Schweitzer Fachinformationen
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May God forgive the hands that fed
The false lights over the rocky head!
John Greenleaf Whittier
Ich wusste nicht, ob ich die richtige Nummer gewählt hatte. Auf dem Anrufbeantworter war nur klassische Musik zu hören, dann ein Pfeifton und dann die erwartungsvolle Stille der Aufnahme. Ich rief noch einmal an. Wieder kam nur die Musik, und ich hinterließ eine Nachricht. Eine halbe Stunde später rief Lotta zurück. Als wir uns besser kannten, erzählte sie mir von Joseph. Er sei der Grund, weshalb sie den Beantworter nicht bespreche. Er dürfe nicht wissen, dass sie zurück sei in der Stadt.
Lotta war Finnin und wohnte im West Village auf Manhattan. Ich brauchte für einige Zeit eine Wohnung. Eine Agentur hatte mir Lottas Nummer gegeben.
»Ich muss die Wohnung manchmal vermieten«, sagte Lotta, »wenn ich keine Arbeit habe.«
»Und wo wohnst du in der Zwischenzeit?«, fragte ich.
»Meistens bei Freunden«, sagte sie, »aber diesmal habe ich noch niemanden gefunden. Weißt du einen Platz für mich?«
Die Wohnung war groß genug, und so bot ich ihr an zu bleiben. Sie willigte sofort ein.
»Du darfst das Telefon nie direkt abnehmen«, sagte sie. »Warte immer, bis du weißt, wer dran ist. Wenn du mich anrufen willst, ruf mich. Dann stelle ich den Beantworter ab.«
»Warst du da, als ich zum ersten Mal anrief?«, fragte ich.
»Ja«, sagte sie.
Lotta wohnte im vierten Stock eines alten Hauses in der 11th Street. Alles war schwarz in der Wohnung, die Möbel, das Bettzeug, die Teppiche. Einige vertrocknete Kakteen standen auf dem kleinen eisernen Balkon, der auf einen Hinterhof hinausging. Auf der Kommode neben Lottas Bett und auf dem Glastisch mit dem Anrufbeantworter lagen verstaubte Muscheln und Korallenästchen. In den wenigen Lampen steckten rote und grüne Glühbirnen, die die Räume abends in ein seltsames Licht tauchten, als stünden sie unter Wasser.
Als ich die Wohnung besichtigt hatte, war Lotta im Pyjama an die Tür gekommen, obwohl es schon Mittag war. Nachdem sie mir alles gezeigt hatte, ging sie sofort zurück ins Bett. Ich hatte sie gefragt, ob sie krank sei, aber sie hatte den Kopf geschüttelt und gesagt, sie schlafe einfach gern.
Als wir dann zusammen wohnten, stand sie nie vor Mittag auf und ging meistens vor mir wieder zu Bett. Sie las viel und trank Kaffee, aber ich sah sie kaum je essen. Sie schien von Kaffee und Schokolade zu leben. »Du musst gesünder essen«, sagte ich, »dann bist du nicht immer so müde.«
»Aber ich schlafe gern«, sagte sie und lachte.
Mit uns lebte eine ganz junge schwarze Katze. Lotta hatte sie geschenkt bekommen und Romeo getauft. Später hatte sie erfahren, dass Romeo ein Weibchen war, aber der Name war geblieben.
Es war Oktober. Ich traf alte Freunde, Werner und Graham, die bei einer Bank arbeiteten. Ich schlug ihnen vor, für ein langes Wochenende ans Meer zu fahren. Graham sagte, wir könnten sein Auto nehmen, und ich lud Lotta ein, mit uns zu kommen. An einem Freitagmorgen fuhren wir los. Wir wollten nach Block Island, einer kleinen Insel, hundert Meilen östlich von New York.
