Schweitzer Fachinformationen
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Wie jeden Sonntag schloss Alfons Merkel, der Küster, um sechs Uhr die schwere Holztür am östlichen Seiteneingang der Thomaskirche auf. Der Gottesdienst begann erst um 9.30 Uhr, aber es gab vorher viel zu tun. Die Nächte waren in der vorösterlichen Zeit noch kühl, die Kirche musste geheizt werden. Alles musste hergerichtet werden, vom Altarraum bis zum letzten Sitzplatz.
Die Kirchentür öffnete sich mit einem Quietschen der Scharniere. Er nahm sich vor, beim nächsten Mal an das Öl zu denken. Mit einem Bündel roter Tulpen unter dem Arm, dem Altarschmuck für den heutigen Tag, betrat er das Gotteshaus.
Sein Gang war gebückt. Merkel hatte die siebzig gerade überschritten. Er befand sich eigentlich schon im Ruhestand, aber er war froh über diese verantwortungsvolle Aufgabe. Er war ein gläubiger Mensch und freute sich, durch diesen Dienst dem Herrgott für ein erfülltes Leben danken zu können. Und außerdem: Küster der Thomaskirche zu Leipzig. Das war doch was. Er liebte seine Berufung.
Er schaltete das Licht im Innenraum der Kirche an und blieb stehen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Was, wusste er nicht. Er hatte keine Erklärung, es war eben nur so ein Gefühl. Er sah sich um, konnte jedoch nichts Auffälliges entdecken. Das hatte allerdings nicht viel zu bedeuten. Die Operation des Grauen Stars sollte er nicht mehr allzu lange vor sich herschieben. Er schlurfte mit seinem Tulpenbündel zum Altarraum. Die Umrisse des Altars, der Bestuhlung sowie die großen Bilder wurden deutlicher. Durch das bunte Kirchenfenster drang schon das erste Tageslicht herein. Als er die erste der drei kleinen Stufen betreten hatte und in den Altarraum sehen konnte, stockte ihm vor Schreck der Atem. Er ließ die Blumen fallen und starrte wie gelähmt in den Innenraum. Als er hörte, wie die Seitentür der Kirche mit einem lauten Quietschen und einem dumpfen Knall ins Schloss fiel, glaubte er, sein Herz würde stehen bleiben. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf seinen Atem. Dann schlug er das Kreuzzeichen auf seine Brust. Dies war bei evangelischen Christen ungewöhnlich, aber ihm war danach. Langsam verließ die Starre seinen Körper. Als er glaubte, sich wieder einigermaßen bewegen zu können, ging er, so rasch ihn seine alten Füße tragen konnten, zum Pfarrhaus.
Hauptkommissar Kroll war schon aufgewacht. Er hatte bei offenem Fenster geschlafen, das Gezwitscher der Vögel hatte ihn geweckt. Deshalb ertrug er es auch gelassen, dass sich zu so früher Stunde sein Handy meldete. Er schaute auf das Display. Staatsanwalt Reis. Er drückte auf die Taste mit dem grünen Telefonhörer.
Der Staatsanwalt klang aufgeregt. »Komm doch mal in die Thomaskirche. Ich denke, das solltest du dir ansehen. Bis gleich.«
Kroll hatte keine Chance nachzufragen. Reis hatte schon aufgelegt. Kroll stand auf und ging ins Bad. Wie immer, es war schon eine Angewohnheit, betrachtete er seinen durchtrainierten Körper im Spiegel. Kroll war alles andere als ein Muskelprotz, aber der Kampfsport, den er regelmäßig trieb, hatte für schön gezeichnete Muskeln gesorgt, und das Laufen verhinderte ein Anschwellen des Unterhautfettgewebes. Nicht schlecht für einen 45-Jährigen. Nachdem er die Dusche verlassen hatte, kämmte er mit einer Bürste seine dunkelblonden Haare zurück. Den Rest würde die Natur erledigen.
