Schweitzer Fachinformationen
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»Mom?«, rufe ich, als ich von der Arbeit nach Hause komme, die Haustür hinter mir zuziehe und meinen Schlüssel auf dem kleinen Tisch am Eingang ablege. »Ich bin zu Hause!«
»Sloanie? Bist du's?«
Das ist mein echter Name, Sloane. Sloanie, Sloanie, schafft es nie. Und ja, ich lebe noch bei meiner Mutter. Ich weiß, noch so eine Glanzleistung. Aber ich arbeite daran. Ehrlich wahr. Hand aufs Herz.
»Ja, ich bin's, Mom«, rufe ich zurück. Ich ziehe die Schuhe aus, lasse meine Handtasche daneben fallen und gehe den kurzen Flur entlang zum Wohnzimmer. Sie liegt auf ihrem Fernsehsessel und schaut fern, trägt einen hellblauen Jogginganzug und dicke Wollsocken wie eine Figur aus einer Siebziger-Jahre-Sitcom. Ich durchquere den Raum und beuge mich zu ihr hinunter, um ihr einen Kuss auf die Wange zu drücken, und schiele zum Bildschirm hinüber. Es läuft Mord ist ihr Hobby, ihre Lieblingsserie. Vermutlich hat sie diese Folge schon mindestens dreimal gesehen.
»Wie war's bei der Arbeit?«, fragt sie und senkt die Lautstärke von trommelfellschädigend auf ohrenbetäubend. Sie blinzelt zu mir hoch und sieht weit älter aus, als sie ist, mit ihrem kurzen, fast komplett ergrauten drahtigen Haar und den tiefen Falten auf der Stirn, um die Augen und den Mund herum.
»Okay«, sage ich achselzuckend. »Ich mach dann mal Abendessen. Hast du Hunger?«
Sie nickt, richtet die Fernbedienung wieder auf den Fernseher und stellt den Ton erneut auf Tinnitus-Lautstärke. Es wundert mich, dass sich die Nachbarn noch nicht beschwert haben.
Sowohl das Sehvermögen als auch das Gehör meiner Mutter haben nachgelassen. Die jahrelange körperliche Arbeit als Putzkraft hat ihre Gesundheit ruiniert, so dass sie einen krummen, schmerzenden Rücken und steife Gelenke hat. Seit sie dreißig ist, leidet sie an rheumatoider Arthritis, die sie mit Medikamenten im Griff hält, doch die Krankheit hat ihren Tribut gefordert und dafür gesorgt, dass sie sich an den meisten Tagen kaum bewegen, geschweige denn arbeiten kann.
So verbringt sie ihre Tage auf einem verschlissenen Cordsessel in einer Ecke des Wohnzimmers, ein Heizkissen im Rücken, die Beine vor sich ausgestreckt, und starrt durch verschmierte Brillengläser auf den Fernseher, wo Wiederholungen von Unsolved Mysteries und Forensic Files über die Mattscheibe flimmern. Dazu trinkt sie literweise überzuckerten, lauwarmen Kaffee, gefolgt von einem Whiskey um fünf Uhr und einer weiteren Tasse Kaffee vor dem Schlafengehen, diesmal entkoffeiniert. Es war nicht mein Plan, noch mit Mitte dreißig bei meiner Mutter zu wohnen, aber so kann ich zumindest ein Auge auf sie haben. Solange ich mich erinnern kann, kümmere ich mich nun schon um sie, so dass es inzwischen zur Gewohnheit geworden ist.
Ich gehe in die Küche und mache den Kühlschrank auf. Darin stehen Reste des Brathähnchens, das ich gestern Abend gekocht habe und das ich nun aufwärme und in einer Schüssel zerpflücke, zusammen mit einer Handvoll geschnittener Gurken und Karotten und ein wenig Romana-Salat. Ein bescheidener Versuch, dem chinesischen Takeaway-Essen etwas entgegenzusetzen, das meine Mutter sich oft zum Mittag bestellt. Ich teile den Salat zwischen meinem Teller und dem meiner Mutter auf und gehe dann zurück ins Wohnzimmer.
»Danke, Sloanie«, sagt meine Mom und nimmt den Teller entgegen. Dann schaltet sie ihre Serie stumm. Sie hört mir gerne zu, wie ich von meinem Tag erzähle, während wir gemeinsam essen.
»Heute habe ich Dollys Nägel gemacht«, sage ich und beiße in eine Karotte.
Inzwischen arbeite ich seit fast einem Jahr im Beautysalon Rose & Honey. Eines Nachmittags sah ich im Fenster den Aushang Aushilfe gesucht und ging hinein. Ich war bestimmt schon hundert Mal an der Ladenfront mit der schwarz-weißen Markise vorbeigekommen, aber nie reingegangen. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits einige Monate arbeitslos. Ich fand nirgends eine Anstellung, zumindest keine, die meiner Qualifikation entsprach. Ich schaffte es mitunter durch ein paar Bewerbungsrunden, doch letztlich bekam ich nie ein Jobangebot. Natürlich wusste ich auch warum, insofern war es nicht überraschend, aber das machte es nicht einfacher. Nagelpflege klang nach einer vernünftigen Alternative, nach etwas, das mir liegen könnte, wenn ich es ausprobierte.
