Schweitzer Fachinformationen
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Die Nacht war noch dunkel und kalt, nur erhellt vom künstlichen, gelben Lichtschein einiger Straßenlaternen. Wie jeden Tag war Balla, auch Big B genannt, schon früh auf den Beinen. Punkt sieben Uhr wartete er an der Bushaltestelle vor den Studententürmen, um zur Unibibliothek, also zur "Bib" der Polytechnischen Hochschule Aachens, zu fahren. Komme, was wolle, und auf eine U-Bahn konnte man in Aachen ja bekanntlich vergeblich warten! Noch immer überwältigte ihn der Gegensatz zwischen alter Heimat und neuer Heimat.
Heute dachte er an das Verkehrschaos in Chennai, seiner Geburtsstadt in Indien, das ständige Gehupe und den Verkehrslärm, das Geknatter der Motorräder, die schwüle Hitze und die dunklen Gesichter, die Kasten, die Tamilen. Die Morgenluft war kühl und frisch, ohne die dunklen Wolken von Smog und Gestank. Nun kam der Ziehharmonikabus angerollt! Vor ihm öffneten sich saubere, von hohen Bäumen gesäumte Straßen, alles wie am Lineal gezogen. Große, geräumige Häuser. Glänzende Autos. An jeder Straßenlaterne grüne Mülleimer mit Warnhinweisen. Und dann diese kleinen Holzhütten mit den Fahnenmasten, Gartenzwergen und Gemüsebeeten davor. Das konnten doch keine Slums wie in Indien sein!
Dann dachte Big B an die positiven Seiten der Heimat - die fröhliche, emsige, immer kochende Mutter, das quirlige, pulsierende Chennai, aber dort leben? Nur ein paar Haltestellen weiter rückte schon das Zentrum ins Blickfeld. Das Herzstück Aachens waren Marktplatz, Rathaus, Dom. Das wars. Dann noch die Flaniermeile namens "Ponte" um das Pontviertel. Dann verlor sich die Energie in bedeutungslosen Vororten und Randbezirken, die alle mit "Dorf" oder "Weiler" endeten oder so unaussprechliche Namen wie "Wüherseehellenn" trugen. Eine beschauliche Stadt, aber ohne die explosive Energie Chennais, wo alles immer im Strudel der Bewegung ist. Die altehrwürdige Institution hatte sich unter Technikfreunden einen Namen als Kaderschmiede gemacht, welche im Hauruckverfahren Studenten in übervölkerte Hörsäle katapultierte. Das System war so simpel wie genial: Man packte zweitausend pubertierende Studenten in Hörsäle und überließ sie sich selber. Germans are no Geniuses! Sagte er sich vor. Indians are Geniuses! We inventend Sanskrit, the Alphabet, Mathematics!
Es folgten kastenförmige Neubauten mit heruntergeklappten Schreckensmündern. An allen Ecken und Enden sprossen neue Hörsäle. Quadratische, übereinandergestapelte Würfel hatten das Techniklaboratorium in ein Tetrisspiel verwandelt. Fast hätte Big B über seinen Träumereien seine Haltestelle verpasst.
Hastig hämmerte er auf den Halteknopf und stieg am Ponttor aus, jenem massiven mittelalterlichen Torbogen, der einst die Stadtmauer markierte. Die Sonne ging verhalten auf, dann schob sie sich vor und strahlte auf die dunklen Backsteine. Balla schlenderte die Straße bergab. Alles war ja voller Hügel und Berge hier. Die Bib schien auf einen solchen Chennai-Kämpfer und Eroberer wie ihn zu warten. Er war ja nicht nur Inder, sondern Tamile! Schon dachte er an Tania und wie sie ihn empfangen würde. She is my one and only! My girl-friend, my other half! Summte er die tamilischen Schlager mit ordentlich Schmalz und Weltschmerz in der Stimme. My one and onleyeyey! Oh Shaaanti, Shaaaaaanti!
Pünktlich mit seinem Eintreffen öffneten sich die Tore seines Reiches! Die Stufen kannte er auswendig, es war, als ob sie ihn wie eine Rolltreppe hochhievten. Die Metallgeländer, der brummige Türsteher mit der roten Nase, unten röhrten die Vollautomaten. Die konzentrierten, aufs Auswendiglernen fixierten Studenten, die ihn manchmal kritisch beäugten, wenn er den Tag im Eingangsbereich verbrachte oder mit aufgebrachter Stimme diskutierte. Seitdem er hier war, Chennai-Superstar, war Big B befreit von den Ketten des Vaterlandes. Während die anderen Tamilen sich mit ihresgleichen umgaben, dachte er gar nicht dran. Sein Vorsatz war sich unter die Leute zu mischen.
Big B war hierhin gekommen, um die Frau seines Lebens zu finden und den westlichen Lifestyle zu testen. Die Bib war sein Lieblingsort. Hier hatte er Tania kennengelernt und all die anderen Frauen, aber vor allem Tania. Früher hatte er viel gelesen, die farbenfrohen Mythen und Epen Indiens konnte er runterbeten. Das Mahabharata natürlich! Das etwas langweilige Ramayana! Er spürte die pulsierenden Seiten aus den Bücherrücken. Er war einer, der davon träumte, sich über Nacht in einer Bücherei einzuschließen. Und in seinen Lieblings-Bollywoodfilmen wurden die Herzen der Frauen sowieso im Sturm erobert. Das alles vermischte sich mit den Geschichten, die er in Chennai erzählen könnte, wenn es ihm gelänge, Tania zu erobern.