Vor den Eingängen der Thomaskirche war bereits das rot-weiße Flatterband der Polizei angebracht. Vor jeder Tür standen zwei uniformierte Polizisten und sorgten dafür, dass niemand das Gotteshaus betreten konnte. Die Mitarbeiter der Spurensicherung in ihren weißen Overalls verrichteten ihre Arbeit im Altarraum. Staatsanwalt Reis stand vor dem Grab von Johann Sebastian Bach. Er nickte kurz in Krolls Richtung. Kroll glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als er im Altarraum den Grund für die morgendliche Aufregung sah. Die schwere eiserne Grabplatte war zur Seite geschoben. Das Grab lag frei vor ihnen. Kroll schaute hinein. Der Deckel des Aluminiumsarges war abgehoben und lag neben dem unteren Teil. Nach seinem Tod im Jahre 1750 wurde Bachs Leichnam zunächst auf dem Leipziger Spitalfriedhof der Johanniskirche beigesetzt. Erst später hatte man ihn in die Thomaskirche umgebettet. Weil aufgrund der längst abgeschlossenen Verwesung nur noch die Gebeine des Komponisten geborgen werden konnten, waren weitere Maßnahmen der Erhaltung nicht mehr erforderlich. »Das gibt's doch nicht«, flüsterte Kroll. Er sah wieder in das offene Grab. Dann atmete er einmal tief durch. »Wissen wir schon, ob etwas fehlt?«
»Dr. Schmidt ist bereits unterwegs. Er müsste jeden Moment hier eintreffen.« Reis legte Kroll seinen Arm auf die Schulter. »Komm. Wir setzen uns mal in eine der Bänke. Hier stehen wir ja eh nur im Weg.«
Sie setzten sich in die erste Reihe der Kirchenbänke. Es dauerte nicht lange, bis Bernhard Brecht, der Thomaspfarrer, zu ihnen kam. Er war Ende 40 und hatte eine sportliche Figur. Die schon ergrauten Haare hatte er auf eine Länge von fünf Millimetern gestutzt. Er trug Jeans, ein dunkelblaues Jackett und ein weißes Hemd mit offenem Kragen. Seine intelligenten blauen Augen flackerten unruhig. Er gab den Beamten die Hand.
»Das ist ja unvorstellbar! Hat man heute vor gar nichts mehr Respekt? Weder vor der Totenruhe noch vor dem großen Komponisten? Diese Kirche ist doch ein Ort des Glaubens und des Friedens. Wer könnte so etwas getan haben?«
Erst nachdem der Staatsanwalt Kroll kurz vorgestellt hatte, beantwortete er die Frage. »Glauben Sie mir, Herr Pfarrer, wenn Sie unseren Job machen würden, stellten Sie die Frage nach so etwas wie Respekt nicht mehr. Den erleben wir leider höchst selten.«
Der Pfarrer setzte sich ungläubig neben die Beamten. Dr. Schmidt eilte an ihnen vorbei. Er grüßte kurz mit einem Handzeichen und betrat den Altarraum.
»Wer könnte so etwas getan haben?«, wiederholte der Thomaspfarrer fassungslos seine Frage.
Staatsanwalt Reis versuchte, ihn zu beruhigen. »Wir müssen leider abwarten, was die Ermittlungen ergeben.« Er zuckte mit den Schultern. »Es gibt so viele Möglichkeiten. Es könnte ein fanatischer Bachfan sein oder jemand, der Bach nicht mag. Es könnte ein kranker Sammler sein, es gibt sicher auch einen Markt für Reliquien. Es könnte jemand sein, der die Kirche nicht mag, der Musik nicht mag oder der einfach nur Aufmerksamkeit erregen will.«
Der Pfarrer nickte.
»Oder es ist etwas, woran wir noch gar nicht gedacht haben«, ergänzte Kroll nachdenklich. Er ahnte nichts Gutes.
