2. Die Friedensstimmung der Entente um die Weihnachtszeit 1915
Inhaltsverzeichnis Um die Weihnachtszeit 1915 wurde die Friedensfrage, besonders bei Deutschlands Feinden, mit außerordentlichem Eifer besprochen - obwohl auf eine Weise, die von einer Stimmung zeugte, welche der sonst bei dem großen Feste des Friedens und des guten Willens herkömmlichen möglichst entgegengesetzt war. Um den Geist jener Aussprüche zu charakterisieren, dürfte es wohl angebracht sein, zuerst zwei aus Paris anzuführen.
Der eine ist aus einer Rede, die der französische Kriegsminister Gallieni am 28. Dezember 1915 bei Vorlage des Antrages auf die Einberufung der Jahresklasse 1917, der die Deputiertenkammer schon zugestimmt hatte, im Senate gehalten hat. Nach dem »Schwedischen Telegrammbureau« schloß der Minister folgendermaßen: »Frankreich, das vor 18 Monaten den Frieden wollte, will nun mit seiner ganzen Energie den Krieg, und es wird alle seine Hilfsmittel dafür einsetzen. Wer das Wort Friede ausspricht, der wird als schlechter Staatsbürger angesehen. Der Jahrgang 1917 wird ausrücken, und die Nation begleitet mit ihren besten Wünschen die jungen Männer, die sich zu dem großen Streite vorbereiten, der nicht eher enden wird, als bis Frankreich zusammen mit seinen Verbündeten sagen kann: >Ich halte auf, ich habe gewonnen, was ich haben wollte, und ich kehre wieder zu meiner friedlichen Arbeit zurück<.«
Ein Privattelegramm an »Stockholms Dagblad« schildert die charakteristische Episode so: »Als Gallieni in seiner Rede die Worte sprach: >Der Franzose, der öffentlich das Wort Friede ausspricht, muß als schlechter Staatsbürger angesehen werden, und Frankreichs Mütter beweinen ihre toten Söhne nicht, sondern wollen sie rächen<, da erhob sich der gesamte Senat und spendete dem Redner eine ganze Weile Beifall, worauf Gallieni nach dem Verlassen der Tribüne von neuem Gegenstand starker Ovationen wurde. Es machte einen unvergeßlichen Eindruck, zu sehen, wie diesem kalten, nüchternen und militärisch strengen General von den alten Senatoren, die wie Jünglinge begeistert waren, gehuldigt wurde.«
Das andere Dokument ist eine Resolution, die am 29. Dezember von dem an diesem Tage beendeten Sozialistenkongresse angenommen wurde. Nach einem in der Zeitung »Social-Demokraten« (Stockholm) am 31. Dezember veröffentlichten Telegramm ließen sich die wichtigsten Punkte der Resolution folgendermaßen zusammenfassen: »Die sozialistische Partei wird fortfahren, sich solange am Kriege zu beteiligen, wie der französische Boden noch nicht befreit ist und die Vorbedingungen eines dauernden Friedens noch nicht gesichert sind. Ein dauernder Friede kann nicht eher zustandekommen, als bis die unterdrückten Nationen Europas ihr freies Selbstbestimmungsrecht wiedererhalten haben und zwischen Frankreich und Elsaß-Lothringen das Band, das nur durch brutale Gewalt im Jahre 1870 trotz der aus dem Herzen der deutschen Nation selbst hervorgegangenen Proteste Bebels und Liebknechts zerschnitten wurde, im Namen der Gerechtigkeit wieder neugeknüpft worden ist.«
Wie diese Resolution außerhalb der sozialistischen Kreise in Frankreich aufgefaßt wurde, kann man sich nach einem Privattelegramme des Pariser Korrespondenten der Zeitung »Stockholms Dagblad« vorstellen, das am 31.Dezember veröffentlicht ist und worin es zum Schlusse heißt: »Die Resolution übt scharfe Kritik an der deutschen Politik, die, wie sie erklärt, Verträge gebrochen und Konventionen verletzt habe, und sie verkündet die Notwendigkeit, bis zur Zertrümmerung des preußischen Militarismus zu kämpfen - denn dieser bilde die beständige Gefahr für die Menschheit -, aber sie wünscht weder die politische noch die wirtschaftliche Vernichtung Deutschlands.«
»Zertrümmerung des preußischen Militarismus, aber weder die politische noch die wirtschaftliche Vernichtung Deutschlands!« Wann haben Franzosen auf einmal so gründliche Kenntnis und Verständnis der innersten politischen Lebensgeheimnisse eines fremden Landes erlangt, daß sie jetzt, mit Rußland als Oberchirurgen, eine Operation, deren Lebensgefährlichkeit, besonders unter den gegebenen mühseligen Verhältnissen, sie doch zu ahnen scheinen, übernehmen können?
