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Prolog
Gotland
Niemand kann sicher sein, niemand, kein Einziger kann jemals behaupten, es gäbe ihn, diesen Gott, unseren Heiland, der hier in Gotland lebt, der sich im Wasser zeigt, in den Bäumen, Möwen und Menschen, es wäre doch lächerlich, das zu glauben. Natürlich gibt es ihn, diesen Gott, der im Wasser schwimmt, der auf dem Wasser treibt und niemals untergeht, der allen, die am Ufer verharren, nachsieht und zuwinkt, es kann nicht bloß Einbildung sein. Er scheint allgegenwärtig und zugleich nichtig, ein Schatten am Plafond, Schemen in der Dämmerung, wie diesig doch heut der Himmel ist, viel trüber noch als die gekräuselte See, stumm die Fische darin, und schwer sind ihre Bäuche.
Es gibt einen Gott, der in den Bäumen sitzt, an den Ästen nagt und diese schüttelt, bis das Laub abfällt, bis aus herabfallenden Samen neue, wild wuchernde Bäume wachsen. Unser Gott schüttelt sich gern, das Wasser perlt von ihm ab, seine Federn sind dicht, er vermag es, alles von sich fernzuhalten, das Land, den Himmel, die See, die armseligen, verängstigten Menschen. Und Bäume und Häuser, und wenn Tiere aus den Kronen fallen und zu Boden stürzen, sich die Knochen brechen und vermodern, dann ist auch dies unvermeidlich und von Ihm gewollt.
Es gibt einen Gott, der zur Gänze aus Feuer ist, hier oben in Gotland, Gott brennt wie Zunder, wie trockenes Stroh, wie das Haar der Mägde und Knechte, alle strecken und recken ihre Hände zur Wärme, zum Licht, weil es so verdammt kalt werden kann. Und selbst diejenigen, die an gar nichts glauben, wissen nur zu gut, dass sie ohne Wärme umkommen, sie werden allmählich langsamer in ihren Bewegungen und erstarren bald vollends, ein jedes Jahr dasselbe Spiel, der Winter zieht auf, es lässt sie erschaudern.
Es gibt keinen Gott, niemand kann sicher sein, niemand, kein Einziger kann jemals behaupten, dass die Natur hier oben nicht schön sei, dass sie nicht prächtig gedeiht und selbst abgebrühte Urlauber in ihren Bann zieht, sie in den Norden lockt nach Gotland, hierher zu uns. Die Natur und das Wasser und die schroffen, unwegsamen Felsen und dichten Wälder, wie es sie andernorts nicht mehr gibt, sie sind der Blickfang, sie sind der Grund, warum wir hier sind, weil es uns - wie auch Gott - nirgendwo sonst so gefällt. Nur in Gotland gibt es einen Heiland, der in den Bäumen sitzt und Vögel frisst, der im Wasser schwimmt und Fischen nachstellt, der Nebel aufziehen lässt und alle Häuser verschleiert. In Gotland werden noch Menschen geboren, die sich sehen lassen können, die schon als Kinder in kalten Teichen tauchen, die in der Brandung des Meeres waten, ohne zu murren, ohne sich gar zu beklagen. Die Menschen von Gotland sind unermüdlich, sie schreiten weiter, und manchmal stolpern sie im Kreis, weil ihnen die Insel keine andere Wahl lässt, doch niemals erlahmen sie, sie streichen kein Segel, denn ihr Glaube ist fest und unerschütterlich.
Viele, die auf der Suche sind, kommen nach Gotland, sie versuchen sich selbst und Gott zu finden, sich irgendwo einzureihen, sie schwimmen und treiben durch die eisige Brandung, die Lippen trotzig aufeinandergepresst, zitternd vor Kälte, mit bleicher Haut und zerzaustem Haar. In Gotland glauben viele, ohne zu fragen, in Gotland brauchen wir keine Beweise für die Existenz Gottes, wir wissen, was wir sehen, wir fühlen, wer er ist, wir sind die besseren, die auserwählten Menschen. In Gotland findet man, man findet zu Ihm, man erkennt Ihn, man hasst Ihn, denn auch dafür findet man Gründe.
Niemand kann sicher sein, niemand, kein Einziger kann jemals behaupten, er hätte seinen Gott gefunden, weil es - außerhalb Gotlands - keine anderen Götter gibt, die Christen irren und die Moslems täuschen sich, oder wie auch immer sie sich nennen mögen, sie sind die wahren Irrlichter der Welt, die Verlorenen unserer Zeit, eines Tages werden auch sie es erkennen und am eigenen Leib erfahren. Die Gotländer sind an lange Winter gewöhnt, Schnee fällt und noch mehr Schnee, die Bäume biegen sich und manche brechen, die Wälder sind voller Spuren, unser Gott hinterlässt seine Fährten, und wir folgen ihnen, retten einander dabei manchmal vor dem Erfrieren.
Wie sich in Gotland Frost anfühlt, wurde ich einmal gefragt, wie sich überhaupt alles anfühlt, und ich habe geantwortet: Der Frost fühlt sich immer wieder ganz anders an. Der Frost ist der leere Magen einer hungrigen Ziege, der Frost ist der pralle Bauch einer toten Dohle, der Frost ist das Anhalten des Atems und das Aufplatzen der Lippen und stechender Kopfschmerz und stetiger Schwindel. Der Frost ist ein Kammerflimmern, der Frost ist schlicht der Faustschlag des Windes.
