Schweitzer Fachinformationen
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Anna-Henrikje Seidlein, Annette Riedel und Karen Klotz
Die Kernphänomene des vorliegenden Buches - »Moral Distress« und »Moral Injury« - lassen sich als zwei dezidierte Formen moralischen Belastungserlebens verstehen. Unter dem Terminus »Moralisches Belastungserleben«, der international auch als »Moral Suffering« bezeichnet wird (Papazoglou & Chopko, 2017; Rushton, 2024), können folglich noch weitere Erlebensqualitäten, wie bspw. das »Moral Residue« (Epstein & Hamric, 2009; ten Have & Patrão Neves, 2021; Webster & Baylis, 2000) subsummiert werden (Goldbach et al., 2023; Riedel et al., 2023; Riedel & Lehmeyer, 2022; Riedel et al., 2022). Übergeordnet lässt sich für jegliche Formen moralischen Belastungserlebens festhalten, dass es »in der situativen und/oder retrospektiven Bezugnahme zum subjektiven Erleben und individuellen Handeln in der Konfrontation bzw. im Umgang mit moralisch gehaltvollen Situationen« (Riedel et al., 2023, S. 6) entsteht. Übergreifend ist außerdem zu konstatieren, dass moralisches Belastungserleben »während oder im Rückblick auf eine Situation erfahren wird, in der ethische Werte, Prinzipien und moralische Verpflichtungen nicht realisiert werden können bzw. nicht im Einklang mit diesen gehandelt werden kann« (Riedel & Seidlein, 2024). Die Bedeutsamkeit für das professionelle Handeln im Kontext der Palliative Care ist bereits anhand dieser Merkmale antizipierbar und evident.
Das Forschungsfeld des moralischen Belastungserlebens (und darin insbesondere Moral Distress und Moral Injury) wird - davon zeugt die Publikationsdichte, die bei Verwendung dieser Schlagworte sichtbar wird - sehr umfangreich und dynamisch in verschiedenen Disziplinen bearbeitet. Sowohl empirische Arbeiten (bspw. Prävalenzerhebungen in verschiedenen Zielgruppen und Settings durch unterschiedliche Disziplinen wie Psychologie und Pflegewissenschaft) als auch konzeptuell-theoretische Arbeiten (bspw. zum normativen Gehalt der Konzepte und ihrer Definition durch Pflege- und Medizin-/Bioethiker:innen) entwickeln sich seit Jahrzehnten in einem raschen Tempo, welches durch die COVID-19-Pandemie - auch im Kontext der Palliative Care - noch einmal intensiviert wurde (Geng et al., 2024; Park et al., 2024; Beheshtaeen et al., 2023; Nagle et al., 2023; Latimer et al., 2023; Laher et al., 2022; Spilg et al., 2022; Rushton et al., 2022b; Xue et al., 2022; Fish & Lloyd, 2022; Ducharlet et al., 2021).
Dass moralisches Belastungserleben weit verbreitet und höchst relevant ist, ist folglich unstrittig und wird durch zahlreiche nationale und internationale Bemühungen, zumeist Moral Distress und Moral Injury in Häufigkeit und Schweregrad zu erfassen, belegt (z.?B., Salari et al., 2022). Auch besteht Einigkeit darüber, dass moralisches Belastungserleben distinkt zu anderen in der Praxis der Gesundheitsversorgung und Pflege wirksamen Belastungs- bzw. Distressformen ist (z.?B. somatischer, psychologischer oder spiritueller).
Zugleich könnten die Anforderungen an die Konzepte Moral Distress und Moral Injury nicht höher sein: Sie sollen nicht nur logisch korrekt und angemessen, sondern vor allem auch für die Praxis hilfreich sein, da alle Forschung zu moralischem Belastungserleben einen Problemlösungsanspruch und damit das Ziel der Reduktion moralischer Belastung für die Betroffenen verfolgt. Das anhaltende und sogar zunehmende Interesse an moralischem Belastungserleben ist kein Selbstzweck, sondern liegt in den vielfältigen Auswirkungen begründet, die alle Involvierten sowohl auf der Mikroebene (Patient:innen, Fachpersonal) als auch auf der Meso- (Teams, Organisationen) und Makroebene der Gesundheitsversorgung (Sicherstellung der Versorgung) betreffen. So wirken sich Moral Distress und Moral Injury nicht nur negativ auf die psychische und physische Gesundheit des (Pflege-)?Fachpersonals aus (Anastasi et al., 2024; Hegarty et al., 2022; Jovarauskaite et al., 2022; Park et al., 2024; Thibodeau et al., 2023; Riedel et al., 2023), sondern gefährden auch die Pflegequalität und Sicherheit der Patient:innen sowie mittel- und langfristig die Fachkräftesituation vermittelt über ihre Einflussnahme auf die berufliche Zufriedenheit und damit die Intention, den Beruf zu verlassen bzw. dies auch tatsächlich umzusetzen (Hally et al., 2021; Corradi-Perini et al., 2021; Laurs et al., 2020; Maunder et al., 2023; Nazarov et al., 2024) (vgl. dazu auch Kapitel 5 in diesem Buch).
