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Würde die Maschine, an die ich mich fürs Schreiben dieses Buches angeschlossen habe, nicht alle paar Sekunden piepen, könnte man meinen, ich sei tot. Operationen ohne Betäubung und bei Bewusstsein laufen ja selten besonders gut. Meist nehmen sie auch kein gutes Ende. Vor allem, wenn der erste Skalpell-Schnitt in der Bauchgegend bereits gesetzt, das Blut warm und der Schweiß auf der Stirn echt ist.
Vor mir auf dem OP-Tisch liegt meine Vergangenheit. Man könnte auch sagen: meine Jugend, ein Teil von mir, oder der Typ, der ich vor 25 Jahren war. Aber das würde jetzt schon zu weit führen. Fest steht: Um in die Vergangenheit zu reisen, muss man bereit sein, Schmerzen zu ertragen. Keine alltäglichen Schmerzen à la mit der Papierkante in den Finger. Richtige Schmerzen. Schmerzen, die man tief in den Eingeweiden fühlt, an dem Ort, wo einem mulmig wird. Es ist das Gefühl, das unsichtbar in einem lauert, das jeder zu kennen glaubt, aber keiner wirklich kennenlernen will. Lieber verdrängt man dieses Gefühl wie eine böse Erinnerung. Vermutlich liegt es irgendwo zwischen dem alles zersetzenden Magen, dem kilometerlangen Tunneldarm und der dunklen, aber im Idealfall reinigenden Leber. So tief muss der Schnitt also mindestens gehen. Und meine Leber erwähn ich in der Reihe auch nur, weil: Böse Erinnerungen liegen nie obenauf. Da muss nachgeholfen werden.
Wer im Film in seine Vergangenheit düst, fährt dazu immer Auto. Paradebeispiel: Michael J. Fox. Angeblich fuhr der ja zurück in die Zukunft, aber es war in Wirklichkeit seine Vergangenheit oder eher die seines Vaters. Ist ein bisschen kompliziert, die Erklärung, aber wahr ist der Satz ganz am Ende des Films. Da sagt Doc Brown zu Marty McFly: «Straßen? Wo wir hinfahren, brauchen wir keine Straßen.» Wer nicht im Film, sondern in seiner Küche in die Vergangenheit düst, hat keinen eingebauten Fluxkompensator, hört keine Verkehrsmeldungen im Radio, und aufs Gas wird auch eher selten gedrückt. Im echten Leben beginnt die Reise in die Vergangenheit bedächtig und ohne Vorwarnung. Manchmal mit einer dieser ungewollten Ich-Operationen, aufflackernden Erinnerungsfetzen, vor denen man sich zu Recht fürchtet. In diesem Fall am Küchentisch vor einem Krümel Brot. Das Piepen ist auch keine angeschlossene Herz-Lungen-Maschine, sondern der modische Toaster, den die eigene Frau mal gekauft hat, weil sie fand, er würde farblich gut zum knallroten, aber inzwischen verkalkten Wasserkocher passen. Der ist mittlerweile aber längst auf eBay vercheckt worden. Deshalb passt der ebenfalls rot glänzende Toaster farblich jetzt zu keinem der Küchengeräte mehr. Ebenso wie der Brotkrümel nur aus unerklärlichen Gründen zu meiner Vergangenheit passt. Aber so hat das Ganze nun mal angefangen. Mit diesem Brotkrümel, auf den ich seit Minuten in der Küche starre. Und dem Piepen des Toasters. Was kann ich dafür?
Doch viel schlimmer ist: Wenn ich nur daran denke, wem ich bei dieser Reise gleich alles begegnen werde - ach du Scheiße, 25 Jahre nicht mehr gesehen. Und mulmig ist gar kein Ausdruck.
Das Piepen hat übrigens gerade aufgehört. Im Toaster sitzen zwei Brotscheiben und warten. Bis auf das Surren des Kühlschranks, das man tagsüber nie hört, ist es ruhig. Aus dem Wohnzimmer ist ganz leise eine Stimme zu hören. Tippe auf Caren Miosga. Meine Frau liegt sicher schon schlafend auf der Couch, wie immer gegen halb elf. Die «Tagesthemen» schafft sie nie. Ich dagegen schlafe nie vor drei Uhr nachts. Alte Sohn-von-Gastronom-Gewohnheit. Streiche erst mal den Brotkrümel vom Holz. Reinen Tisch machen. Merke: Ist nie verkehrt.
Mein Vater sagt immer: Alle guten Geschichten verdienen es, ein bisschen ausgeschmückt zu werden. Und die Geschichte meiner Jugend hat natürlich eine Vorgeschichte. Sie beginnt mit einer äußerst schmerzhaften Ohrfeige.
