Schweitzer Fachinformationen
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»Was ist los in Eritrea? Du warst doch schon dort.« Immer wieder die gleiche Frage von Bekannten, politisch Interessierten oder Medienschaffenden. Eritreas Regierung und die von ihr verfolgte Politik stehen unter Beschuss. Zehntausende meist junge Eritreer und Eritreerinnen haben das Land verlassen und suchen in Europa und Nordamerika ein anderes Leben. Als Gründe nennen sie die Pflicht, einen oft jahrelangen, unbefristeten National Service leisten zu müssen, in ihrer Religionsausübung eingeschränkt zu sein sowie keine berufliche und wirtschaftliche Perspektive zu haben. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder der UN-Menschenrechtsrat kritisieren politische Verfolgung und das Fehlen demokratischer Rechte. Weshalb wurde eine moderne, demokratische Verfassung ausgearbeitet, aber nie in Kraft gesetzt? Und warum wurde die Pressefreiheit aufgehoben? Warum sitzen ehemalige Führungskräfte nun im Gefängnis? Und das in einem Land, das einst als Hoffnungsträger galt. Ein Land, das in einem jahrzehntelangen Befreiungskampf Exemplarisches geleistet hatte.
Einzelne westliche Regierungen kritisieren die mangelnde Kooperationsbereitschaft Eritreas in internationalen Belangen; Entwicklungshilfeorganisationen sind düpiert, weil Eritrea deren Arbeit stark reguliert. Die Medien zeichnen unterschiedliche Bilder des Landes. Die Fundamentalkritik an der Menschenrechtslage kontrastiert mit anerkennenden Berichten über Erreichtes: die Ernährungssicherheit, der Aufbau des Gesundheitswesens, die Bildungspolitik, das umsichtige Vorgehen beim Rohstoffabbau. Doch die Berichte vermögen kein umfassendes Bild zu zeichnen.
Wer sich mit dem Land oder den nach Europa geflüchteten Eritreerinnen und Eritreern befasst, ist verunsichert und sucht nach Antworten auf die drängenden Fragen. »Was ist los in Eritrea? Du warst doch schon dort.« Ja, ich war mehrfach in Eritrea. Seit 1970 interessiere ich mich für die dortige Entwicklung, habe ich mich intensiv mit Land und Leuten befasst. Von 1972 an korrespondierte ich mit der eritreischen Befreiungsbewegung, später auch mit äthiopischen Oppositionsparteien und Befreiungsbewegungen. 1973, in der Zeit der Hungerrevolten und des Sturzes von Kaiser Haile Selassie, beteiligte ich mich an der Herausgabe einer ersten kleinen Publikation: Äthiopien - Eritrea: Der Kampf der Völker gegen Hunger, Feudalismus und Imperialismus. Das war die Zeit meiner universitären Ausbildung - und die Zeit der Post-68er-Drittwelt-Solidaritätsarbeit, in der ich mich während all der nachfolgenden Jahre weiter engagierte.
1987 bereiste ich auf Einladung der Eritreischen Volksbefreiungsfront (EPLF) während mehreren Wochen das Basisgebiet der Befreiungsfront in den Sahelbergen. In jenes Gebiet, in das sich die Guerilla während des Strategischen Rückzugs 1978 zurückgezogen hatte, gelangte ich vom Sudan über die »Never-kneel-down-Road«, eine der beiden von der Front angelegten Nachschublinien. Einmal in den Sahelbergen, konnten wir nur noch nachts reisen. Tagsüber beherrschte die äthiopische Luftwaffe den meist wolkenlosen eritreischen Himmel, nachts jedoch bewegten sich Hunderte von Lastwagen, Pickups, Panzern und Kamelen im Mondschein in der meist kargen Landschaft. Tagsüber standen Besuche und Gespräche auf dem Programm, so etwa in Orotta, dem Zentralspital im Basisgebiet, das in einem steinigen, engen Talboden lag und mit über einem Kilometer Ausdehnung das weltweit wohl längste Krankenhaus war. Getarnt unter mächtigen Akazienbäumen, eingegraben in den Boden und in die Bergflanken, war alles vorhanden: Krankenstationen, Gebärsäle, Operationsräume, in denen sogar Herzoperationen durchgeführt wurden, eine kleine Fabrik, in der ein paar Dutzend Basismedikamente hergestellt wurden. Hier sah ich die Kriegsversehrten, die Opfer von Napalmverbrennungen, die unter möglichst sterilen Bedingungen auf Genesung hofften. Ich besuchte die Radiostation, die Druckerei, Garagen, Schlossereien und Schreinereien, sah versteckte Tankstellen und Einkaufsläden, in denen die Bevölkerung das Nötigste kaufen konnte. Ich besuchte die unterirdische Fabrik, wo aus Plastikgranulat die »Fighter Sandals« gepresst wurden, und nahm gerührt ein Paar in Größe 41 als Geschenk an. Ich besuchte die Fabrik für Hygienebinden - ein Drittel der Mitglieder der Front waren Frauen. Ich besuchte Schulen, von der Primarschule bis zum Technischen College von Wina, und das Solomona-Waisenlager. Ich sah, wie unter schwierigsten Bedingungen eine Verwaltung aufgebaut worden war, die für die Mitglieder der Front wie auch für die Zivilbevölkerung eine Grundversorgung sicherstellte, und dies weitgehend ohne Hilfe ausländischer Staaten.
