Schweitzer Fachinformationen
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Im Garten rupft Rosa mit beiden Händen an den roten Zinnien und Löwenmäulchen und reißt einige samt Wurzeln aus. Etwas Übermächtiges ist geschehen. Ihre Eltern schreien sonst nicht.
Wenn Lina und Julius sich streiten, zieht es sie mit aller Macht dorthin. Linas und Julius’ Stimmen gehen mit Stöcken und Fäusten aufeinander los. Weil Alice immer wieder erhitzt, voller Vorwürfe ins Zimmer stürzt, bereit, das Kind zu retten: Wie könnt ihr nur! Könnt ihr euch nicht einmal zusammenreißen!, hat Rosa es sich angewöhnt, sich zu verstecken, um beim ehelichen Kampf der Großeltern ungestört dabei zu sein.
Das Geschrei der beiden alten Menschen hat nichts mit ihr zu tun. Hätten sie Dreschflegel in den Händen, würden sie einander totschlagen. Stattdessen dreschen sie hilflos vor Wut mit den immer gleichen Beschimpfungen und Anklagen aufeinander ein. Rosa hört alte Dielenbretter seufzen, eine Tür knarren; es rumpelt und poltert wie die Wackersteine im Bauch des Wolfs. Das Gegreine gibt ihr eine gewisse Sicherheit, es stößt etwas aus. Auch Lärm ist ein Kind, wenn man Kind ist.
Aus ihrem kindlichen Körper bricht jedes Gefühl, jede Erschütterung mit einem Aufschrei hervor, jede ihrer Fragen trägt ein Ausrufezeichen. Namen stößt sie wie Fanfaren aus, wenn sie in den Raum stürzt: Julius! Lina! Frieder! Karl! Alice!
Sie wäre um ihr Leben gern zu Hause gewesen, als der Landjäger kam; sie hätte Julius vor ihm beschützt. Leider war sie in den Ferien und musste mit den andern die Berge auf- und abgehen. Sie starrt auf die Löcher im Gartenbeet, aus denen sie die Blumen ausgerissen hat. Man sollte beide Seiten der Berge auf- und abgehen, nicht nur die Seite innen im Land, die einen immer anschaut. Nach einem Wandertag ist ihr manchmal ganz öd zumute.
Was ist auf der anderen Seite der Berge?, fragt sie einmal.
Deutschland, sagt Frieder laut.
Das Ausland, sagt Karl gleichzeitig.
Warum sagst du Ausland?, fragt Alice gereizt.
Karl rutscht auf dem Stuhl hin und her und meint, es handle sich doch um die Außenseite der Berge. Er lacht ein wenig dabei, als habe er einen Witz gemacht, aber Rosa weiß, dass niemand lachen wird, wenn er gleichzeitig schnell eine Faust macht, ohne dass es jemand merkt, auch er nicht. Die Finger krümmen sich von allein. Es geht so schnell, dass man sich einreden könnte, Karl habe keine Faust gemacht, als er Ausland gesagt hat, aber sie weiß genau, dass sie es gesehen hat.
Warum gehen wir nie auf deiner Seite der Berge auf und ab?, fragt sie.
Alice sagt: Eigentlich gehören wir in die Schweiz, Karl sagt: Wir haben lange genug in Deutschland gelebt, Alice sagt: Kinder, es gibt ja noch so viel zu entdecken in der Schweiz!, so ein Neuanfang im Frieden nach einem Krieg ist ja wie eine Schöpfung!
Frieder malt für Rosa ein Bild vom Dschungel auf einen Bogen Packpapier und heftet es mit Reißzwecken an die Wand, lauter Affen und Riesenschlangen, die von den Bäumen baumeln. Die Bäume wachsen so dicht zusammen, dass ihre Kronen ein Dach bilden. In einem Dschungel sei es immer dämmerig, und man müsse der wilden Tiere wegen höllisch aufpassen. Papageien kreischen, Affen krakeelen, und alle zusammen würden einen Heidenlärm vollführen. Im Dschungel gebe es wie in einem Haus mehrere Etagen, die Stimmen der Tiere würden sich von oben, vom Blätterdach bis zum Boden hinab auf verschiedene Stockwerke verteilen.