Die Hand klatschte auf die Backe - sie leckte nicht an ihr vorbei, sondern traf saftig und voll. Nicht in Zeitlupe. So schnell habe ich gar nicht gucken können. Gott sei Dank war es nicht meine Backe. Im Zeitraffer würde es so aussehen, als hätte der Aufprall, keine 30 Zentimeter von mir entfernt, Wellen geschlagen; die Abdrücke der fünf Finger auf dem Gesicht meines drei Jahre älteren Bruders Ari nahmen innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums verschiedene Farben an. Die Reihenfolge war: blassrot, rosarot, rot schimmernd, pochend rot und zum Ende hin eine mysteriöse Variante der Farbe Lila. Wie immer hielt Ari seine Wange hin, wenn ich die Hosen gestrichen voll hatte. Ältere Brüder. Ich sag's gleich: ein Segen. Jedenfalls: Den Träger der Fingerabdrücke musste man nicht lange in einer CSI-Datenbank suchen. Er stand direkt vor uns: unser Vater. Und das kam so:
Juni 1988. Das Schuljahr im Kant-Gymnasium ist fast rum. Ari und ich freuen uns auf die alljährliche Sommerreise nach Thessaloniki - zu Oma Theodora. Ach, Oma. Eigentlich ein Kapitel für sich, diese Frau. Aber ich hol nur ein kleines bisschen aus. Als Kinder sind wir jedes Jahr mindestens vier Wochen nach Griechenland gefahren. Damals, in den 80ern, eine andere Welt. Vor allem die abenteuerlichen Busfahrten mit Oma Theodora an den Strand. Weil: Sie hat das gut lesbare Schild «Bitte nicht mit dem Fahrer sprechen» immer ignoriert und ein Pläuschchen mit ihm angefangen. Stets beginnend mit derselben Frage: «Woher stammst du, mein Lieber?» Grund genug für Ari und mich, just in diesem Moment unsere übliche Wette abzuschließen. Ari wettete, dass Oma über zwanzig Ecken eine entfernte Verwandtschaft zwischen uns und dem Busfahrer herbeireden würde. Ich hielt natürlich dagegen. Für gewöhnlich verlor ich die Wette. Und zum Ende des Sommers war ich jedes Jahr aufs Neue absolut überzeugt, dass alle Busfahrer in Thessaloniki irgendwie zu unserer Familie gehören. Abenteuerlich wurde es immer dann, wenn der Busfahrer eine Verwandtschaft kategorisch ausschloss und meine Oma diese Tatsache ebenso ignorierte wie zuvor das Schild. Einmal haben wir mitgezählt. Der sehr geduldige Busfahrer hatte - während der knapp zweistündigen Fahrt - meine Oma 38 Mal gebeten, nicht mehr mit ihm zu reden, und mehrmals mit dem Zeigefinger nach oben aufs Schild gedeutet. 38 Mal schöpfte sie nach einer sekundenlangen Pause neuen Mut und stellte ihm eine andere Frage. Wo wohnst du? Mit wem bist du verheiratet? In welcher Kirche hast du geheiratet? Wer sind deine Nachbarn? Woher kommen deine Großeltern? Sind sie aus dem ehemals griechischen Teil der heutigen Türkei übergesiedelt? Weißt du noch, welches Schiff sie nehmen mussten? Die Blicke, die sie für diese Fragen vom Busfahrer und mit fortdauernder Reisezeit auch von den übrigen Fahrgästen erhielt, waren - na ja, sagen wir - unterschiedlicher Natur. Manche rollten mit den Augen, andere konnten es kaum fassen und schlugen sich mit der Hand gegen die Stirn. Wieder andere warteten wohl darauf, dass dem Busfahrer jeden Augenblick der Geduldsfaden riss und er eine Vollbremsung hinlegte. Anders lässt es sich nicht erklären, dass viele auf ihren Sitzen mit beiden Händen die nächste Stange fest umklammerten. Aber während Ari meist nur kicherte und mir immer wieder mit dem Ellbogen in die Seite stieß, schaute ich meine Oma voller Bewunderung an. Busfahrten mit Oma Theodora waren für mich wie Geschichtsunterricht. Nur aufregender. Jede ihrer Fragen war ein Genuss, ich saugte sie auf, als wären sie an mich gestellt, und wartete gespannt auf die Antwort des Busfahrers. Neugierig, welche Frage ihr als Nächstes einfallen würde. Oma Theodora gab sich nie mit einer Antwort zufrieden. Sie wollte alles, und wenn ich sage: alles, dann meine ich auch: alles wissen. Wahrscheinlich war es diese liebenswürdig verpackte Hartnäckigkeit, die den meisten Busfahrern sympathisch war. Sie fanden meine Oma und ihre Fragen amüsant, lachten mit ihr - und achteten zwangsläufig etwas weniger auf den Verkehr. Aber passiert - ich schwör's - ist in all den Jahren nie etwas. Bis auf ein paar Vollbremsungen.
Viele Jahre später - Ari und ich waren längst erwachsen - hat unser Vater mal nebenbei bei einem Glas Whisky erzählt, dass Oma Theodora große Angst vor Busfahrten hatte.
«Sie hat - außer im Sommer mit euch - nie den Bus genommen. Sie ist eher zehn Kilometer zu Fuß gegangen, anstatt sich in so ein Höllengefährt zu setzen. So nannte sie die Busse: .»
«Du meinst .», setzte ich zu einem Satz an, ohne ihn zu beenden.
«Ja, sie hat das nur euch zuliebe getan. Habt ihr das nicht gewusst?»
«Sie war immer klatschnass, wenn sie aus dem Bus stieg», erinnerte sich Ari.
«Und ihre Fragen an den Busfahrer? Nur um ihre Angst zu verbergen?», fragte ich.
Vater zuckte mit den Schultern. «Wahrscheinlich.»
Ari und ich schauten uns direkt in die Augen. Und mussten grinsen.
Ich sag's ja: Oma Theodora, eigenes Kapitel. Normalerweise. Nur heute Nacht nicht.
Zurück zur Ohrfeige. Das gesamte Schuljahr über hatten wir unseren Eltern erzählt, dass es in der Schule «gut läuft», Und dann das: Im Schuljargon nannte man sie blaue Briefe, und ich gestehe, zuerst war ich auch etwas enttäuscht, dass sie nicht blau, sondern in schlichtem Weiß daherkamen. Aber egal, die Nachricht, dass sowohl Ari als auch ich «das Klassenziel» nicht erreicht hatten, war für unseren Vater ein Schlag ins Gesicht. Folgerichtig hat er ihn...
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