Im Rahmen dieses Beitrages wird angesichts der Bedeutung, aber auch der Komplexität der Phänomene Moral Distress und Moral Injury der Versuch unternommen, ihre theoretische Konzeptualisierung einzuordnen und in der Folge für den Diskurs im Kontext der Palliative Care anschlussfähig zu machen und besser nachvollziehen zu können. Im Zuge dieser Rekonstruktion wird zugleich das Verhältnis von Moral Distress und Moral Injury zueinander verdeutlicht. Dazu werden - ausgehend von ihrem jeweiligen Entstehungskontext und entsprechenden Referenzdefinitionen - die Kernelemente dargestellt. Nachfolgend werden wichtige Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Zusammenschau der Konzepte herausgestellt und die Bedeutung der zwei Konzepte für die Palliative Care dargelegt, bevor abschließend Herausforderungen für die zukünftige Auseinandersetzung formuliert werden.
Neben »Moral Distress« wird teilweise auch »Moral Stress« unter moralischem Belastungserleben gefasst (Rushton et al., 2021). Dieser wird jedoch auf unterschiedliche Weise konzeptualisiert: Einige Autor:innen nutzen den Begriff des »Moral Stress«, um zuerst einmal die natürliche Reaktion auf das Erkennen und Erleben einer moralischen Irritation durch die Konfrontation mit einer moralisch gehaltvollen Situation zu beschreiben, in der das eigene moralische Wohlbefinden gestört und moralisches Unbehagen ausgelöst wird. Sie gehen davon aus, dass erst »wenn die Intensität des moralischen Stresses die Fähigkeit der Person übersteigt, sich zu stabilisieren und unversehrt zu bleiben, dies zu Moral Distress oder Moral Injury führen kann« (Rushton et al., 2021, S. 120, eigene Übers.). Andere Autor:innen sehen »Moral Stress« als ein Konzept, dass die Systemebene des Problems von Moral Distress betont und die Aufmerksamkeit weg vom Individuum allein und hin zu Systemfaktoren lenkt (Buchbinder et al., 2023). »Moral Stress« ist demnach ein Resultat »des normalen Betriebs überlasteter Systeme und ist im Gegensatz zu Moral Distress und Moral Injury nicht mit einem Gefühl der Machtlosigkeit in Bezug auf die Patientenversorgung verbunden« (Buchbinder et al., 2023, S. 1, eigene Übers.). Im deutschsprachigen Raum wiederum wurden auch Versuche unternommen, den englischen Begriff des »Moral Distress« mit »Moralischem Stress« zu übersetzen, sodass es sich bei dieser Verwendung um keine eigene bzw. andere Form als »Moral Distress« selbst handelt, sondern lediglich um eine deutschsprachige Entsprechung (vgl. z.?B. Monteverde, 2019).
Die Forschung zu Moral Distress blickt seit der Meilensteindefinition durch Andrew Jameton (1984) auf einen umfangreichen empirischen Wissenskorpus zurück. In seinem Buch »Nursing practice: The ethical issues« beschrieb er erstmalig Moral Distress als »negative feelings that arise when one knows the morally correct response to a situation but cannot act accordingly because of institutional or hierarchical constraints« (S. 6). Der Ursprung liegt damit in der Pflege; genauer gesagt in dem Versuch der Pflegeethik, dem moralischen Belastungserleben von Pflegefachpersonen in der Praxis zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen und damit zugleich dessen Bedeutung greifbar zu machen (Jameton, 2013). Jameton selbst beschreibt seinen Definitionsversuch als eine Antwort auf die emotionalen Schilderungen der Pflegenden im Rahmen seiner Lehrveranstaltungen, deren Empfinden in den pflege- und bioethischen Auseinandersetzungen bis dahin nicht abgebildet und damit zugleich marginalisiert wurde (Jameton, 2017). In diesem Sinne lenkt Moral Distress nach wie vor die Aufmerksamkeit auf die »moralische Arbeit« (McCarthy, 2013, S. 5, eigene Übers.) von Pflegefachpersonen. Zwischenzeitlich wurde das Phänomen des Moral Distress auch über die Pflege hinausgehend (Latimer et al. 2023; Kherbache et al., 2022; Ducharlet et al., 2021; Kühlmeyer et al., 2020) umfassend konturiert. Die Genese, der Gegenstand und die Charakteristika von Moral Distress können klar beschrieben werden und sind damit mit der Bezugnahme im Kontext der interprofessionellen Palliative Care vereinbar.
Die Definition von Jameton (1984), nach der die Pflegefachpersonen zwar genau wissen, was richtig wäre, dies aber aus verschiedenen Gründen nicht umsetzen können, wurde seither mehrfach weiterentwickelt. Es lassen sich zahlreiche engere und weitere Definitionen des Phänomens ausmachen (Campbell et al., 2016; Morley et al., 2021; Oelhafen et al., 2024; Wocial, 2016). Was »schon« oder »noch« als Moral Distress betrachtet werden darf, ist also durchaus umstritten. Unterschiede zwischen den...
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