Auf dem Weg zu den Schließfächern taxierte Balla die Reihen nach ihr. Er verstaute seine Tasche und startete den ersten Streifzug. Zum Glück gab es verschiedene Bibliotheken, so dass man einfach zwischen den Räumlichkeiten wechseln konnte. Das hier war die Hauptbib, mit den cremefarbigen, bequemen Sesseln und den Stehcomputern am Eingang und der großen Ausgabetheke für die Buchbestellung. Dann gab es die verschiedenen Fachbüchereien. In der zweiten und dritten Etage saßen vor allem Chinesen. Gut zum Kennenlernen war die obere Etage der Geisteswissenschaftler, wo sich manchmal sogar Lehramtsstudentinnen hin verirrten.
Zur Prüfungszeit reichten die Schlangen vom Rasen des Vorplatzes bis über die Straße, hinter die Ampeln. Jeder wollte einen Lernplatz ergattern. Wer zu spät kam, musste in den unterirdischen Kellergebäuden oder in den Instituten fernab sein Glück versuchen. Nur jetzt nach der Überprüfungsphase, wo alle nach Hause gefahren waren, herrschte Flaute. Doch wohin sollte er gehen, er konnte schlecht mal eben zurück nach Chennai. Und den ganzen Tag alleine in einem winzigen Studentenzimmer verbringen war auch keine Option (I would get depressed!).
Leider war Tania bislang nirgends zu sehen. Also rüber in die Bib 2. Im Erdgeschoss waren die Wirtschaftswissenschaftler untergebracht, darüber warteten weitere Lernsäle. Meist spazierte er im Minutentakt zwischen den Etagen und Bibliotheken. Oben saßen Gruppen afghanischer, irakischer, marokkanischer Studenten, die hier bis spätabends lernten und sogar ihre Geburtstage feierten und zusammen sangen, tranken, tanzten. Manchmal hörte man die Gesänge aus den geöffneten Fenstern.
Big B setzte sich eine Weile auf die Bänke vor den Lernsälen, hier waren gute Gelegenheiten zum Kennenlernen. Dann übermannte ihn das wunderschöne Bild ihrer Erstbegegnung: Genau erinnerte er sich an Ort und Zeitpunkt ihres ersten Gespräches. Es war auch der erste Mai, genau ein Jahr war das her. Wäre er nur ein Russe, dann könnte er mehr sagen als nur sametschatelna, spassiba, priwjet, kak djela oder charascho etc.
Big B begab sich auf Suche. Mindestens dreimal wechselte er zwischen den beiden Bibliotheksgebäuden. Flure, Treppenhäuser, Institutsbibliothek! Es gab viele Möglichkeiten! In der Cafetaria, in den Lernräumen, vor dem Aufzug beim Knöpfchendrücken. Und wenn jemand nicht wusste, wie man den Kaffeeautomaten bediente, oder wenn einer schönen Erstsemestlerin beispielsweise der Stift herunterfiel, war er heldenhaft eingesprungen. So hatte er schon unzählige Bekanntschaften gemacht (wenn auch keine mit Tania vergleichbare). Er war berühmt, jeder kannte ihn hier! Und jede neue Bekanntschaft bot eine neue Chance, um Tania näherzukommen. Die Landsleute betrachteten ihn neidisch, während sie hinter seinem Rücken lästerten. Anfangs war Big B noch schockiert gewesen und in Tränen aufgelöst zusammengebrochen, wie konnten sie nur? Aber mittlerweile war es ihm wirklich egal, was er hier machte, da krähte kein Hahn nach. Solange es keine handfesten Beweise gab, würde niemand etwas erfahren.
Die Tamilen standen dort in ihren Gruppen mit gesenkten Gesichtern und starrten auf Programmiercodes. Manche vegetierten in den Hochhäusern vor sich hin, ohne jemals vor die Türe zu gehen. Manche waren sogar vor Verzweiflung aus den Fenstern gesprungen. Mitleidig betrachtete er die verzweifelten Landsleute, mit ihren dicken Brillen und ernsten Blicken, und versuchte ihre Kaste zu erraten (Of course, they are Indians, they are in IT. All Indians are geniuses!). Sein Vater war ein solcher Experte im Kastenraten! Richtig peinlich war das.
Aber auch das Aachener Kastensystem hatte es in sich: Die Türken blieben unter ihresgleichen. Die Kurden, Iraner, Iraker, genauso. Die stolzen Perser! Die Mexikaner! Und die Deutschen meistens auch! Und die Russen schirmten sich erst recht voneinander ab. Wie dem auch sei, Tania musste überzeugt werden, auch wenn seine Bemühungen noch keine Früchte getragen hatten. Wieder dachte er an ihre langen Wimpern, ihr lockiges Haar und ihre verführerischen, undurchsichtig funkelnden Augen! Und diese Art, wie sie mit ihm auf Englisch gesprochen hatte! Mit diesem osteuropäischen Russki-Akzent!
Wieder im Eingang der Hauptbib holte sich Big B seinen Morgenkaffee. Genau mit so einem Kaffee in der Hand hatte er Tania damals kennengelernt! Ein bisschen Aberglaube ist ja wohl noch erlaubt! Allmählich trudelten ein paar bekannte Gesichter ein, die ihm verschlossene Blicke zuwarfen und sich auf den Etagen verteilten. Aus dem Hintergrund tönte: Donnerstag Abgabe? Bruder, zieh durch! Diese Wörter hatte er schon aufgeschnappt: Bruder, zieh durch! Bruder, zieh durch! Natürlich ziehe ich durch, ich werde Tania kriegen! Fight, Fight, Fight! Tamils are fighters!
Turbo kam von hinten angerauscht und schlug ihm auf die Schulter: breitschultrig, sonnenbankgebräunt, mit stechend blauen Augen. Kurzgeschorener Schädel, gewölbte Brust, schlenkernde Godzillaarme. Der...
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