Alices Stimme kommt aus den Wolken, wenn sie aus einem Buch auftaucht, oder klingt zermatscht, wenn sie kocht und putzt, wie Blumen und Gräser, die Rosa in der verschwitzten Hand hält. Karls Stimme hüpft über Stock und Stein. Linas und Julius’ Stimmen halten nichts zurück. Es knallt, kracht und donnert, dann ist alles raus und vorbei.
Alle rufen kreuz und quer untereinander hin und her, ein Stimmengewirr aus halblauten Bemerkungen, Seufzern, verärgerten Ausrufen, Gelächter. Einzelne Wörter und Satzbrocken lösen sich heraus und fallen von oben links und rechts neben Rosa zu Boden. Frieders Stimme ist am nächsten und flüstert ihr Geheimnisse ins Ohr: Du bist ein Schwarzfußindianer!
In seinem Zimmer steht ein Terrarium, in dem er kleine Frösche hält. Manchmal entwischt einer und hüpft am Boden herum, auf dem dunkelgrün und schwarz gesprenkelten Linoleum, auf dem sie ihn kaum sieht und beinahe drauftritt.
In der Sonntagsschule wird Geld für die armen Negerlein gesammelt. Auf dem Geldkästchen steht ein geschnitzter schwarzer Mann mit einem gelben Umhang und einem roten Turban. Wenn zehn Rappen durch den Holzschlitz fallen, nickt er mit dem Kopf. Frieder sagt, er bedanke sich bei jedem Kind einzeln für die zehn Rappen. Er hat keine Lust, Rosa mitzunehmen; von den andern vierjährigen Kindern wird noch keines in die Sonntagsschule geschickt.
Rosa schlüpft unter den Stimmen der Erwachsenen hindurch, als laufe sie mit eingezogenem Nacken durch einen Regenschauer, um ungeschoren durchzukommen. Mit beiden Armen rudernd, bewegt sie sich zwischen Inseln aus Schatten und Licht, Grün und Rot durch den Tag, der ihr gehört, ihr allein. Mit jedem Atemzug vibriert er warm, kalt, hoch, tief, hell, dunkel, schmal, breit in ihr. Stimmen, Gesichter, die Umrisse von andern Körpern, ihre unterschiedlichen Ausmaße, ihre Schritte, schwere und leichte, ziehen durch sie hindurch; die Welt ist ein Kreisel.
Die Zinkgießkannen vor der Waschküche sind leer. Sie schiebt eine unter den Wasserhahn neben den Bananenstauden, dreht ihn auf und schaut zu, wie das Wasser hohl in das dunkle Innere der Kanne schießt, zu gurgeln anfängt und schließlich überschwappt. Es läuft mit seiner schlappenden Zunge über den Rand und netzt die Steinplatten mit der krümeligen Erde zwischen den Fugen. Rosa hockt sich neben die Gießkanne, rupft ein paar Stengel von einem Kraut aus und zieht sie durchs Wasser. Es wächst auch unten am Bach bei der Feuerstelle, an der Frieder und seine Freunde Kartoffeln braten. Die untere Seite der kleinen Blätter wird zu Silber, die obere bleibt mattgrün, während sie sie im Wasser hin- und herschwenkt. Ameisen laufen zwischen den Steinfugen hin und her. Sie klaubt einige zusammen und legt sie oben in einen Bananenwedel. Halb zerdrückt, trudeln sie in den Blattschlund hinab, andere krabbeln ihre Beine hoch. Stampfend und zappelnd wischt sie sie von der Haut ab, dann läuft sie johlend die Gartenwege entlang und verkündet ihren Sieg. Der Garten antwortet nicht. Julius ist weggebracht worden. Seine großen, schwarzpolierten Schuhe bleiben nicht neben den rauhen Ziegelsteinen, die die Gartenwege einfassen, stehen, er deutet nicht auf eine besonders rote pralle Erdbeere, die sie naschen könnte.