Noch in Queens machten wir zum ersten Mal halt. Unsere Abfahrt hatte sich verzögert, und wir waren hungrig. An einem kleinen Imbissstand direkt an der Hauptstraße aßen wir Hotdogs. Lotta trank nur Kaffee. An einer Kreuzung, nicht weit von uns entfernt, stand ein Schwarzer. Er hatte eine Pappschachtel mit vakuumverpacktem Fleisch neben sich. Wenn die Ampel rot wurde, ging er von Auto zu Auto und versuchte, das Fleisch zu verkaufen. Als er uns sah, kam er mit einem der Pakete in der Hand auf uns zugerannt. Wir unterhielten uns eine Weile mit ihm. Sein Französisch war besser als sein Englisch, und wir fragten ihn, wie es ihn ausgerechnet nach Queens verschlagen habe. Er ging auf all unsere Scherze ein, hoffte wohl bis zuletzt, dass wir ihm etwas abkaufen würden. Als wir schon losfuhren, lächelte er noch, hob sein Fleisch in die Höhe und rief uns etwas nach, das wir nicht mehr verstanden.
Wir waren mit der letzten Fähre an diesem Tag auf die Insel gekommen. Das Auto hatten wir auf einem fast leeren Parkplatz auf dem Festland zurückgelassen. Die Überfahrt dauerte zwei Stunden, und obwohl es kalt war, blieb Werner die ganze Zeit über draußen an der Reling stehen. Wir anderen saßen in der Cafeteria. Das Schiff war fast leer.
Direkt am Hafen der Insel stand ein großes, heruntergekommenes Jugendstilhotel. Nicht weit davon entfernt fanden wir eine einfache Pension in einem leuchtend weiß gestrichenen Holzhaus. Es war selbstverständlich, dass Lotta mit mir das Zimmer teilte.
Vom Meer her wehte ein heftiger Wind. Trotzdem beschlossen wir, noch vor dem Abendessen einen Spaziergang zu machen. Am Strand entlang führte eine Promenade aus grauverwittertem Holz. Außerhalb des Dorfes hörte sie plötzlich auf, und wir mussten durch den Sand weitergehen.
Werner und ich gingen nebeneinander. Er war sehr schweigsam. Graham und Lotta hatten die Schuhe ausgezogen und suchten näher am Wasser nach Muscheln. Sie blieben bald zurück. Nur manchmal hörten wir noch einen Schrei oder Lottas hohes Lachen durch das Lärmen der Brandung.
Als wir eine Weile gegangen waren, setzten Werner und ich uns in den Sand, um auf die beiden zu warten. Im Gegenlicht sahen wir ihre Silhouetten schwarz vor dem glitzernden Wasser.
»Was machen die so lange da unten?«, fragte ich.
»Muscheln suchen«, sagte Werner ruhig. »Wir sind weit gegangen.«
Ich kletterte auf eine Düne, um zurückzuschauen. Sand kam in meine Schuhe, und ich zog sie aus. Das Dorf war weit entfernt. In einigen Häusern brannte schon Licht. Als ich zurückkam, war Werner zum Ufer hinuntergegangen. Lotta und Graham saßen im Windschatten der Düne. Sie hatten ihre Schuhe wieder angezogen. Ich setzte mich neben sie, und wir schauten schweigend zum Meer, wo Werner Muscheln oder Steine ins Wasser warf. Der Wind trieb den Sand in Wirbeln über den Strand.
»Ich friere«, sagte Lotta.
Auf dem Rückweg ging ich neben Lotta und half ihr, die gesammelten Muscheln zu tragen. Meine Schuhe hatte ich an den Schnürsenkeln zusammengeknotet und über die Schultern gehängt. Der Sand war kalt geworden. Graham lief voraus, Werner folgte uns in einiger Entfernung.
»Graham ist nett«, sagte Lotta.
