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Was man wirklich über Klima-Kipppunkte wissen muss
Überschwemmungen, Hitzewellen, Dürren, Waldbrände - die Auswirkungen des immer extremeren Wetters sind auch hierzulande zunehmend spürbar. Aber all das ist erst der Anfang: Weil das 1,5-Grad-Limit nicht mehr zu halten ist und die Erderhitzung fortschreitet, drohen in naher Zukunft im Klimasystem mehrere sogenannte Kipppunkte überschritten zu werden. Die Folgen wären einschneidend, auch für Deutschland.
Benjamin von Brackel und Toralf Staud liefern, was man über Kipppunkte wirklich wissen muss. Sie schildern die jahrzehntelange Erforschung der Kipppunkte, ihre möglichen Folgen und die Kontroversen der Fachwelt - eine der größten Detektivgeschichten unserer Zeit, deren Ausgang über nichts weniger entscheidet als über das Schicksal unserer Zivilisation. Die Autoren nehmen uns mit auf eine Weltreise zu den wichtigsten Kippelementen im Erdsystem: von den eisigen Landschaften der Pole über die Warmwasserheizung Europas bis zum Amazonas-Regenwald. Sie erklären, wie unsere Erde - und auch die Klimawissenschaft - funktioniert.
Am Ende weiß man, welche Kipppunkte einem tatsächlich Sorge bereiten sollten und welche weniger. Nicht zuletzt zeigt das Buch positive Kipppunkte in Technologie und Gesellschaft auf. Diese könnten exponentielles Wachstum beim Klimaschutz ermöglichen und uns noch davor bewahren, in ein chaotisches Klima abzustürzen. Ein dramatisches Wettrennen gegen die Zeit
"Ein wichtiges Buch für alle, die Bescheid wissen wollen." Dr. Eckart von Hirschhausen
Einleitung Ein unverantwortbares Risiko
Wir alle sind es gewohnt, dass sich Ursache und Wirkung von Veränderungen proportional entwickeln. Dreht man den Wasserhahn ein bisschen weiter auf, kommt ein bisschen mehr Wasser heraus. Tritt man ein bisschen schneller in die Pedale, fährt das Rad ein bisschen schneller. Niemand aber erwartet, dass das Wasser aus dem Hahn nach einer weiteren Drehung plötzlich verdampft. Oder das Fahrrad nach einem minimal stärkeren Antritt unaufhaltsam nach vorn schießt.
Dass in manchen Fällen eine kleine Veränderung eine große Wirkung haben kann und sich auf einmal alles ändert, wie es der New Yorker Autor Malcolm Gladwell in seinem Weltbestseller Tipping Point aus dem Jahr 2000 beschrieben hat, ist für den Menschen nur schwer zu begreifen. Natürlich, auch im Alltag gibt es Kipppunkte. Schiebt man einen Teller langsam über die Tischkante, passiert erst lange Zeit nichts. Irgendwann aber kippt er, fällt runter, zerbricht. Doch selbst dann kann man ihn meist wieder kleben. Beim Klima ist das nicht unbedingt so.
Das erste Mal tauchte der Begriff »Kipppunkt« 1871 in einem Buch des britischen Autors James Burnley auf. Darin beschrieb er, wie in einer Gießerei in der Grafschaft Yorkshire in Nordengland ein Eisenbahnwagen, gefüllt mit »erstklassiger Kohle«, zum Entladen zum Kippen gebracht wurde.[1] Heute sind Kipppunkte in aller Munde - aber nicht, um die Anfänge des Industriezeitalters zu beschreiben, sondern dessen letzte Konsequenz.
Die Klimaforschung hat den Begriff erst übernommen, dann weiterentwickelt und ihn in Abertausenden von Studien verwendet und beschrieben, erstaunlicherweise ohne sich bis heute auf eine einheitliche Definition geeinigt zu haben. Eine zumindest gewinnt mehr und mehr Anhänger, und an ihr soll sich auch dieses Buch orientieren.
Am besten werfen Sie dafür noch einmal einen Blick aufs Titelbild. Lehnt man sich in einem Stuhl nach hinten, immer weiter, dann kommt irgendwann der Punkt, an dem er sich in einem Schwebezustand befindet. Egal, wie schwer die Person darauf ist - nun genügt ein Stups, damit der Stuhl nach hinten kippt. Er knallt auf den Boden, mitsamt einem selbst.
