Die Schlange
Mel und Marie schritten über breite, steinerne, bereits durch die Sonne erwärmte Stufen. Vor ihnen öffnete sich eine Meeresbucht, deren Brandung sich an einer bizarren Felsformation in weißen Schaumkronen brach. Diesen Felsen krönte ein Hindutempel in der typisch balinesischen Bauweise.
Sie blieben eine Weile auf halber Höhe stehen, um die Szenerie zu betrachten. Vor allem um sich auch unauffällig umzusehen, denn es war noch niemand im Tempelbereich in diesen frühen Morgenstunden, außer einigen Mönchen, die im Tempel beteten.
Eine leichte Brise trug den duftenden Rauch von vielen Stäbchen herüber.
Marie bemerkte, wie zwei Mönche den schmalen Pfad betraten, der zurück zum Festland führte. Wegen des weichenden Wassers bei Ebbe, die diesen Felsenpfad nur langsam frei gab, schien es, als würden sie über das Wasser schweben, während erste Sonnenstrahlen auf die Dächer des Tempels fielen.
Ein fast magisch anmutender Augenblick.
Sie beobachteten die Mönche solange, bis diese hinter einem Felsen am Ufer verschwanden und warteten noch einen kurzen Augenblick.
Doch niemand sonst folgte ihnen.
"Wir können froh sein, dass es nur Mönche sind, ihrer Kleidung nach. Wenn es Tempelwächter gewesen wären, mit denen ist nicht zu spaßen. Wir wissen ja nicht, was uns hier erwartet", bemerkte Mel und hob eine Augenbraue.
Schließlich atmete sie tief durch, bevor sie als erste, gefolgt von Marie, die Stufen hinabzugehen begann.
Unten angekommen gingen sie langsam in Richtung Felsvorsprung, wo sie die Mönche vermuteten.
Sie entdeckten einen Eingang zu einer niedrigen Grotte. Zum Teil mit einem großen Stein verdeckt, auf dem einer der beiden Mönche saß. In seiner Hand hielt er einen Holzstab in Form einer Schlange.
Mel verbeugte sich zur Begrüßung.
Danach legte sie eine großzügige Spende in seine Opferschale. Sie sprach mit dem Mönch in der balinesischen Gelehrtensprache.
Sie bedeutete Marie, ihr in die Höhle zu folgen. Der zweite, viel ältere Mönch, saß dort am Boden. Er leuchtete die Wand an. In den Händen hielt er ein schwarz-weiß gestreiftes, dickes Knäuel.
Im diffusen Licht schien es sich zu bewegen.
Der Mönch lächelte die beiden Frauen freundlich an, nickte ihnen mehrmals zu und sagte aufmunternde Worte. Er hob seine Arme etwas höher und doch, jetzt war deutlich zu erkennen, dass sich dieses Knäuel bewegte. Kleine schwarze und weiße Schuppen wechselten sich ab.
Marie zuckte leicht zusammen.
"Das hier sind die heiligen Schlangen. Normalerweise ist ihr Biss giftig. Satt gefressen sind sie sanftmütig und harmlos."
"Du musst sie streicheln, dann werden sie dir einen Wunsch erfüllen", flüsterte Mel und sah dabei Marie an. Etwas zögerlich, aber sanft, berührte Marie die Schlange, die einfach um ihre Hand windend wieder in die Hände des Mönches glitt. Der Mönch nickte zufrieden lächelnd und murmelte etwas zu Marie.
"Die heilige Schlange mag dich", übersetzte Mel, "sie wird dir deinen sehnlichsten Wunsch erfüllen."
"Na, na, nicht verraten! Das ist ein Geheimnis nur zwischen dir und der Schlange", rief Mel aus als sie sah, wie Marie Luft holte, um etwas zu sagen.
"Schon klar, nur wollte ich gerade fragen, warum die Nachricht uns wirklich hierher führte? Um uns irgendeinen Wunsch zu erfüllen? Wer hat überhaupt diese Nachricht geschickt und was will diese Person? Wir suchen immer noch Paul, nicht wahr", fragte Marie mit einem etwas ungeduldigen Unterton.
"Das möchte ich doch ebenso herausfinden", konstatierte Mel und wandte sich dem Mönch zu, um mit ihm zu sprechen.
Doch er lächelte immer noch freundlich und hielt das Schlangenknäuel einfach nur Mel entgegen. Sie verstand, dass sie jetzt an der Reihe war, die Schlange zu streicheln. Was sie sich gewünscht hatte, war ja offensichtlich. Auch ohne etwas zu sagen.
Die beiden Frauen machten wieder eine Verbeugung und drehten sich um. Sie machten Anstalten, die Höhle wieder zu verlassen, als sie einen Mann vor sich entdeckten, der sie beide ganz genau musterte.
Der Mann war hochgewachsen, schlank mit kurzem, schwarzem, gepflegtem Haar, leicht gebräunter Haut, so wie von den Einheimischen, nur etwas heller. Das typische balinesische Gesicht war nur andeutungsweise zu erkennen, denn seine Gesichtszüge deuteten eher einen europäischen Touch an.