Ein paar Tagreisen später an der Front von Nakfa, jenem Provinzhauptort, der von der äthiopischen Luftwaffe in Grund und Boden gebombt worden war: Nur das Minarett der Moschee stand noch, das zum Symbol des Widerstands geworden war. Zwischen all den zerstörten Häusern und Ställen: ein Feld mit Tomaten und Auberginen, angelegt von Verantwortlichen der Landwirtschaftsabteilung, bestimmt für die Selbstversorgung. Nachts dann im unterirdischen Guesthouse: An Schlaf war aufgrund des Beschusses durch die äthiopische Artillerie nicht zu denken. »Keine Sorge, das ist Routine, und sie wissen nicht, wo wir sind«, meinte unser eritreischer Begleiter. Am Tag in den vordersten Schützengräben, oben auf der Bergkrete. Zwei-, dreihundert Meter weiter unten im Tal die äthiopischen Stellungen. Vor dem Schützengraben die verwesten Leichen äthiopischer Soldaten, die zum Frontalangriff bergaufwärts befohlen worden waren. Bauernsöhne, deren Mütter, Väter, Frauen und Kinder wohl nie Genaueres über die Umstände ihres Todes erfahren würden.
Über diese spektakuläre Reise berichtete ich in mehreren Tageszeitungen, Zeitschriften und an Veranstaltungen.
Vier Jahre später, 1991, war Äthiopien, mit der größten Armee Subsahara-Afrikas, geschlagen. Der Befreiungskampf war nach dreißig Jahren zu Ende. Ein paar Wochen nach dem Einzug der Eritreischen Volksbefreiungsfront in Asmara besuchte ich das Land erneut. Es herrschte Hochstimmung, die Leute waren optimistisch. Die vom Krieg in Mitleidenschaft gezogene Infrastruktur - die Strom- und Wasserversorgung sowie das Transportwesen in Form der Überlandbusse - funktionierte ansatzweise. Die Melotti-Brauerei braute wieder Bier. Das Firmenschild der lokalen Niederlassung der Ethiopian Airways wurde mit Eritrean Airways überpinselt. Ich reiste in die Hafenstadt Massawa am Roten Meer, wo die Folgen der Luftangriffe unübersehbar waren, nach Keren, wo die Silberschmiede auf dem Markt ihre Arbeit wie eh und je verrichteten. Auf der Fahrt nach Dekemhare suchte ich einen idealen Standort für ein paar Panoramafotos . Panik beim Begleiter: Hier liegen Minen!
Ausgerüstet mit einem Passierschein der EPLF, bestieg ich den Überlandbus und fuhr nach Zalambessa an der äthiopischen Grenze, überquerte diese zu Fuß und fand nach langem Warten am nächsten Tag eine Fahrgelegenheit nach Mekelle, der Hauptstadt von Tigray, wo ich Gast der Relief Society of Tigray (REST) war. Ich durchreiste als einer der ersten Ausländer die jahrelang hermetisch abgeschottete äthiopische Nordprovinz, in der die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) - damals eine Verbündete der EPLF - aktiv gewesen war und die nun nach dem Zusammenbruch der äthiopischen Militärjunta die Macht ausübte. Der Passierschein öffnete mir alle Straßensperren bis in die äthiopische Hauptstadt, wo ich eine Woche später eintraf.
Zwei Jahre später, im April 1993, wurde in ganz Eritrea das Referendum über die Unabhängigkeit des Landes abgehalten. Ich nahm als offizieller Beobachter daran teil und besuchte Wahllokale in Asmara, Nefasit und Massawa. Die Verkündung des Ergebnisses - 98,8 Prozent aller Stimmen für die Unabhängigkeit des Landes - erlebte ich in Asmara. Die ganze Stadt feierte die Nacht durch, die Independence Avenue wurde spontan zu einer riesigen Tanzfläche - Emotionen pur.
1998 das Unbegreifliche: der Krieg zwischen Äthiopien und Eritrea. Auslöser war der umstrittene Grenzverlauf in der Ebene von Badme im Südwesten Eritreas. Doch bereits zuvor hatte sich der Himmel zwischen den beiden Staaten verdunkelt: Revanchistische Forderungen nach einem direkten Meereszugang Äthiopiens durch Abtrennung der eritreischen Hafenstadt Asab hatten ebenso zur Eskalation beigetragen wie die Neuorganisation des bisherigen gemeinsamen Wirtschaftsraums und die Einführung einer eigenen eritreischen Währung. Unmittelbar nach dem Waffenstillstand besuchte ich im Herbst 2000 erneut das Land. Die Reise führte von Asmara nach Nakfa - ein Wiedersehen nach dreizehn Jahren. Die Gegend war nicht wiederzuerkennen: Ein neues Verwaltungszentrum war entstanden, eine großzügige Anlage rund um einen Verkehrskreisel enormen Ausmaßes, an dem wohl jeder europäische Stadtplaner seine Freude hätte. Das unterirdische ehemalige Gästehaus wurde nun von einer eritreischen...
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