Genauso verhalten sich bestimmte Elemente im Erdsystem, dieser riesigen, komplexen Maschine, von der auch die Menschheit abhängt. Ob tropische Korallenriffe oder der Amazonas-Regenwald, die Eisschilde Grönlands und der Westantarktis, die Atlantische Umwälzzirkulation oder Permafrostböden - diese und einige andere Elemente im System Erde verändern sich seit Jahrzehnten, weil der Mensch immer mehr Treibhausgase in die Atmosphäre pumpt, weil in der Folge die Temperaturen steigen und der Salzgehalt in bestimmten Ozeangegenden fällt. Aber lange blieben sie stabil. Ist jedoch ein bestimmter Punkt überschritten, werden Prozesse angestoßen, die ein Element des Erdsystems nach dem anderen in einen neuen Zustand kippen. Häufig abrupt, unumkehrbar und mit einer sich selbst verstärkenden Dynamik (mehr dazu in Kapitel 4).
Einst hielt die Forschung Kipppunkte im Klimasystem für wenig relevant - doch die Warnungen werden zunehmend sorgenvoll
Lange galten solche Kippereignisse in der Klimawissenschaft als zwar möglich, ihr tatsächliches Eintreten jedoch als eher hypothetische Angelegenheit. Diese Sicht hat sich inzwischen gewandelt. Um das nachzuvollziehen, empfiehlt sich ein Blick in die jüngsten Berichte des Weltklimarats IPCC. Alle sechs bis sieben Jahre fassen darin Hunderte von Fachleuten den Wissensstand zum Klimawandel zusammen. Weil sich alle Beteiligten, auch die skeptischeren, einigen müssen, sind IPCC-Reports konservative, zurückhaltende Dokumente.
Umso bemerkenswerter ist die Veränderung, die sich über die vergangenen Berichte vollzog.[2] Im Dritten Sachstandsreport aus dem Jahre 2001 wurden die »großskaligen Diskontinuitäten« von Klimafolgen, wie man Kipppunkte damals noch nannte, zwar als einer von mehreren »Gründen zur Besorgnis« aufgeführt, aber bis zu einer Erderwärmung um vier Grad Celsius gegenüber vorindustriellem Niveau nicht für relevant erachtet.
Als 2013 der Fünfte Sachstandsbericht erschien, sah die Bewertung schon deutlich anders aus. Das Risiko, Kipppunkte zu überschreiten, wurde nun als »moderat« bezeichnet für eine Erderwärmung bis rund ein Grad Celsius. Weiter hieß es: »Die Risiken nehmen überproportional zu, wenn die Temperaturen um 1 bis 2 Grad Celsius steigen, und werden hoch bei mehr als 3 Grad.«
Der Sechste und aktuellste IPCC-Report, der zwischen 2021 und 2023 veröffentlicht wurde, schätzte für die Gegenwart das Risiko zwar immer noch als »moderat« ein. Für eine 1,5 bis 2,5 Grad Celsius wärmere Welt aber bereits als »hoch« - und für eine rund 2,5 Grad wärmere Welt sogar als »sehr hoch«.[3] Solche Temperaturen könnten bereits Ende des Jahrhunderts erreicht sein.
Dieser IPCC-Bericht hat Studien berücksichtigt, die vor 2020 erschienen sind; das ist nun schon fünf Jahre her.[4] Seitdem wurden weitere Arbeiten publiziert, die teilweise zu nochmals höheren Risikoeinschätzungen kamen. So halten die Autoren einer Studie im Fachjournal Science das Überschreiten erster Kipppunkte in den kommenden Jahrzehnten nicht mehr bloß für möglich, sondern für wahrscheinlich.[5] Und ein Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) konstatiert: »Es gibt unbestreitbare Belege dafür, dass der Planet sich Kipppunkten nähert.«[6]
Aus zweierlei Gründen werden die Warnungen schärfer. Der eine hat mit der Wissenschaft zu tun: Einige Kippelemente erwiesen sich bei genauerer Untersuchung als empfindlicher als zuvor angenommen. Der andere Grund liegt im Menschen, besser gesagt in seinem Verhalten: Den Ländern der Welt ist es entgegen ihren Versprechungen immer noch nicht gelungen, den globalen Treibhausgas-Ausstoß zu senken. Selbst das eingangs geschilderte Szenario einer Kipppunkte-Kaskade, das manche eher an Hollywood erinnern dürfte, scheint nicht mehr undenkbar. Es könnte tatsächlich Realität werden.
