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15.5.2014
Dieser Ort könnte aus einem - vermutlich nicht sehr guten - Roman stammen: ein altes, geschmackvoll renoviertes Bauernhaus in den Hügeln der Toskana, eine Stunde östlich von Florenz. Die Wände des Hauses sind von blühendem Jasmin und von Lupinen überwuchert. Hinter der hohen Mauer, die das Grundstück umgibt, liegt der weitläufige Garten, eine Wiese, auf der Rosenbüsche und Olivenbäume wachsen, begrenzt von einem steil abfallenden Bambushain, durch den eine Steintreppe hinunter zum Pool führt. Etwas abseits steht ein alter, ausgebauter Wachtturm, in dessen erstem Stock sich meine Zimmer befinden. Morgens um neun, während ich dabei bin, in der großen dunklen Küche, im Erdgeschoss des Turms, Kaffee zu kochen, bringt Nadia, die rumänische Putzfrau, frisches Brot. Das Mittagessen um zwei wird bei diesem heißen Wetter wohl wieder auf der überdachten Terrasse neben dem Schwimmbecken eingenommen. Bis dahin wird niemand mich stören. Den ganzen Vormittag lang sitze ich unter einer Laube vor dem Turm, der Blick geht über bewaldete Hügel und kleine Dörfer in der Ferne. Dann und wann huscht eine Eidechse vorüber oder einer der vier Hunde trottet vorbei und wirft mir aus den Augenwinkeln einen scheelen Blick zu. In der Ferne ruft ein Kuckuck, Bienen erfüllen die Luft mit einem stetigen Summen.
Ich befinde mich seit einer Woche in Santa Maddalena, dem Heim von Gregor von Rezzori, einem Schriftsteller aus der Bukowina, der dieses Anwesen zusammen mit seiner Frau, der Contessa Beatrice Monti della Corte, in den sechziger Jahren kaufte. Beatrice hatte zuvor eine einflussreiche Galerie in Milano geführt, kannte Alberto Giacometti, Marcel Duchamp, Henri Cartier-Bresson. Sie stellte als Erste in Italien die jungen Künstler jener Zeit aus, mit denen sie auch befreundet war, Francis Bacon, Robert Rauschenberg, Jasper Johns, Mark Rothko. Berühmte Schriftsteller und Künstler gingen im Haus ein und aus. Nach dem Tod ihres Mannes 1998 gründete Beatrice eine Stiftung und fuhr fort, Autorinnen und Autoren einzuladen, damit sie in Ruhe schreiben konnten und ihr bei den Mahlzeiten Gesellschaft leisteten. Die meisten Gäste stammen aus angelsächsischen Ländern.
Man kann sich nicht um einen Aufenthalt in Santa Maddalena bewerben, man bekommt irgendwann eine E-Mail von Beatrice, in der sie schreibt, sie habe einige Bücher von einem gelesen und Gefallen daran gefunden, ob man einen Monat bei ihr, mit ihr, in der Toskana verbringen wolle. Einem Ort, wo - wie der Pulitzerpreisträger Michael, einer der anderen Gäste, sagt - privilegierte Autoren noch mehr privilegiert werden. Außer uns beiden ist Alba hier, Tochter eines berühmten jüdischen Malers, die vor kurzem ein Buch über ihre Kindheit in Paris veröffentlicht hat, Javier, ein junger spanischer Autor und eine Art Assistent von Beatrice, und Emma, eine noch jüngere Amerikanerin aus guter Familie, die früher für Beatrice gearbeitet hat und jetzt zu Besuch da ist. Zu den Mahlzeiten kommen oft Nachbarn oder Freunde des Hauses vorbei, Bernardo Bertolucci gehört dazu und Isabella Rossellini. Am Wochenende, bei einer großen Gartenparty, war neben der Florentiner Hautevolee auch Volker Schlöndorff hier, dem früher das Nachbarhaus gehörte.
Während meiner ersten Tage in Santa Maddalena korrigierte ich die Fahnen meines neuen Romans, eine leichte Arbeit, die mehr Konzentration als Kreativität erforderte. Nachdem ich die letzten Änderungen an den Verlag geschickt hatte, begann jene seltsame Zeit zwischen zwei Projekten, während der alles offen ist. Woran arbeite ich als Nächstes? Stelle ich eine Erzählsammlung zusammen? Schreibe ich einen Roman? Wovon wird er handeln? Manche Autoren fürchten diese Zeit, ich liebe sie. Die Kunst besteht darin, im richtigen Moment mit der Arbeit zu beginnen. Entscheidet man sich zu schnell und unüberlegt, kann es passieren, dass man nach einigen Monaten, nach einem Jahr, die Reise abbrechen muss, weil sie zu keinem Ziel führt. Entscheidet man sich zu spät, kommt man leicht ins Zaudern, und plötzlich scheint jede Idee gleich tauglich, und man kann sich für keine mehr entscheiden. Oder man hat so lange an einem Projekt herumgedacht, dass eine weitere Beschäftigung damit nichts Überraschendes mehr verspricht und einen langweilt. Ich beschließe, diese Poetikvorlesung zu schreiben, auch wenn ich sie erst in einem Jahr halten werde. Ich arbeite nicht gern unter Druck, und ich möchte mein nächstes Prosaprojekt nicht unterbrechen müssen, wenn die Zeit plötzlich knapp wird. Außerdem finde ich es angemessen, eine Vorlesung, die ich im Frühling halten werde, auch im Frühling zu schreiben.
