Schweitzer Fachinformationen
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Auf der Uferpromenade spielte ein Leierkastenmann La Paloma. Die Sonne schien, man würde später einmal sagen können, dies sei ein schöner Tag gewesen. Der Kapitän stand mit verschränkten Armen in der offenen Kajütentür und pfiff gedankenverloren die Melodie mit. Auf dem Schild am Kopf der Seebrücke zeigte eine überdimensionale Uhr an, dass die nächste große Hafenrundfahrt um 16 Uhr stattfinden sollte. Was davor stattfinden würde, stand nicht auf dem Schild.
Meine Mutter hatte einmal gesagt, sie wolle anonym bestattet werden. Das war einige Jahre her, sie hatte mich angerufen und unvermittelt verkündet, falls sie in absehbarer Zeit sterben sollte, wünsche sie eine anonyme Bestattung. Ich wusste nicht, was ich mit dieser Information anfangen sollte. Ich fragte sie, ob sie krank sei, aber zu ihrem Leidwesen erfreute sie sich bester Gesundheit. Grundsätzlich hätte ich dagegen nichts einzuwenden gehabt. Eine anonyme Beisetzung wäre günstiger gewesen, aber Falk hatte mir das ausgeredet. Die Seebestattung war seine Idee gewesen. Während ich nicht in der Lage war beziehungsweise es ablehnte, mich mit diesen Dingen auseinanderzusetzen, hatte er Informationsbroschüren herangetragen, aus denen er mir vorlas, um sein Anliegen mit Begriffen wie ressourcenschonend, preiswerter Verbrennungssarg und keine Liegegebühren zu untermauern.
Die Bestatterin lehnte rauchend am Brückengeländer und sah auf ihr Handy. Falk turnte über die mit einem dunkelgrünen Algenteppich bedeckten Steine am Ufer, um eine Möwe zu fotografieren, die im flachen Wasser unter dem Anleger auf eine tote Scholle einhackte. Der brackige Gestank des Hafenwassers vermischte sich mit dem Geruch von Bratfisch und frisch gebrühtem Kaffee, der von der Uferpromenade herüberwehte, auf der unbekümmerte Urlauber unter blendend weißen Sonnenschirmen vor Eisbechern, Marzipantorte und Draußennurkännchenkaffee an Bistrotischen saßen, die die Sonne reflektierten. Ein Containerschiff schob ein paar Wellen das Ufer hinauf. Die Möwe schreckte hoch und zog meckernd in Richtung See, dicht über Falk hinweg, der fluchend aufsprang, strauchelte und die Kamera am ausgestreckten Arm balancierte.
Bringt Glück, rief die Bestatterin lachend und eilte zu Falk, um ihm ein Taschentuch zu reichen und seine Kamera zu halten, während er sich den Möwendreck aus den Haaren wischte. Ich lief ein paar Schritte von der Seebrücke hinunter und die Promenade hinauf und studierte die Piktogramme auf einem orangefarbenen Kasten, der seiner Aufschrift nach Hundekotentsorgungsbeutel enthielt.
1. Ziehen Sie den Entsorgungsbeutel wie einen Handschuh über.
2. Ergreifen Sie das Exkrement.
3. Verknoten Sie den Beutel und entsorgen ihn im nächsten städtischen Abfallbehälter.
Ich ließ meinen Blick über den Touristenzug schweifen, der sich an den mit Windjacken und Fischerhemden behängten Drehständern vor den Boutiquen vorbei in Richtung Strand schob. Ich war nicht einmal sicher, ob ich ihn erkennen würde.
Als der Leierkastenmann So ein Tag, so wunderschön wie heute anstimmte, rollte die Bestatterin entschuldigend die Augen. Ich sah am Maritim Hotel hinauf, fing an, die Stockwerke zu zählen, kam irgendwo bei zwanzig von unten durcheinander und gab es auf.
Ich hatte mir den Tod immer als Möglichkeit vorgestellt. Eine Möglichkeit, die sich jedes Mal unwillkürlich aufdrängte, sobald ich auf einem hohen Gebäude oder einer Brücke stand. Ich hatte nie daran gedacht, mich umzubringen. Ich hatte oft daran gedacht, aber so, wie man eben an etwas denkt, das möglich ist. Genauso wie ich auch, wenn ich im Museum allein vor einem wertvollen Kunstwerk stand, unwillkürlich daran denken musste, dass ich jetzt gerade die Möglichkeit hatte, dieses Kunstwerk zu zerstören, und niemand schnell genug zur Stelle wäre, um mich daran zu hindern. Saß ich als einziger Fahrgast im Bus oder in einem Taxi, dann fiel mir grundsätzlich ein, dass es möglich war, dass der Fahrer mich in eine verlassene Gegend fahren und ermorden würde. Ich hatte keine Angst, ich stellte mir diese Dinge nur vor, wie man sich eben Dinge vorstellt, die theoretisch passieren konnten.
Die Bestatterin sah nervös auf ihr Handy.
Wir könnten dann so langsam, sagte sie zögernd. Falk nickte.
Ich schüttelte den Kopf. Wir warten noch auf jemanden.
Ich sah die Promenade auf und ab und versuchte, zwischen all den Köpfen ein Gesicht ausfindig zu machen, von dem ich nicht wusste, wie es inzwischen aussah. Ein Gesicht, das ich aus dem Internet und aus Zeitungen kannte und von einer einzigen, kurzen Begegnung vor dreizehn Jahren.
