Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
DIE SCHNAPPSCHILDKRÖTE (CHELYDRA SERPENTINA) Anders als andere Schildkröten kann sich die gemeine Schnappschildkröte nicht vollständig in ihren Panzer zurückziehen. Diese Schildkröten schnappen zu, um sich zu verteidigen, sind ansonsten aber nicht aggressiv. Dennoch werden sie oft gejagt und gelten in Nordamerika als gefährdet. Bei der Paarung vollführen Schnappschildkröten ein tanzartiges Ritual im Wasser, bei dem sie sich ansehen, aber nicht berühren. Schnappschildkröten haben keine bestimmte Paarungszeit: Sie balzen und paaren sich nur, wenn die Umstände genau stimmen.
Als Liane beim Schwimmen die Schnappschildkröte sah, schrie sie auf. Die Schildkröte biss sie zwar nicht, war aber eindeutig kurz davor. Dann tauchte er mit dem Kopf zuerst ins Wasser und war verschwunden. (Natürlich wusste sie nicht, dass die Schildkröte ein Er war, aber sie nahm es an; es lag etwas Ruhiges und Männliches in seinem Blick.)
Sie konnte spüren, dass die Schildkröte noch da war, irgendwo unter ihr. Sie drehte sich auf den Rücken und hörte die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf. «Wenn du im Wasser Angst hast, gerate nicht in Panik. Sonst ertrinkst du», hatte Helen vom Rand des Stegs aus gesagt, während Liane unter ihr im See schwamm. Lianes älteste Schwester Fiona war bereits zur Mitte des Sees gekrault, wo Helen eine Taucherflagge ins Wasser gesetzt hatte. Ilsa hatte ebenfalls auf dem Steg gelegen, sich dann aber ins Wasser rollen lassen und schwamm dann wie ein Delfin auf Liane zu, tauchte und packte ihre Fußgelenke von unten. Liane hatte geschrien und mit den Armen gerudert. «Ganz genau! Danke, Ilsa. Genau das tust du nicht. Dreh dich stattdessen auf den Rücken.» Liane erinnerte sich noch genau an den roten Badeanzug ihrer Mutter, an ihre gebräunte Haut, das blonde Haar und die Art, wie sie mit ihnen sprach, als wären sie schon erwachsen.
Die Schwimmstunden waren das Einzige, worauf Helen bestand in den langen Sommern, die sich so endlos hinzogen wie das Kaugummi, das sie im Yachthafen für 1,25 Dollar kauften. Die Mädchen mussten nicht einmal ihre Koffer auspacken, wenn sie nicht wollten. Und niemand sagte ihnen, sie sollten ihre Betten machen.
Jetzt schaute Liane in die Wolken und versuchte, ihren Bauch mit Luft zu füllen. Aber ihr Atem ging zu flach, und sie musste die Beine bewegen. Die Panik zwang sie dazu, sich wieder auf den Bauch zu drehen und zum Steg zu schwimmen, schnell.
Sie wollte nach Hause, dabei war sie erst einen Tag da.
Ihr Plan: zu schwimmen, Salat zu essen (hauptsächlich Salat, weil sie Kochen hasste oder es einfach nicht konnte; das war wie mit der Henne und dem Ei, aber sie wollte der Sache gar nicht auf den Grund gehen) und an den letzten Seiten ihrer Doktorarbeit zu feilen. Ende der Woche, wenn Lianes Mutter und ihre Schwestern zum jährlichen Wochenende ins Ferienhaus kommen würden, wollte sie fertig sein. Und Adam würde dann endlich aufhören zu fragen, wann sie fertig wäre, und sie müsste sich nicht mehr schuldig fühlen, weil sie nicht angemessen auf das Angebot seines Vaters reagierte, einen Job als Lehrassistentin an der Uni anzunehmen, während sie auf die Verteidigung ihrer Doktorarbeit wartete.
Der andere Teil des Plans, von dem sie niemandem etwas gesagt hatte, bestand darin, die Vergangenheit auszulöschen und sich in einen normalen Menschen zu verwandeln, indem sie allein hierherkam und das hier wie ein normales Ferienhaus und einen normalen See behandelte und nicht als den Ort der größten Tragödien ihres Lebens. Dass sie der Mensch wurde, den Adam gern gehabt hätte. Der Mensch, der sie zwar nicht glaubte sein zu können, aber doch wenigstens zu sein versuchen sollte.
Liane tauchte mit dem Kopf unter Wasser - mit geschlossenen Augen, um sich selbst auf die Probe zu stellen - und tauchte nach Atem ringend wieder auf. Sie hatte in den Eine-Woche-allein-im-Ferienhaus-Plan nur ihre großen Ängste einberechnet, nicht aber die vielen kleinen. (Schildkröten. Schlingpflanzen. Algen. Andere Dinge, die zu peinlich waren, um sie zu erwähnen. Wie Ameisen. Käfer. In Spinnweben zu geraten.) All das schien ihr allein noch beängstigender. (Im Moment: Sie spürte immer noch die Nähe der Schildkröte, die jetzt vielleicht auf der untersten Sprosse der Leiter hockte und darauf wartete, ihr in den Zeh beißen zu können.)
