Schweitzer Fachinformationen
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Das Erwachen auf dem Schiff nach wochenlanger Überfahrt glich dem Auftauchen eines Kugelfischs aus schwarzen Meeresgründen in leuchtende Korallenriffe. In den ersten Stunden des Morgens legte Anselm im Hafen von Madagaskar an. Seine ersten Schritte auf festem Boden waren ein ungewohntes Gefühl, ihm schwindelte. Die Erde unter seinen Füßen wankte und das Meer stand still. Ein trockener, auf der Haut brennender Wind wehte ihm entgegen, er roch nach Zimt und Rhabarber. Die Bäume, die im gleißenden Licht hätten Schatten spenden sollen, sahen aus wie Knochen, vertrocknete Blätter baumelten wie Reste verwesten Fleisches im Luftstrom. Die Straßen waren sandgefüllte Mulden und die Häuser brüchige Lehmwürfel, gedeckt von gelbem Bast.
Als er sich umblickte, sah er, wie Kinder in zerschlissenen Leinen auf ihn zuliefen; sie umringten ihn, berührten ihn, nahmen ihm seine Koffer ab, und so sehr er sie auch halten wollte, sie fegten mit diesen davon. Ihre kleinen Hände krallten sich an seine Taschen. Vielleicht träumten sie von Puppen mit goldenen Haaren, bunten Windrädern, Spieluhren mit Glocken, oder einem aufziehbaren Ringelspiel mit Zinnpferdchen.
Er ließ sich treiben, folgte den Kindern, blickte sich um, Fremdes strömte auf ihn zu. Klumpen weißer Steine, die von Männern in Säcke gepackt wurden, um dann über kleine Baumstämme auf schmale, schaukelnde Pirogen getragen zu werden. Haufen weißer Sterne, jene des Meeres, lagerten vor feuchten Wänden havarierter Einbäume. Und noch einmal da und dort Kuppen von weißen, grob geschliffenen Oktaedern - ob es sich um Früchte handelte, fragte er sich, die hier zur Verschiffung vorbereitet wurden? Mit Tauen zusammengebundene, störrische Rinder, die gemeinsam in die eine und dann in die andere Richtung schwankten, standen kurz vor ihrer Verladung. Dahinter hunderte mit den Wellen pendelnde Masten, auf welchen große und kleine Segel loderten. Da und dort hölzerne Tröge, die bis obenhin mit orange glänzenden Spalten gefüllt waren, einen süßlichen Duft verströmten und von auf der Erde hockenden Frauen verkauft wurden, die dasaßen, als wären sie nie woanders gewesen. Wohin er auch sah, die Umgebung war von einem trockenen, schlammigen Braun, die Oberflächen geprägt von Rissen. Risse in den Straßen, den Häusern, den Bäumen, rissig auch die Lippen der Erwachsenen. Zerbrochene Skelette vertrockneter Wale, durchsichtige, noch glitschige Körper lebloser Quallen und Gerippe toter Fische bildeten einen Teppich auf dem sandigen Untergrund der Insel. Alle redeten, riefen durcheinander und der Wind blies weiter in Anselms Haare, sie flatterten und peitschten die Luft.
Der französische Reiseführer, der ihn hätte abholen sollen, war nicht zu sehen. Die von einem englischen Handelsattaché ausgestellten Einreisepapiere schien er nicht zu brauchen. Die Kinder stoben mit seinem Gepäck davon, er konnte nichts anderes tun als ihnen zu folgen. »Bleibt stehen!«, rief er, sie hörten ihn nicht. Ins Landesinnere vorzudringen, ohne seine Einreise offiziell bestätigt zu haben, hielt er für unklug, doch keiner nahm Notiz von ihm. Auf der anderen Seite des Hafens sah er eine Ansammlung von Männern, die einer Militärbrigade glich, und er hörte Stimmen befehlenden Klangs, neben Geräuschen aufeinanderschlagenden Metalls und dem dumpfen Schaben aneinander reibender Ketten. Vielleicht war es doch besser, ungesehen einzureisen als umgehend wieder ausgewiesen zu werden, dachte er und verzichtete auf die weitere Suche nach seinem Begleiter. Die zarten Kinder mit ihren wirbelnden Haaren, ballrunden Bäuchen und glitzernd schwarzen Augen sausten weiter mit seinen schweren Koffern davon, so schnell, als würden sie rollen, sie trollten sich und Anselm wusste nicht, wohin. Einerseits hatte er große Probleme bei der Einreise erwartet, obwohl er im Besitz eines Empfehlungsschreibens war, welches ein Abgeordneter für ihn verfasst hatte, der von sich behauptete, einer der wenigen Europäer zu sein, den die Königin der Insel, die ansonsten bekannt war für ihre gnadenlose Härte und Ungerechtigkeit, in ihrem Land duldete. Nun aber drang er ohne Registrierung und Kontrolle in das Eiland ein. Andererseits hatte er insgeheim doch auf einen würdigen Empfang seiner Person gehofft und nun war nicht einmal der von ihm bestellte Reiseführer anwesend, welcher ihn die ganze Expedition lang begleiten und über die Insel hätte leiten sollen, bis zu den Stellen, an welchen er zu finden vermutete, wonach er suchte. In Wirklichkeit aber war er empört. Wie lange er sich um dieses Empfehlungsschreiben bemüht, wie viele Briefe er dafür geschrieben hatte, mit detailliertesten Erklärungen seines beinahe existentiell notwendigen Anliegens - und das alles, um jetzt dessen völlige Überflüssigkeit festzustellen. Kopfschüttelnd strich er sich durchs Haar, es fühlte sich feucht an, seine Stirn war nass. Anselm erinnerte sich, während der langen Überfahrt von einem kleinen Empfang geträumt zu haben, den man zu Ehren seiner Ankunft auf der Insel für ihn vorbereitet hatte. In seiner Vorstellung sah er sich lächelnd, ob der Verehrung ein wenig zögerlich, letztlich dann doch mit ernster Miene das für ihn vorbereitete Blumenkränzchen aufsetzen und hörte sich in einer kleinen Ansprache verkünden, wonach er suchte. Dann zeigte er seine Zeichnungen, breitete seine selbstgezeichnete Landkarte vor dem kleinen Komitee aus, nahm mögliche Ratschläge zu Unterkünften und Örtlichkeiten entgegen, notierte - und jetzt? Nichts, niemand war da, keiner schien von ihm zu wissen. Wer war er schon, dachte er, so weit weg von zu Hause, wo sich niemand für seinen Namen interessierte, wo dieser keinerlei Assoziationen hervorrief. Er wunderte sich über die unverständliche Sprache, kannte keine Wege und niemand war da, der ihn führte. Er hätte schreien mögen vor Staunen.
