie?«, fragte er gutgelaunt.
»Nach Hause«, sagte Vater. »Ich kehre nach Hause zurück.«
Der alte Mann legte den Kopf leicht schief, doch dann begriff er. »Der Teufel soll mich holen. Jones Riddell.«
»Val«, sagte mein Vater, »ich kann nicht glauben, dass Sie hier immer noch Dienst tun.«
»Vor ein paar Jahren wollten sie mich in Rente schicken, aber ich kann nicht den ganzen Tag allein sein, und da haben sie mich wieder eingestellt.«
Die beiden Männer verstummten, und ich weiß noch, wie ich den fast überwältigenden Drang verspürte, mit der für mich so offensichtlichen Frage herauszuplatzen: Aber wenn Sie den ganzen Tag da in dem Wachhäuschen hocken, sind Sie dann nicht allein?
»Wie lange ist es her, Jones? Lange.«
»Dreiundzwanzig Jahre.«
»Dreiundzwanzig Jahre. Ihre Mutter war eine tolle Frau.«
»Das war sie.«
»Eine echte Tragödie.«
Val nickte und klopfte aufs Autodach. Er zog die Hose ein Stück höher, streckte sich, ging zur alten Holzschranke hinüber und drückte auf das Gegengewicht. Das Ding hob sich und gab den Weg frei. Als wir an ihm vorbeirollten, winkte Val und rief: »Willkommen daheim.«
Was für eine Tragödie? Über den Tod meiner Großmutter wurde nicht gesprochen. Ich hatte oft nach ihr gefragt, ohne Erfolg. Mein Vater wollte nicht über sie reden. Ich war überzeugt, dass er es nie tun würde.
Wir ließen die Schranke hinter uns, und die Welt veränderte sich, als wären wir in einen mittelalterlichen Wald teleportiert worden. Wir schlängelten uns durch Schluchten und kamen an Einfahrten zu fernen, kaum erkennbaren Häusern vorbei, die hinter zahllosen Bäumen versteckt lagen. Immergrünen Bäumen: Zedern und Fichten, Tannen und Kiefern. Sommergrünen Bäumen: Eichen und Birken, Ahorn und den für den Nordwesten typischen Erdbeerbäumen mit ihrer roten, sich pellenden Rinde. Tiefer und tiefer fuhren wir in den Wald, die Zufahrten wurden weniger und herrschaftlicher, Tore blockierten den Zugang, Natursteinmauern führten an der Straße entlang. Ich hatte das Gefühl, wir bewegten uns immer weiter in der Zeit zurück. Die sich windende Straße verwandelte sich in einen pockennarbigen, mit Schlaglöchern durchsetzten Schotterweg, der unter unseren Reifen knirschte, als ginge es über die brüchigen Knochen von lauter Toten. Wir erreichten das Ende der Straße. Seitlich lag ein kaputtes Eisentor, das schon vor langer Zeit aus seinen Angeln gehoben worden war, und ich wusste, wir hatten unser Ziel erreicht. Es ging hier sonst nirgends mehr hin.
Wir fuhren auf das Anwesen und folgten einem sich windenden Weg hinunter in eine kühle Schlucht, bevor es steil nach oben auf eine Anhöhe mit einer Lichtung auf einem Steilufer ging. Der Blick weitete sich hinaus auf den Puget Sound. Mein Vater hielt auf der Zufahrt, und ich war sprachlos. Nicht aus Protest, nein. Der Anblick des Hauses überwältigte mich: Riddell House.
Mein Vater hatte mir davon erzählt, von dem Ort, an dem sein Vater geboren war und an dem die Familie damals schon seit zwei Generationen wohnte. Vaters Urgroßvater hatte Riddell House vor einem Jahrhundert errichtet. Die Beschreibung meines Vaters war vage und oberflächlich geblieben, eigentlich hatte er nur die Nachteile und Probleme aufgezählt, die es mit dem Haus gab. Es verfalle langsam, hatte er mir erklärt, und sei praktisch dem Untergang geweiht. Wir fahren hin, um es von seinem Elend zu befreien, wir reißen es ab, verkaufen das Land und sind damit fertig. Aber das war offenbar nicht die ganze Wahrheit, Riddell House war weit mehr, als ich aus seinen Worten hatte schließen können. Ich hatte einen baufälligen alten Schuppen erwartet, der kaum eines Blickes würdig war, doch was ich da sah, war ganz sicher kein Schuppen.