Die Frau am Empfang sah erfreut aus, als ich mich bewarb. Energisch drückte sie meine Hand und stellte sich als Lena vor, die Inhaberin des Salons. Lena war eine korpulente Osteuropäerin mit makellosem Make-up, mit Kajalstift umrandeten Augen, langen angeklebten Wimpern, Porzellanhaut und roten Schmolllippen. Sie hatte den Laden vor ein paar Jahren eröffnet, wie sie mir mit starkem osteuropäischem Akzent erzählte, und wollte nun eine weitere Nagelpflegerin einstellen, jemand Verlässlichen, jemanden, auf den sie zählen konnte. Wieso nicht, dachte ich, wie schwer kann es schon sein?
Als Lena fragte, ob ich eine Lizenz als Kosmetikerin hätte, bejahte ich und erklärte, ich hätte erst kürzlich meine Prüfung bestanden. Sie lud mich zu einem praktischen Bewerbungsgespräch ein, bei dem ich, wie sie mir erklärte, meine Kenntnisse unter Beweis stellen und ihr eine Maniküre verpassen sollte. Die darauffolgende Woche verbrachte ich damit, YouTube-Tutorials zu schauen und das Video alle paar Minuten anzuhalten, um an meiner Mutter zu üben, wie man feilt und lackiert. Ich prägte mir sämtliche Schritte ein, was nicht schwer war - Waschen, Schneiden, Feilen, Polieren, Nagelhautpflege, Peeling, Unterlack, Farbe, Überlack -, und tauchte zum vereinbarten Termin mit meinen eigenen Maniküre-Tools auf, die ich bei einem örtlichen Beauty-Zubehörladen mit einem Fünfundzwanzig-Prozent-Rabattcoupon gekauft hatte. Als ich fertig war, betrachtete Lena ihre Nägel, lächelte und bot mir den Job an.
»Du hast gute Hände«, sagte sie und nickte anerkennend. Ich sah hinunter. Neben Lenas Händen wirkten sie noch größer als sonst. Wer hätte gedacht, dass sich meine Pranken mal als Vorteil erweisen würden? Der Stundenlohn betrug einundzwanzig Dollar, fuhr sie fort, plus mindestens tausend Dollar monatlich extra an Trinkgeld, manchmal mehr; ihre Kundinnen waren großzügig, erklärte Lena und spielte auf die Gutverdiener in Cobble Hill an. Das war geringfügig weniger, als was ich bei meiner letzten Anstellung verdient hatte, selbst mit dem Trinkgeld, aber wie sagt man so schön: Arme Leute dürfen nicht wählerisch sein.
Ich nahm das Angebot an und überreichte ihr eine gefälschte Kosmetikerinnenlizenz, die ich online von irgendeinem Typen für fünfzig Kröten per PayPal gekauft hatte. Lena hatte, abgelenkt durch das klingelnde Telefon, nur einen kurzen Blick darauf geworfen und mir gesagt, ich könne am nächsten Tag anfangen.
Es ist ein angenehmer, unkomplizierter Job, bei dem man nicht viel nachdenken muss, und die meisten Kundinnen lassen mindestens zwanzig, manchmal dreißig Prozent Trinkgeld da. Zusammen mit der Erwerbsminderungsrente, die meine Mom kassiert, haben wir genug für unsere Miete und unsere Rechnungen, aber es ist nicht annähernd genug, um mich nicht nach etwas Besserem - nach mehr - zu sehnen oder mich jeden Morgen vor dem Wecker zu fürchten, dessen durchdringendes Klingeln meine Nerven strapaziert.
»Und wie geht es ihr?«, fragt meine Mutter und meint Dolly - eine Hommage an die Queen des Country, Dolly Parton. Ich denke mir nämlich gern Spitznamen für meine Stammkundinnen aus; Frauen, die ich Woche für Woche sehe und inzwischen dank ihrer laut geführten Telefonate oder ihrer ausgiebigen Tratschereien gut kenne. Dolly Parton heißt eigentlich Laura Hoffman, aber beide haben blonde Haare und riesige Brüste. Laura hat sogar einen leichten Südstaaten-Tonfall, obwohl sie in Texas aufgewachsen ist, nicht in Tennessee wie Dolly. Sie ist aus Dallas nach New York gezogen, nachdem sie ihren Mann bei einer Ölexpedition kennengelernt hat - oder was auch immer Tycoons machen, wenn sie auf Geschäftsreise gehen.
»Ihre Stieftochter will den Lamborghini«, sage ich.
Lauras - sehr alter und sehr vermögender - Ehemann ist vor zwei Jahren gestorben. Seither befindet sie sich in einem Rechtsstreit mit seinen Kindern und muss um jeden Cent kämpfen, den der alte Kauz hinterlassen hat. Was nicht wenige sind. Laura hält mich bei ihren wöchentlichen Terminen über die neuesten Entwicklungen auf dem Laufenden.
Sie lebt in einem Penthouse in Manhattan - an der Upper East Side, wo sonst -, doch sie hat einen Sohn aus voriger Ehe in Brooklyn Heights, ein paar Straßen vom Rose & Honey entfernt, so dass sie an den Tagen bei uns vorbeikommt, wenn sie ihn zum Mittagessen trifft. Alle Köpfe drehen sich nach ihr um, wenn sie auftaucht, einen solchen Kontrast bildet sie zu unserer üblichen Brooklyn-Klientel.
»Aber«, erzähle ich weiter, »Laura sagt, sie würde den Wagen eher an einen Ersatzteilhändler verscherbeln, als ihn dieser verzogenen Göre zu überlassen. Ihre Worte, nicht meine.«
»Wo will man denn in Manhattan einen Lamborghini parken?«, fragt meine Mutter. Sie klingt aufrichtig neugierig.
Ich zucke mit den Achseln. »Sie hat was von einer...
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