»Wir rasen mit hoher Geschwindigkeit einen Abhang hinunter, sehen die Klippe näher kommen - und drücken das Gaspedal durch«
Wären wir alle Versicherungsmathematiker, bräuchten wir nicht lange zu überlegen, was zu tun ist. Zwar ist Versicherungsmathematik eine anspruchsvolle Disziplin, aber ihr Grundprinzip lässt sich auf eine simple Formel bringen:
Risiko = Schadenshöhe x Eintrittswahrscheinlichkeit
Das heißt, selbst gegen ein sehr unwahrscheinliches Ereignis sollte man sich dringend absichern, sofern die dadurch entstehenden Schäden sehr groß sind.
Nun wären die Folgen eines Kippens verschiedener Elemente im Erdsystem tatsächlich sehr groß, extrem groß. Darüber besteht in der Forschung kein Zweifel. Zugleich ist die Eintrittswahrscheinlichkeit mancher Kipppunkte längst nicht mehr so niedrig, wie es lange schien. Das Ergebnis der Kalkulation ist deshalb klar: Das aus den Kipppunkten resultierende Risiko ist unverantwortbar hoch. Wir müssten daher alles, wirklich alles in unserer Macht Stehende tun, um die Erderwärmung zu stoppen und damit das Überschreiten jener kritischen Schwellen zu verhindern.
Genau danach sah es zwischenzeitlich tatsächlich mal aus. Ende 2015 beschloss die Weltgemeinschaft auf dem UN-Klimagipfel in Paris, den Temperaturanstieg auf höchstens zwei Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen, möglichst sogar auf 1,5 Grad. Diese untere Marke war nicht beliebig gewählt: Sie einzuhalten oder nicht entscheidet unter anderem über den Fortbestand vieler kleiner Inselstaaten; darüber, ob Hunderte Millionen von Menschen an den Küstenlinien der Welt den anschwellenden Meeren weichen müssen. Bis zu diesem Temperaturniveau gehen Wissenschaftler davon aus, dass sich die Menschheit an die resultierenden Klimaveränderungen noch einigermaßen anpassen kann - danach aber werden Hitzewellen bald unerträglich, Dürren und Starkregen und Stürme allzu zerstörerisch. Ähnliches gilt für die Kipppunkte: Ab 1,5 Grad beginnt neuerer Forschung zufolge auch der Bereich des »hohen« Risikos für das Kippen einiger Elemente des Erdsystems.
Aber bekanntlich besteht die Menschheit nicht aus Versicherungsmathematikern. Deswegen haben wir die folgenden 350 Seiten geschrieben.
Seit der historischen Unterzeichnung des Pariser Klimaabkommens sind die CO2-Emissionen (unterbrochen nur von einem kurzen Rückgang während der Corona-Pandemie) immer weiter gestiegen und erreichten 2024 einen neuen Höchststand. Erstmals lag mit 2024 auch ein ganzes Jahr in der globalen Durchschnittstemperatur über der 1,5-Grad-Schwelle. Fürs Klima entscheidend sind langjährige Mittelwerte, aber auch in dieser Hinsicht wird die Erderwärmung wohl spätestens Anfang des nächsten Jahrzehnts die 1,5-Grad-Marke knacken; jedenfalls gibt es kein plausibles Szenario mehr, in dem die weltweiten Emissionen noch schnell genug sinken könnten, um dies zu verhindern.
Die Lektion: Das Erdsystem wartet nicht, bis sich eine Gruppe zerstrittener Primaten zusammenrauft und endlich von ihrer Angewohnheit ablässt, fossile Überreste von Sumpfwäldern und Meeresorganismen aus dem Boden zu ziehen, um diese zu verbrennen und so die Zusammensetzung der Lufthülle um den Planeten herum langfristig zu verändern - mit dem bekannten Ergebnis: Die Erde heizt...
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