Als Kind hatte ich angenommen, mein Vater sei entweder tot oder in Amerika oder beides. Amerika war das Weiteste, das ich mir vorstellen konnte. Außer tot. Tot war, dachte ich, noch weiter weg als Amerika. Bevor ich eine Vorstellung davon hatte, was der Tod bedeutete, hatte ich die Idee, dass man einfach immer älter wurde und immer größer, bis man, wenn man schließlich sehr, sehr alt war, ungefähr tausend Jahre alt, so groß war, dass man zu Fuß das Meer durchqueren konnte. Eines Tages würde ein tausendjähriger Vater aus Amerika vorbeispaziert kommen, dachte ich, mit ozeannassen Füßen, und dann konnte meine Mutter mal sehen. Im Grunde war mein Vater so etwas wie der Weihnachtsmann oder Gott, eben einer dieser Männer, von denen niemand, zumindest niemand Ernstzunehmendes, mit Sicherheit sagen konnte, ob es sie nun eigentlich gab oder nicht. Im Laufe der Zeit begann ich mich jedoch zu fragen, wo all die sehr, sehr alten Menschen abgeblieben waren, und ich verbannte die Idee von den tausendjährigen Riesen in die dunkle Abstellkammer meines Kopfes, in der schon der Irrglaube, dass Inseln schwimmen, dass Fischstäbchen die Spazierstöcke der Haifische sind und dass der uralte Billeteur des Schauspielhauses wirklich meine Nase gestohlen hatte, hausten und mit dem Weihnachtsmann, dem Nikolaus, dem Osterhasen und der Zahnfee eine WG der in schamhafter Erkenntnis verworfenen Theorien bildeten.
Etwa zur gleichen Zeit sah ich im Fernsehen eine Sendung für Kinder, in der das Leben eines berühmten Mannes nacherzählt wurde. Die Geschichte schloss mit den Worten: Und dann hörte sein Herz auf zu schlagen. Dieser Satz verfolgte mich für geraume Zeit. Plötzlich wurde mir klar, was es hieß zu sterben: Das Herz hörte zu schlagen auf, und dann war man tot. Es klang banal und wie etwas, das jedem Menschen jederzeit zustoßen konnte. Fortan presste ich, wenn ich auf dem Schoß meiner Mutter saß, ein Ohr an ihre Brust und ängstigte mich, wenn ich nichts hören konnte, weil der Busen im Weg war. Mutter fand das sehr komisch. Sie machte sich einen Spaß daraus, die Augen zu schließen und sich tot zu stellen, bis ich sie zwickte und bettelte, sie möge damit aufhören.
Später hatte der Tod mich immer wieder auf die eine oder andere Weise gestreift, ohne mehr zu hinterlassen, als ein kurzes schales Gefühl. Ich war in Städten aufgewachsen, wo das Leben gefährlich war. Ich hatte gesehen, wie jemand aus dem Fenster im zehnten Stock eines Hochhauses sprang, das auf meinem Schulweg lag, und einige Jahre später den mit einem weißen Laken abgedeckten Körper eines Selbstmörders, der sich in München, wo wir für ein paar Spielzeiten lebten, vor die U-Bahn geworfen hatte. Nur die Füße schauten heraus, die in hell- und dunkelbraunkarierten Pantoffeln steckten, die gleichen Pantoffeln, wie Falk sie heute trug. Am meisten wunderte ich mich darüber, dass man von einer U-Bahn überfahren werden konnte, ohne seine Pantoffeln zu verlieren.
In der Oberstufe, auf einer Fahrt an die Costa Brava, hatte ich einen leblosen Körper im Wasser treiben sehen, war hingeschwommen und hatte eine Weile das zitternde, blau angelaufene Gesicht eines Mannes ratlos in meinen Händen gehalten. Dann kamen ein paar andere Männer und trugen ihn davon, und ich sah vom Wasser aus zu, wie sie erfolglos versuchten, ihn wiederzubeleben. Ich wusste nichts über diesen Mann, der damals etwa so alt gewesen sein musste, wie ich es jetzt war.
Vor wenigen Jahren hatte ich mir die Hinrichtung Saddam Husseins auf YouTube angesehen und dabei gedacht, dass mich von allen meinen Toten dieser am meisten betraf, weil ich mich dazu entschieden hatte, mir das anzusehen, und das etwas war, das ich nicht würde rückgängig machen können. Ich war eine, die sich freiwillig jemandes Hinrichtung im Internet ansah.
Als das Schiff ablegte, sah ich ihn. Jedenfalls glaubte ich für einen kurzen Moment, ihn zu erkennen. Er saß auf einer Bank am Ufer. Mitten in dem Gewirr auf der Promenade, zwischen Ständen mit Bernstein und Modeschmuck, saß ein schwarz gekleideter Mann mit dunkler Sonnenbrille und grauem Bart und sah dem Schiff hinterher. Ich spürte ein anschwellendes Brennen unter der Kopfhaut, vergleichbar mit dem Gefühl, das einen überfällt, wenn man da hingreift, wo man sein Portemonnaie zu wissen glaubt, und feststellt, dass es sich dort nicht befindet. Die Schiffsschraube wühlte braunes Wasser auf, das bis an die Reling spritzte. Der Mann auf der Bank am Ufer sah in meine Richtung und bewegte sich nicht. Ich unterdrückte den Impuls, ihm zuzuwinken, und konzentrierte mich auf einen Kaugummi, der an der Reling klebte, eine akkurate Reihe milchzahnkleiner Abdrücke darin. Als ich wieder aufsah, war der Mann verschwunden.
Falk hatte die Idee gehabt, im Hamburger Abendblatt eine Traueranzeige zu schalten, und so hatte die Nachricht vom Tod der...
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