Sie tauchte wieder ins Wasser und öffnete diesmal die Augen. Dann kam sie wieder hoch, blinzelte und sah, wie sich etwas zu ihrer Linken bewegte. Das Umblättern einer Seite. Da saß ein Mann am Ende des Stegs vor dem benachbarten Ferienhaus - früher hatte es den Castersens gehört, aber jetzt hatten sie es verkauft oder vermieteten es oder Ähnliches. Liane konnte sich nicht mehr genau erinnern, wusste aber, dass Helen letztes Jahr davon gesprochen hatte, als der neue Steg gebaut wurde und danach zwei Kajaks das motorisierte Pontonfloß ersetzt hatten, das Mr. Castersen damals sein «Partyboot» genannt hatte.
Der unbekannte Mann, der auf dem Steg saß und las, schaute jetzt auf, und Liane sah weg und konzentrierte sich auf ihre Schwimmstrecke. Sie hätte winken sollen. Immerhin war sie im Ferienhausland. Im Ferienhausland musste man winken (selbst wenn man gerade schwamm) und mit den Lippen ein Hallo formen (egal, ob man sich kannte oder nicht). Aber sie schämte sich zu sehr. Vermutlich hatte er ihr Geschrei wegen der Schildkröte gehört. Er hatte vermutlich auch beobachtet, wie ungeschickt sie vom Steg gesprungen war, mit zugehaltener Nase und gespreizten Beinen. Außerdem war es jetzt auch egal, weil der Mann - der kupferfarbenes Haar und einen ebensolchen Bartschatten hatte - sich ohnehin wieder in sein Buch vertiefte. Sie schwamm weiter und bemühte sich, nicht zu ihm hinzusehen, was aber bedeutete, dass sie zum Schuppen schauen musste, der direkt am Wasser stand, also schloss sie die Augen und tauchte wieder unter.
«Warum behältst du es eigentlich?», hatte sie Helen vor Jahren gefragt und damit das Kajak gemeint, das im Schuppen hochkant gegen die Wand gelehnt stand. «Was soll ich denn damit machen, es wegschmeißen?», hatte Helen zurückgefragt. «Ich könnte die Vorstellung nicht ertragen, dass es irgendwo auf einer Mülldeponie vor sich hin rottet. Und es kommt mir falsch vor, es zu verkaufen. Also behalten wir es. Vielleicht holst du es ja eines Tages heraus.» «Niemals», hatte Liane erwidert. Was für eine makabre Idee. Schrecklich.
Manchmal fragte sie sich, ob Helen absichtlich so unsensibel war. Sie versuchte, ihre Mutter zu lieben, wie sie war, sie liebte sie wirklich, wie sie war, aber manchmal wünschte sie sich doch, sie wäre mehr wie andere Mütter. Andere Mütter hätten zum Beispiel niemals gerade dieses Kajak im Schuppen gelassen oder sogar vorgeschlagen, dass Liane damit auf den See hinausfahren sollte.
Liane kletterte die Leiter zum Steg hinauf. Dabei zuckte sie immer wieder zusammen und bemühte sich, die algenbewachsenen, glitschigen Sprossen nur möglichst kurz mit den Zehen zu berühren. Dann setzte sie sich hin, umschlang die Knie mit den Armen und wünschte sich ein Badetuch. Sie blinzelte. Der Rücken des Buches, das der Mann las, war orangefarben. Ein Taschenbuch. Sein Kopf war gesenkt, die Schultern gebeugt, und er lehnte sich ein wenig nach vorn. Als läse er nicht, sondern wollte in das Buch hineinkriechen. Vielleicht war er aber auch nur kurzsichtig. Trotzdem musste Liane an ein Buch denken, das sie als Kind gelesen hatte. Darin ging es um einen Jungen (oder war es ein Mädchen?), der einen Baum mit einer Tür im Stamm fand, und als er (oder sie?) sie öffnete, lag dahinter eine andere Welt, die es schon immer gab. Liane fragte Helen immer wieder danach. «Vielleicht hast du es dir nur eingebildet», hatte Helen einmal geantwortet. «Du warst schon immer sehr phantasievoll.» Aber Liane glaubte immer noch, dass dieses Buch irgendwo sein musste. Sie war sich sicher, dass ihr Vater es ihr geschenkt und sogar etwas hineingeschrieben hatte. Sie erinnerte sich nicht mehr an die Worte, sehnte sich aber danach, sie wieder zu lesen.
Sie streckte die Beine aus, rutschte Stück für Stück an den Rand des Stegs und ließ sich zurück ins Wasser gleiten. Der neue Steg, der, der jetzt zum Castersen-/Vielleicht-auch-jetzt-nicht-mehr-Haus gehörte, lag näher als der alte Steg der Castersens und war größer. Seine hellen Holzplanken erstreckten sich in den See, beschrieben einen Bogen und erstreckten sich noch weiter hinaus.
Ein paar Schwimmzüge, dann würde sie alles genau sehen können. Im genau richtigen Moment lehnte sich der Mann zurück, um sich zu strecken, und neigte dabei das Buch. Sie konnte die gelb-weiß-schwarze Schrift erkennen.
Junkie von William Burroughs. Enttäuschend. Und ein wenig erschreckend. Liane atmete tief ein und tauchte unter, wobei sie daran denken musste, dass Burroughs seiner Frau in den Kopf geschossen hatte. Zufällig. Wie konnte man jemandem zufällig in den Kopf schießen? Ein Dutzend beängstigende Szenarien fielen ihr ein. Sie befand sich allein auf einer Insel mit einem Mann, der am liebsten in ein Buch hineinkriechen wollte, in dem es um zügellosen Drogenkonsum ging, geschrieben von einem «zufälligen» Ehefrauenmörder.
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.