Ich beginne mit einem Ort. Ich habe über die Jahre gelernt, dass jeder Text einen ganz konkreten Ort haben muss, selbst wenn dieser im Text keine große Rolle spielt. Der Ort bildet die gesättigte Lösung, in der sich der Kristall des Textes bildet. Jetzt brauche ich nur noch einen Kristallisationskern, an dem sich die Moleküle anlagern können.
»Wer erzählt, hat eine Frage«, sagte Judith Kuckart vor einigen Jahren in ihrer Essener Poetikvorlesung. Am Anfang meiner Texte steht oft eine Frage. Jene, die am Anfang von »Sieben Jahre«, meinem vierten Roman, stand, war: »Hat jemand Macht über mich, der mich liebt, auch wenn ich ihn nicht liebe?« Eine der Fragen hinter meinem letzten Roman, »Nacht ist der Tag«, lautete: »Welche Beziehung besteht zwischen meiner Persönlichkeit und meinem Äußeren?« Ich habe mir diese Frage immer wieder gestellt. Den ersten Text, der auf ihr beruht, schrieb ich vor zwanzig Jahren, ein gescheiterter Roman mit dem Arbeitstitel »Akt«. Weniger komplexe Fragen ergeben Erzählungen:
Wie würde ich reagieren, wenn Andrej, ein russischer Freund, dessen Frau an Krebs erkrankt ist, mich um Geld für ihre Behandlung bitten würde? (»Wie ein Kind, wie ein Engel«)
Warum lebte eine junge Frau, von der ich in der Zeitung las, vier Jahre lang allein im Wald, während sie jeden Tag die Schule besuchte? (»Im Wald«)
Was geschieht, wenn ich eines Abends vergesse, mein Kind von der Krippe abzuholen? (»Wir fliegen«)
Was tut ein Pfarrer, der mit einer jungfräulichen Empfängnis konfrontiert wird, auf der sein ganzer Glauben basiert, aber mit der er nie gerechnet hat? (»Kinder Gottes«)
Was empfindet eine alte Frau, die nach dem Tod ihres Mannes Briefe seiner Geliebten findet, von der sie nicht gewusst hat? (»Der Brief«)
Die Frage, mit der ich diese Vorlesung beginnen will, stammt von einem anderen Autor. Bruce Chatwin, der Reiseschriftsteller, war ein enger Freund von Beatrice und Gregor und Stammgast in Santa Maddalena. Vielleicht hat er sich hier an diesem Granittisch unter der Laube jene Frage gestellt, die den Titel seines wohl bekanntesten Buches bildet: »What am I doing here?« Was tue ich hier? Die Frage ist komplexer, als sie zunächst erscheinen mag. Die einfachste Antwort: Ich schreibe eine Poetikvorlesung für Bamberg, ich schwimme im Pool, esse und trinke und rauche zu viel, gehe spät ins Bett und stehe spät auf. Ich unterhalte mich mit Kolleginnen und Kollegen über Literatur, über Musik, über Autorinnen und Autoren, die wir mögen, die wir nicht mögen, die wir verachten oder verehren. Die Welt der Literatur ist kleiner, als man denken könnte, sie ist wie ein Park, durch den Menschen spazieren. Man begegnet sich, spricht ein paar Worte, geht weiter, sieht sich wieder in einer Woche oder in einem Jahr, man mag sich, teilt ein Stück des Weges, arbeitet vielleicht sogar zusammen, verstreitet sich, geht sich aus dem Weg, und kann doch nicht vermeiden, sich wieder zu begegnen.
Aber die Frage »Was tue ich hier?« ist damit nicht erschöpfend beantwortet. Sie führt letztlich zu den Fragen nach dem Schreiben, nach dem Leben überhaupt, die nicht zu beantworten sind und gerade deshalb so fruchtbar für die Literatur. Solche Fragen sind wie Katalysatoren, die den Denkprozess anregen, ohne dabei verbraucht zu werden. Der Text ist der Weg, den man beim Suchen nach der Antwort zurücklegt. Und ob das Ende ein glückliches oder ein unglückliches wird, hängt vielleicht davon ab, ob man sich mit dem Scheitern abfindet oder ob man sich dagegen auflehnt.
Was tue ich hier? Ich will die Frage einschränken, will sie verstehen als: Warum tue ich das, was ich tue, und nicht etwas anderes? Eine Frage, die mich in meine Kindheit und Jugend zurückführt. Ich gehöre nicht zu den Autoren, die schon immer schreiben wollten und mit acht oder zehn oder zwölf ihren ersten Roman verfassten. Meine Berufswünsche waren so disparat wie meine Interessen: Schiffbauer, Professor (ohne ein bestimmtes Fachgebiet), Koch, Werbefachmann, Fotograf, später Physiker und Kriminologe. Was sie mit meinem jetzigen Beruf, dem Schreiben, verbindet, ist vielleicht ihre Gegensätzlichkeit. Sie sind nur in der Phantasie unter einen Hut zu kriegen, als nicht realisierte Möglichkeiten. Ich kann mir in einem Leben vorstellen, ein Koch zu sein, ein Schiffsbauer, ein Fotograf oder ein Polarforscher. Entscheide ich mich für eine dieser Möglichkeiten, muss ich die anderen aufgeben.
Schriftsteller zu werden hat weniger mit dem Schreiben zu tun, als man denken könnte. Wer in der Schule gute Aufsätze schrieb, hat kaum bessere Chancen in diesem Beruf als jede und jeder andere auch. Schreiben lernt (fast) jeder in der Schule, Schreiben kann man auch später noch lernen. Erzähler kann man auch sein, wenn man nicht schreiben kann. Am Anfang des Erzählens steht nicht...
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