»Sie arbeiten bei einer Bank«, sagte ich, »er und Werner. Aber sie sind o.k.«
»Wie alt ist er?«
»Wir sind alle gleich alt. Wir sind zusammen zur Schule gegangen.«
Lotta erzählte von Finnland. Sie war auf einem Bauernhof aufgewachsen, nördlich von Helsinki. Ihr Vater hatte Stiere gezüchtet. Lotta war schon früh von zu Hause weggegangen, erst nach Berlin, dann nach London, nach Florenz. Schließlich, vor vier oder fünf Jahren, war sie nach New York gekommen.
»Letzte Weihnachten habe ich meine Eltern besucht. Zum ersten Mal seit Jahren. Meinem Vater geht es nicht gut. Ich wollte erst dableiben, aber im Mai bin ich dann doch zurückgekommen.« Sie zögerte. »Eigentlich bin ich nur wegen Joseph gegangen.«
»Was war denn mit Joseph? Wart ihr ein Paar?«
Lotta zuckte mit den Achseln. »Das ist eine lange Geschichte. Die erzähle ich dir ein andermal.«
Kurz vor dem Dorf schauten wir uns nach Werner um. Er war weit zurückgeblieben und ging langsam, nahe am Wasser entlang. Als er sah, dass wir auf ihn warteten, winkte er und kam schneller auf uns zu.
Wir aßen in einem kleinen Fischrestaurant. Lotta sagte, sie sei Vegetarierin, aber Graham meinte, Fisch dürfe sie trotzdem essen. Wir luden sie ein, und sie aß von allem, aber trank keinen Wein.
Wenn Lotta eine Weile geschwiegen hatte, fielen Graham und ich manchmal in unsere Muttersprache. Werner sagte nichts, und Lotta schien es nicht zu stören. Sie aß langsam und konzentriert, als müsse sie sich jede Bewegung in Erinnerung rufen. Sie merkte, dass ich sie beobachtete, lächelte mir zu und aß erst weiter, als ich meinen Blick abgewandt hatte.
Nachts trug Lotta einen rosaroten Pyjama mit einem aufgestickten Teddybären. Ihr blondes Haar war kurz geschnitten. Sie musste über dreißig sein, aber sie wirkte wie ein Kind. Sie lag auf dem Rücken und hatte die Bettdecke bis zum Kinn hochgezogen. Ich hielt den Kopf aufgestützt und schaute sie an.
»Willst du immer in New York bleiben?«, fragte ich.
»Nein«, sagte Lotta, »ich mag das Klima nicht.«
»Finnland ist auch nicht besser«, sagte ich.
»Zu Hause war mir immer kalt. Ich möchte nach Trinidad. Ich habe Freunde dort.«
»Du hast viele Freunde.«
»Ja«, sagte Lotta.
»Jetzt hast du auch Freunde in der Schweiz.«
»Ich möchte einen kleinen Laden haben auf Trinidad«, sagte sie. »Kosmetik, Filme, Aspirin und so . von hier direkt importiert. Das gibt es dort nicht. Oder es ist sehr teuer.«
»Spricht man Englisch auf Trinidad?«, fragte ich.
»Ich glaube. Meine Freunde sprechen Englisch . und es ist immer warm.«
Unten fuhr ein Auto vorüber. Das Scheinwerferlicht, das durch die Jalousien fiel, wanderte durchs Zimmer, über die Decke und erlosch plötzlich, dicht über unserem Bett.
»Du bist sehr frei«, sagte ich. Aber da war Lotta schon eingeschlafen.
Wir trafen Werner und Graham beim Frühstück.
»Habt ihr gut geschlafen?«, fragte Graham grinsend.
»Ich mag es, wenn man das Meer vom Bett aus hört«, sagte ich.
»Ich war müde«, sagte Lotta.
Werner aß schweigend.
Vor dem Mittag begann es zu regnen, und wir gingen ins Lokalmuseum. Es war in einem kleinen weißen Schuppen untergebracht. Über die Geschichte von Block Island gibt es nicht viel zu sagen. Die Insel wurde irgendwann von...
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