Er war circa einen Meter achtzig groß, was wesentlich größer ist als der balinesische Durchschnitt. Die Balinesen sind eher kleiner und zierlich, beinahe schon filigran anmutend.
Die beiden Frauen hielten inne.
Der Mann rührte sich ebenfalls nicht.
Er musterte sie immer noch und es schien, als ob sein Gehirn auf Hochtouren arbeiten würde. Seine Augen sahen ruhig aus, ja, sogar freundlich.
Marie und Mel versuchten die Situation einzuschätzen.
Bali ist auf den ersten Blick ein kleines Paradies. Es hat aber leider oft unter Kriminalität zu leiden.
Davor wollten sie sich schützen, vor allem, da sie nicht wussten, wer ihnen die Nachricht zukommen ließ. Vorsichtig griffen sie an ihre Gürtel, die den Sarong festhielten. Dahinter verbargen sich ihre kleinen Waffen.
"Sie suchen einen Mann", fragte er plötzlich in perfektem Englisch.
Beide sahen sich gegenseitig an und fragten sich, ob er ihr Gespräch belauscht haben könnte oder ob das lediglich eine plumpe Anmache gewesen sein sollte.
Er bemerkte wohl ihre fragenden Blicke, die sie austauschten, und fuhr fort.
"Ich bitte um Entschuldigung. Mein Name ist Tri. Ich bin das, was sie einen Schamanen nennen würden, hier auf Bali."
Sie sahen ihn noch erstaunter an. Er sah nicht wie ein typischer Schamane aus. So mit Knochen im Haar oder Federn und Maske, wie man sie aus anderen Ländern kennt. Er sah auch kein bisschen furchteinflößend aus. Ganz im Gegenteil. Er trug ein schlichtes, weißes Hemd mit kurzen Ärmeln und eine dunkelblaue Jeans unter dem braunen Kamen.
Er schien ihre Gedanken zu erahnen und lächelte verständnisvoll. Offensichtlich passierte ihm das öfter, dass die ÄusserlichkeitsErwartungen der Leute bei ihm nicht zutrafen.
"Ich habe sie erwartet, denn in meinen Visionen wurde mir gesagt, dass sie kommen würden. Sie suchen einen Verwandten, nicht wahr", fragte er und sah Mel nun direkt an. "Normalerweise werde ich von Menschen aufgesucht, die eine Person oder einen Rat suchen. Diesmal ist es anders. Eine Person hat mich kontaktiert, die verschwunden ist und bat mich zu helfen, um seine Schwester zu finden."
Der Mann wartete die Reaktion der beiden Frauen ab. Ihre Gesichter klärten sich. Nun hatte er ihre volle Aufmerksamkeit.
"Sein Name ist Paul Black", hörten sie ihn sagen. Sie wussten jedoch, dass sie bei ihrem Gespräch vorhin den Namen von Mel's Zwillingsbruder nicht erwähnt hatten.
Nun blickten sie den Schamanen wieder unmerklich erstaunt an. "Ja, er führte mich zu ihnen. Das starke Band zwischen ihnen beiden macht es möglich", fuhr er fort.
Mel's Augen wurden immer größer. Sie konnte es kaum fassen. Ihr war zwar bekannt, dass es auf Bali viele wundersame Dinge gab, jedoch hatte sie nicht damit gerechnet, dass es sie so persönlich betreffen würde. Ja, sie hatte ihren sehnlichsten Wunsch der Schlange anvertraut. Aber dass es so schnell gehen würde, ihren Bruder zu finden?
"Wo ist mein Bruder", schoss es aus ihr heraus, bevor sie überhaupt darüber nachdenken konnte, ob sie dem Mann glauben sollte, oder nicht.
Der Schamane richtete sich auf und es hatte den Anschein als würde er einen Schritt nach hinten tun müssen. Doch er blieb standhaft.
"Das weiß ich nicht", sagte Tri.
"Aber sie sagten doch gerade, mein Bruder Paul Black hätte sie kontaktiert, oder nicht?" Mel's Stimme bebte ganz irritiert.
"Ja, stimmt. Das ist aber nicht so einfach", entgegnete Tri.
"Wieso denn? Warum ist das nicht einfach? Wollen sie Geld", fragte Marie misstrauisch.
Der Schamane sah sie fast beleidigt an und entgegnete: "Das ist es nicht. Es ist nur etwas kompliziert."
"Wie sollen wir das jetzt verstehen?" Mel's Stimme bebte immer noch.
Er sah sich um. "Kommen sie, wir setzen uns dort oben in den Schatten und ich erzähle ihnen alles, was ich weiß." Er deutete auf die Restaurants oben auf den Felsenklippen hinter ihnen, wo der Schatten der Bäume sie vor der heißen Sonne schützen würde.
Von dort aus konnten normalerweise die Touristen die Sonne abends hinter dem Felsentempel in allen möglichen Farben am Horizont im Meer versinken sehen.
Zuweilen erwartete man beinahe ein leichtes Zischen hören zu können,...