Ein Gruß, den der ehemalige Sozialdemokrat Aristide Briand ein wenig später, zum russischen Neujahrsfeste 1916, nach Petrograd sandte, beseitigt in wohltuender Weise die im Operationsprogramme des Sozialistenkongresses herrschende Unklarheit. Der französische Ministerpräsident erinnerte seinen den Frieden, die Sozialisten und die Demokratie liebenden Adressaten daran, »wie das russisch-französische Bündnis bald zwanzig Jahre hindurch die beiden Nationen in derselben Arbeit für den Frieden und die Zivilisation vereinigt habe«. Und er fügte hinzu: »unzertrennlich mit ihren Alliierten verbunden, können Frankreich und Rußland auf der Schwelle dieses Jahres ohne Furcht der Zukunft entgegengehen, denn wir sind an dem Zeitpunkte angekommen, wo unsere Feinde sich ermattet aufreiben und vergeblich ihre Heere in die Breite ziehen, während unsere Armeen sich in ausdauerndster Arbeit zu den entscheidenden Anstrengungen vorbereiten, welche die Zivilisation retten und dem befreiten Europa den friedlichen Wohlstand der freien Länder sichern werden.«
In »unzertrennlicher« Vereinigung mit Rußland wird Frankreich Europa »befreien«. Wovon? Vom »preußischen Militarismus?« Oder nicht vielmehr schlechtweg von einem starken, lebenskräftig wachsenden Deutschland überhaupt? Sonst wäre es ja merkwürdig, daß von dem »Befreiungs«bedürfnisse Europas von allerlei anderem »Militarismus« - z. B. dem russischen - kein Wort gesagt wird.
Über diesen »unzertrennlichen« Freund und Bundesgenossen Frankreichs ging dem »Social-Demokraten« (Stockholm) am 27. Dezember 1915 folgende Mitteilung zu: »Bei der Budgetkommissionssitzung der Reichsduma am Donnerstag gab Sasonow auf eine Anfrage Miljukows ein förmliches Dementi aller Gerüchte über Friedensverhandlungen ab. Auf Vorschlag Schingaroffs wurde dann eine Resolution angenommen, die feierlich erklärt, daß Rußland erst dann an Frieden denken könne, wenn Deutschlands Kraft gebrochen sei.«
Die »bedrohte Menschheit« der französischen Sozialisten und Briands »befreites Europa« spuken auch in einer Rede des Präsidenten Poincaré, die wirklich außerordentlich interessant ist, weil sie die politische Auffassung des Staatsoberhauptes einer Großmacht zeigt. Die Rede wurde am 1. Februar 1916 in Paris gehalten und endete mit folgenden Worten 2, die ich mir, auf ganz eigene Verantwortung, teilweise gesperrt gedruckt wiederzugeben erlaube.
»Frankreich«, sagte der Präsident, »will von einem Lande, das, durch den Glauben an seine militärische Kraft berauscht, sich als berufen ansieht, alles zu beherrschen, weder betrogen werden, noch ihm zum Opfer fallen. Frankreich will seine Zivilisation, seinen Geist und seine Sitten unangetastet behalten. Wenn der Einsatz unsererseits in diesem Kriege fürchterlich groß ist, so ist der unserer Verbündeten es nicht weniger. Auch die Neutralen könnten sich, wenn sie eine klare Auffassung ihrer künftigen Interessen hätten, gegen diesen Konflikt, in welchen so viele Nationen hineingezogen sind, nicht uninteressiert verhalten. Diejenigen unter ihnen, welche uns vorsichtige oder offene Sympathie zeigen, wie auch die, welche unsicher oder unbestimmt zu sein scheinen, haben alle vitale Interessen an unserem Siege. Dagegen haben sie von den usurpierenden, treulosen Nationen, die in den von ihnen selbst unterzeichneten Verträgen nichts anderes als Papierfetzen sehen und einen wilden Genuß darin finden, die kleinen Völker zu vernichten, alles zu fürchten. Ihr werdet den Nationen, die jetzt unter der Bedrohung der Gewalt Deutschlands leben, wieder Sicherheit geben. Ihr arbeitet an einer neuen Welt und seid die Vorläufer der befreiten Menschheit. Es ist notwendig, daß der Friede, dessen Bedingungen dem besiegten Feinde diktiert werden, uns die Provinzen, die man uns mit Gewalt geraubt, wiedergebe, das verstümmelte Frankreich vollständig wiederherstelle und uns sichere Garantien gegen die Kriegstollheit des kaiserlichen Deutschlands biete. An dem Tage, da Ihr uns diesen Frieden bringt, wird das starke, ruhige Frankreich seine Söhne, die es gerettet haben, an sein Herz drücken.«
Merkwürdigerweise scheint Präsident Poincaré ganz übersehen zu haben, daß bei den Neutralen ebensogut »offene Sympathie« für Deutschland und seine Bundesgenossen zu finden sein kann wie für Frankreich und dessen Verbündete - daß es Neutrale geben kann, die radikal und ehrlich außerstande sind, sich die Anschauungen des Präsidenten und anderer französischer Patrioten über den Krieg und die Weltlage im allgemeinen und über das Verhältnis, worin Deutschland und Frankreich zur »Menschheit« stehen, im besonderen zu eigen machen.
Über die in England herrschende Friedensstimmung um die Jahreswende 1915 ist wohl in dieser Verbindung genug gesagt, wenn man daran erinnert, daß gerade damals die Regierung dieses Landes den revolutionär unenglischen, nach englischen Begriffen unzweifelhaft »militaristischen« Entschluß faßte, den ersten Schritt zur allgemeinen Wehrpflicht zu tun.
Indessen hatte ja die Rede des deutschen Reichskanzlers im Reichstage am 9. Dezember 1915 über die Lage und die Friedensaussichten der englischen Presse kurz vorher noch eine ungesuchte Veranlassung gegeben, ihrer Herzensmeinung Ausdruck zu verleihen, und daß sie die Gelegenheit nicht unbenutzt hatte vorübergehen lassen, davon mögen folgende Berichte (der »Göteborgs...