Sein Haus schlottert, es hat ihn nicht beschützt.
Die Verhaftungen und Vorladungen wirbeln Staub auf und produzieren Stapel von Papieren, die routinemäßig oder mit Genugtuung in Aktenordnern abgeheftet werden, Formulare, Protokolle, amtliche und kollegiale Benachrichtigungen, für Ihre Mithilfe danken wir bestens. Amtliche Briefe, die an Küchentischen und in Sofaecken gelesen werden, verursachen Herzklopfen, Beklemmungen, sorgenvolle Nächte, mühsam unterdrückte Wut und Angst. Alice legt die Briefe, die ihr Vater aus der Waldau schreibt, in eine alte lederne Schreibmappe, die sie zwischen die Kochbücher ins Küchenregal stellt. Sie mag sie nicht zwischen ihrer Korrespondenz im Sekretär haben. Lina schiebt ab und zu einen Brief in die Schublade ihres Küchentischs. Karl legt einen neuen Aktenordner an.
Da kommt einiges auf uns zu, seufzt er. Das wird etwas kosten.
Am achten August neunzehnhundertneunundvierzig teilt der außerordentliche Untersuchungsrichter des Kantons Bern dem Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Waldau mit, Doktor Julius Brunner sei zur psychiatrischen Beobachtung in die Anstalt eingewiesen worden. Da beim Angeschuldigten Kollusionsgefahr besteht, bitte ich Sie, vorderhand keine Besuche zu bewilligen. Ebenfalls bitte ich Sie, mir sämtliche ein- und ausgehenden Korrespondenzen des Angeschuldigten zur Zensur zuzustellen.
Der Direktor lässt sich die Post des Angeklagten bringen und liest dessen ersten Brief nach Hause durch.
8. VIII. 1949 Liebe Lina! In der Eile der Abfahrt habe ich kein rechtes Briefpapier erwischt, nur Notizzettel. Ich hätte gern ein Paket Watte zu 100 gr., dann ein Nachthemd und ein Paar dünne Socken. Paket und Briefe soll Karl in Bern zur Post bringen. Damit für Frieder auch etwas abfällt, kaufe von jedem Wert der Augustmarken je fünf Stück, um die Sendungen an mich freizumachen. Solltet ihr am Sonntag mit Rosa kommen, so bringt auch Frieder mit, denn man kann es ihm nicht gut längere Zeit verheimlichen, dass ich hier bin, und er ist ja verschwiegen. Mit zwölf Jahren hat man höchstens Bubenstreiche im Kopf. Den Don Quijote von Cervantes kannst du mir jetzt senden; ich glaube, ich lerne hier seine Albernheiten, seine dummen Streiche sowie die urwüchsige Philosophie seines Dieners noch schätzen. Bevor die Untersuchung abgeschlossen ist, darf niemand zu mir kommen. Es braucht eine Bewilligung des außerordentlichen Untersuchungsrichters des Kantons Berns, um mich besuchen zu können. Ich habe gestern ein Gesuch für dich, Alice, Karl und die Kinder eingereicht. Herzliche Grüße, Julius.
Ebenfalls am achten August neunzehnhundertneunundvierzig fordert der außerordentliche Untersuchungsrichter des Kantons Bern je ein Leumundszeugnis der Einwohnergemeinde Oberfelden und der Kantonspolizei über Doktor Julius Brunner an.
Um die persönlichen Verhältnisse in der Voruntersuchung gegen Brunner, Julius Gottlieb, geb. den 25.?November 1875, angeschuldigt wegen Abtreibung,...
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