Und betrachtet man Gotland von oben, dann sieht man eine Insel, die schmerzt, wenn man sie anfasst, ihr Umriss ist gespickt mit spitzen Felsen, Buchten, Steinsplittern und Landzungen. Man erkennt einen Fisch, Finnen und Flossen, die durchs Wasser pflügen, ein Schlachtschiff, das aus allen Rohren feuert; man erkennt das Antlitz Gottes, Seinen Kopf im Profil, den Hals, die Nase, das Auge, und ja doch, die alte Stadt Visby liegt dort, wo dieser eine Gott sein Auge hat. Ein jeder sieht etwas anderes in Gotland, man nimmt die Landkarte zur Hand und vertieft sich, Gotland spiegelt wider, was man ist, was in einem steckt, was man verloren hat, was man begehrt und verdammt.
Als man mir zum ersten Mal eine Karte von Gotland zeigte, sah ich einen Spalt im Meer, es war, als würde sich das Wasser teilen und zurückziehen, auseinanderklaffen, ein Riss in der Erdkruste, eine dem Planeten zugefügte offene Wunde. Ich sah genauer hin und erkannte eine ovale, klaffende Ritze, dachte an das Geschlecht einer Frau, mit ausgefransten Schamlippen und einem angedeuteten Anus. Ich weiß, es hört sich abstrus an, doch nahm ich mein Glied aus der Hose und masturbierte vor der Landkarte Gotlands, meine Augen glitten über die Topographie der Insel, ich masturbierte, wand mich und stöhnte, kam allerdings nicht.
Ich wurde später gefragt, wer oder was in Gotland die meisten Menschen tötet, und meine Antwort war: Der Frost tötet einige, das Meer nimmt viele, die Brandung, die alle Unachtsamen mit sich reißt, wenn sie Muscheln sammeln und an weiche Leiber denken oder beten oder irgendwas gedankenverloren in den Sand kritzeln, jedoch, die allermeisten sterben an Organversagen. Oder - falls das einleuchtender klingt - an gebrochenem, eiskaltem Herzen. Wie ich das bloß wieder meine, wurde ich daraufhin gefragt, doch meine Antwort war: Und dennoch entfernt man die Herzen der Toten und schneidet sie entzwei, weil Gott sie sonst auferstehen, erneut herumirren lässt. Und wer mag sich Gotland schon mit all den Erfrorenen, Ertrunkenen und Unglücklichen teilen, die einem, früher oder später, ohnedies nach dem Leben trachten.
Die Erfrorenen lehnen reglos an Bäumen, lungern herum und warten und erkennen einen nicht mehr, selbst wenn sie früher mit einem unter demselben Dach lebten und man alles miteinander teilte. Die Ertrunkenen, die zieht es zu den Stränden und Küsten, sie stellen Krabben nach und riechen streng aus dem Mund, manchmal knien sie tagelang am Strand und trinken Meerwasser, immer noch mehr Meerwasser, bis sie sich übergeben und ihre Körper wild zucken; wenn die Krämpfe nachlassen, dann fangen sie wieder von vorne an. Das will man nicht sehen, man will das ganze Elend nicht, das einem Gott immer wieder vor Augen führt, wie zerbrechlich, einfältig und widerlich ein menschliches Wesen doch ist. Manche sind der Meinung, Gott zeige uns das alles, damit wir nicht aufhören zu beten, damit wir nicht aufhören, Ihn beim Namen zu nennen, unseren allmächtigen und allgegenwärtigen Gott von Gotland, der uns errettet und ins Himmelreich führt.
Immer dann, wenn sich die Menschen von Gotland vermählen, schneiden sie ihr Haar ganz kurz und danach nie wieder, das ist hier Brauch, bei Männern und Frauen gleichermaßen. Die Männer suchen sich Frauen aus, die wohl auch dem Heiland gefallen würden, die weichen und gut riechenden, mit rosigen Lippen und wohlgeformten Brüsten. Die Frauen wiederum halten nach Männern Ausschau, die in langen Wintern wärmen, die sich nicht beklagen, die einfach nur den Mund halten.
Und immer dann, wenn die Menschen von Gotland in langen Wintern um ihre Vergangenheit trauern, dann tun sie es stumm wie die Fische, wie all das Getier, das sie zum Trocknen in ihre Schuppen hängen, das dort baumelt und einen unverkennbaren, stechenden Gestank verbreitet. Es riecht nach fauligem Fisch, Seetang, Salz, fasrigem Fleisch, Kalkfelsen und der allgegenwärtigen, über der ganzen Insel wabernden Verwesung. Manchmal schleichen die hungrigen Menschen heimlich in die Schuppen, um Fische anzuknabbern, man erkennt noch Jahre später all die Zahnabdrücke und Bissspuren, die sich deutlich von jenen der Ratten und Marder unterscheiden.
Einige Schuppen haben Keller, sie sind voller Luken und schmaler Treppen, die in die Dunkelheit führen, in die im nackten Erdreich angelegten Gewölbe, wo weitere Fische, Körper und Vorräte auf ihren Verzehr warten. Was immer man auch glaubt, Fisch- und Verwesungsgeruch sinkt nach unten, ganz nach unten, in den Kellern und Gängen atmet man Kiemen, Gräten, Flossen und Spinnenhaar; ab und an hört man sogar das Meer rauschen oder jemanden um sein Leben betteln, man dürfte das alles gar nicht erzählen. Die Schuppen und Verschläge sind aus Fichtenholz gezimmert, unbehauene Stämme über und aufeinandergeschlichtet, sie ragen in die Höhe, sie stützen das bröckelnde, nicht zur Ruhe kommende Erdreich. Manchmal fragen sich Neuankömmlinge, wie das alles zusammenhält, warum es nicht sofort in sich zusammenfällt, es gibt hierfür keine einzige halbwegs plausible Erklärung.
Die...
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