Pfarrer Bernhard Brecht war immer noch bestürzt. »Verstehe. Ich bin einfach nur fassungslos.« Er sah auf die Uhr. »Wie lange brauchen Ihre Mitarbeiter noch?«
Kroll schaute in den Altarraum. »Mit Sicherheit noch einen halben Tag, mindestens.«
»Wir müssen den Gottesdienst absagen«, murmelte der Pfarrer geistesabwesend. »Wenn wir Glück haben, kann sich die Gemeinde wenigstens noch zum Mittagsgebet um zwölf versammeln.«
Kroll ging nicht auf die Sorge des Pfarrers ein. »Ist in der letzten Zeit irgendetwas Ungewöhnliches vorgefallen? Gab es Drohungen? Hat sich irgendjemand auffällig verhalten? Gab es eigenartige Anrufe oder Begegnungen?«
Brecht schüttelte den Kopf. »Also bei mir nicht. Es gab nichts Unübliches. Es war eigentlich alles so wie immer.«
Der Rechtsmediziner Dr. Schmidt kam auf sie zu. »Ich konnte mir natürlich erst einen kurzen Überblick verschaffen. Wir bringen das gesamte Skelett in die Rechtsmedizin. Ich muss mir die Sache genauer ansehen.«
»Hast du schon was gefunden?«, hakte Kroll nach.
»Es fehlt auf jeden Fall die rechte Hand.«
»Die rechte Hand?« Kroll und Reis sahen sich ungläubig an.
»Sonst nichts?«
Dr. Schmidt lächelte freudlos. »Das menschliche Skelett besteht aus über 200 Knochen. Das muss man jetzt genauer abklären. Die Untersuchung wird natürlich nicht einfach. Bach wurde zweimal umgebettet. Ich weiß auch nicht, ob dabei nicht schon etwas verloren gegangen ist. Immerhin wurde Bach vor über 250 Jahren beerdigt. Da ist eine Menge Recherchearbeit notwendig.«
»Bachs Gesicht wurde anhand des Schädels rekonstruiert«, ergänzte der Pfarrer. »Darüber gibt es doch bestimmt alte Aufzeichnungen.«
Dr. Schmidt überlegte kurz. »Das ist ein wichtiger Hinweis. Ich hoffe, die haben dabei eine Bestandsaufnahme des gesamten Skeletts gemacht.«
Der Rechtsmediziner verabschiedete sich und ging.
Brecht wandte sich besorgt an die Beamten. »Wie lange werden denn diese Untersuchungen dauern? Bach gehört ja schließlich in diese Kirche und nicht in ein Labor.«
»Das wissen wir«, beruhigte ihn Reis. »Wir werden ihn keinen Tag länger untersuchen als notwendig.«
Kroll ging zum Leiter der Spurensicherung. Er rieb sich die Augen. »Sag mir einfach deinen ersten Eindruck.«
»Das ist ein öffentlicher Raum, Kroll. Hier sind Spuren ohne Ende. Bis wir die alle gesichert haben, ist der Tag vorbei.« Er grinste sarkastisch. »An die Auswertung der Spuren will ich gar nicht denken.«
Kroll sah kurz in Richtung des Kirchenschiffs. Der Pfarrer und der Staatsanwalt waren in ein Gespräch vertieft. »Sichert alle Spuren, die ihr finden könnt. Egal, wie lange das dauert. Wir dürfen hier keinen Fehler machen!«
»Wir müssen erst einmal rauskriegen, wie er die Platte weggekriegt hat. Die ist ziemlich schwer. So was geht nicht, ohne Spuren zu hinterlassen. Der Täter hat wahrscheinlich ein Stemmeisen benutzt. Beim Hebeln fallen normalerweise immer brauchbare Spuren ab. Hautschuppen, Schweiß, Speichel.«
Kroll sah sich um. »Der Altarraum ist sonst immer...
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