Mein Vater stieg aus dem Auto. Ich folgte ihm und trat an den Rand der Zufahrt. Hinter einer großen, vertrockneten Wiese ragte ein massiges Gebäude aus Balken, Ziegeln und Steinen auf, gekrönt von einem Dach aus schweren Zedernschindeln mit grünen Kupferrinnen und Fallrohren. Rund ums Erdgeschoss und die erste Etage des dreistöckigen Hauses verliefen eine Veranda und ein Balkon. Die Zufahrt führte in einem ebenmäßigen Rund zu ein paar prächtigen Eingangsstufen und mündete dann wieder in sich selbst. Ein schmaler Weg zweigte von ihr ab und verschwand hinter dem Haus. Auf den ersten Blick zählte ich ein Dutzend Kamine, wobei ich sicher war, dass es noch mehr gab. Die Zahl der Fenster schätzte ich auf hundert, nahm mir aber nicht die Zeit, genauer nachzuzählen. Aus unserer Perspektive wirkte das Haus gedrungen, als kauerte es sich auf den Boden. Die Säulen, die es einfassten und einen großen Teil der Außenwände ausmachten, waren massige Baumstämme. Stämme uralter, riesiger Bäume, von ihren Ästen befreit, aber immer noch in ihre Rinde gekleidet. Jeder einzelne ein Prachtexemplar. Am Giebel standen gleich drei nebeneinander, der größte meiner Schätzung nach sicher fünfzehn Meter hoch. Ein Regiment stummer, mächtiger Riesen.
Riddell House.
Ich holte tief Luft und roch Meerestiere, Seegras und Schlamm. Es war wie bei Ebbe in Mystic, Connecticut, wohin ich früher oft mit meinen Eltern für einen Tag gefahren war. Venusmuscheln, Krabben und Tang. Es ging ein kräftiger Wind, und ich kämpfte mit dem flatternden Papiernest meiner Pommes frites. Mein Vater lächelte meiner Mutter zärtlich zu und beugte sich vor, um ihr einen Kuss zu geben. Mutter erwiderte seinen Kuss, und ich bekam endlich eine meiner Pommes frites zu fassen. Es war die beste der Welt.
Die Dinge, an die wir uns erinnern.
Nach Westen hin dehnte sich der Puget Sound zwischen uns, den Bäumen und der Halbinsel Kitsap dahinter aus, wo sich der blaue Gebirgszug mit seinen zerklüfteten Gipfeln erhob.
»Die erste Zielvorgabe ist damit erfüllt«, sagte mein Vater, »Riddell House lokalisiert und identifiziert.«
Mein Verhältnis zu meinem Vater war damals nicht unbedingt schlimm, aber doch ziemlich oberflächlich und fußte weniger auf den Dingen, wie sie waren, sondern eher auf Phantasien. Wir gingen nicht einfach einkaufen oder säuberten den Rinnstein, sondern »fuhren Einsätze«. Wir benutzten Codewörter, arbeiteten »verdeckt« und starteten »Kommandounternehmen«. Einer seiner Standardsätze war: »Wir befinden uns in der Akquisitions- und Entwicklungsphase.« Als müsste alles mit einer Kriegslist angegangen und in Ironie gehüllt werden. Wir wickelten alles in eine schützende Schicht Befangenheit, was aller Aufrichtigkeit und Offenheit den Garaus machte. Wir gingen Eier kaufen, aber nicht wirklich, nein, wir nahmen das »Projekt Ovum« in Angriff, was verschiedene, die nationale Sicherheit betreffende Missionen notwendig machte. Als kleiner Junge hatte ich das toll gefunden, als fast Vierzehnjähriger aber nicht mehr. Weil ich zu begreifen begann, dass es für meinen Vater kein Spiel war. So lebte er sein Leben.
Ich reckte mich und dehnte den Rücken. Es war gut, aus dem Auto herauszukommen und in der heißen Sonne zu stehen. Eine Brise strich über die Wiese und drückte die langen Halme mit unsichtbarer Hand in meine Richtung, umwirbelte mich und kühlte meinen Nacken.
»Ich verstehe das nicht«, sagte ich. »Das Haus sieht doch gut aus. Warum wollen wir es abreißen?«
Mein Vater sah mich einen Moment lang an.
»Es ist morsch und faul«, sagte er nur und schob mich zurück zum Auto.
Wir fuhren die letzten Meter über die gekieste Zufahrt, wie eine graue Narbe schnitt sie durch das verdorrte Grün. Als wir zum Stehen kamen, wurden wir für einen Moment von einer Staubwolke verschluckt, ließen sie abziehen, stiegen aus und betrachteten den monumentalen Bau vor uns. So aus der Nähe hob er sich bis in den Himmel und blendete alles andere aus. Er strahlte eine ungeheure Kraft aus, die Baumstämme der Außenwände waren wirklich immens. Vielleicht waren es der lange Flug und die Autofahrt, vielleicht auch das Gefühl, zum ersten Mal seit Beginn unserer Reise wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, auf jeden Fall wurde ich von einer Gefühlsaufwallung erfasst, der ich kaum zu widerstehen vermochte. Ich brach zwar nicht in Tränen aus, wurde aber von dem Gefühl erfüllt, das ihnen normalerweise vorangeht, und wunderte mich. Ich fragte mich, was mich so anrührte. Es war wie eine Inspiration.
»Es ist morsch«, wiederholte mein Vater.
Warum behauptete er das so beharrlich? Ich sah ihn an. Er schüttelte mitleidig den Kopf, und ich wandte mich wieder dem Haus zu und versuchte, es mit seinen Augen zu...
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