Zumindest blieben ihm die vielen erhebenden Momente der Vorfreude während der Überfahrt, dachte er und schüttelte wieder, über sich selbst lachend, den Kopf. Er würde auch allein finden, was er suchte, er würde suchen, um zu finden und dann bei seiner Rückkehr im Amsterdamer Hafen empfangen werden, so wie er sich das vorgestellt hatte, das würde ihm auch mehr bedeuten als jegliche Heuchelei, die man ihm hier vielleicht entgegengebracht hätte, ohne zu wissen, wer er eigentlich war und worum es ihm ging. Die Kinder zogen ihn mit sich, sie freuten sich, strahlten, als sei er ein alter Freund, den sie totgeglaubt und nach Jahren zum ersten Mal wiedergesehen hatten. Sie sprangen wie Bälle, wirbelten wie Ballons und ihre kleinen Hände waren Zangen, die sich in seine Koffer verbissen hatten und diese wie wertvolle Tongefäße bewegten, als seien sie noch zu heiß, um abgestellt zu werden. Von ihnen fühlte er sich empfangen, als hätten sie ihn erwartet, anstelle des offiziellen Komitees.
Vorbei lief er an Hütten aus Lehm, vorbei an vor Feuerstellen sitzenden Menschengruppen, die entweder vor sich hin redeten, dann verstummten und ihn anstarrten, oder scheinbar abwesend die Flammen beobachteten, die im Wind einmal hochschnellten, sich aufbauschten, um sich dann flach knisternd querzulegen, beinahe zu erlöschen, um sogleich wieder zu erstehen und sich zu mehren. Je mehr die Augen sich im glühenden Tanz verloren, dachte er, desto grenzenloser verschwamm das durchsichtige Flackerspiel mit allem, was es umgab, plötzlich leuchtete die ganze vertrocknete Umgebung im orangen Schimmern der kleinen Lichtfransen. Die Menschen vor ihm bewegten sich gleichmäßig, obwohl jeder in eine andere Richtung lief, denn wenn er sich umdrehte, dann sah er eine Menge hinter sich, rhythmisch und fließend, als schlüge jemand einen sanften Takt, der Wind vielleicht, der sie wie Wasser vor sich hertrieb. Immer wieder versuchte er, die Kinder einzuholen und ihnen seine Koffer zu entreißen, doch sie waren so flink und wendig, kannten jeden Winkel und jede Ecke, dass sie trotz seines schweren Gepäcks viel schneller waren als er selbst. Fast war ihm, als hätten sich seine Koffer auf die Kinder gesetzt, wie Muscheln auf Einsiedlerkrebse, um endlich voranzukommen.
Teile toter Tiere schlackerten an Haken auf Hüttendächern aus Stroh, Affenköpfe, Lemurenschwänze oder Echsenfratzen mit aufgerissenen Mäulern, verfaulte Zähne ragten in alle Richtungen, verdorrte Zungen hingen verdreht aus ihren Höhlen, Eier, groß wie Melonen, lagen auf Verkaufstresen, vielleicht jene der hier heimischen Moorenten, dachte Anselm, während es weiterging, entlang einer sandigen Straße, die kein Ende zu haben schien. Er durfte den Anschluss nicht verlieren. Der Wind drehte, wurde stärker, versetzte die leichten, sonst unbeweglichen Dinge in einen Zustand des angebundenen Fliegens. Fast nichts war mehr unbewegt. Eine blühende Insel hatte er erwartet und jetzt, der Boden rissig, zerfurcht wie die Rinde einer alten Föhre, die Straße ein ausgetrocknetes Flussbett, in welchem Menschen trieben, trunken und träumend. Vor Trockenheit klappernde Palmen, die beim nächsten Windstoß zu brechen drohten. War dies Madagaskar?
Wenn der Wind die Richtung wechselte, wechselte...
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