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Bagneux? Bagneux.
Bourg-la-Reine? Bourg-la-Reine.
Parc de Sceaux? Parc de Sceaux.
Das ist mir nie aufgefallen, sagt Judith.
Mir wäre es auch nicht aufgefallen, wenn Richard mich nicht darauf aufmerksam gemacht hätte.
Der zweite Teil von In einer dunkelblauen Stunde beginnt mit einer Beobachtung, von der der Schriftsteller Richard Wechsler der Filmemacherin Andrea schon im ersten Teil berichtet hatte:
Ist Ihnen aufgefallen, wie in Paris die Métrostationen angesagt werden?, fragt Wechsler. Erst mit ansteigender, fragender Stimme: Odéon? Und wenn der Zug anhält, die Bestätigung mit abfallender Stimme: Odéon.
Ein bisschen betrogen habe ich hier. Im Gegensatz zu den meisten Métrolinien werden die Stationen in der RER, die nach Antony, Wechslers Wohnort, fährt, nicht angesagt. Aber das wird wohl nicht einmal den Parisern auffallen.
Solche teilnahmslosen Stimmen sind in meinen Texten immer wieder aufgetaucht. Kathrine in Ungefähre Landschaft hörte sich den Seewetterbericht im Radio an, eine endlose Aufzählung von Orten und Windgeschwindigkeiten, der Lehrer Andreas aus An einem Tag wie diesem hört im Auto Sprachkurse, eine Übung für die Verwendung reflexiver Verben. Die Zeitansage im Radio, die es längst nicht mehr gibt, wird in einigen meiner Geschichten erwähnt. In der Ausstellung Röschenhof, die ich zusammen mit der Künstlerin Daniela Keiser vor zwanzig Jahren im Kunstmuseum Solothurn realisierte, verwendete ich Ansagen von Anrufbeantwortern großer Institutionen, die ich außerhalb der Öffnungszeiten angerufen hatte. Eine Ansage, die für alle, die für unser ganzes Leben stehen könnte, hörte ich, als ich zur Unzeit das Weiße Haus in Washington D.C. anrief: »You'll experience silence, while you're waiting.«
Stimmen, die Fakten aufzählen, Öffnungszeiten, Bahnstationen, Listen von Wetterdaten, Stimmen, die die aktuelle Zeit ansagen, die Wegbeschreibungen von Yanick oder Steffi auf meinem GPS-Gerät. Ist das die Literatur eines säkularen Zeitalters? Eine Bestandsaufnahme, eine Liste von allem, was ist? Das Ende der Geschichte? Das Ende der Geschichten? Oder deren Anfang? Die erste und einfachste Form, die Welt zu lesen und in eine Form zu bringen, habe ich in meiner Wiesbadener Poetikvorlesung von 2004 geschrieben, ist die Liste. Wenn Kinder sprechen lernen, sind ihre ersten Worte nicht Hunger oder Durst, sondern die Namen der Dinge, die sie wahrnehmen, Mama, Papa, Katze, Auto, aus purer Freude, dass Dinge Namen haben, mit denen man sie abbilden kann. Denn Dinge benennen heißt, sie beherrschen.
Wenn es mir schlecht geht - sagt Richard Wechsler zu Andrea -, fahre ich manchmal mit der Métro herum und lasse mir von dieser teilnahmslosen Frau bestätigen, dass alles noch so ist, wie es immer war, wie es sein soll.
Aber es ist nichts mehr, wie es sein soll. Richard Wechsler ist gestorben, der Film, den Andrea und Tom über ihn machen wollten, wird nie zustande kommen. Andrea hat das Filmen aufgegeben, hat eine Stelle bei einer Versicherung angenommen und sich von Tom getrennt. Die Geschichte könnte hier zu Ende sein.
Der Film, den Georg Isenmann und Arne Kohlweyer darüber machen wollten, wie ich dieses Buch schrieb, fing hingegen gerade erst an zu entstehen. Mitte Juli 2021 machten wir in Paris erste Aufnahmen, von denen ich einer alten Freundin berichtete:
privat ist der film eigentlich nicht, in den fragen geht es immer nur um das buch. die aufnahmen sind allerdings hochkünstlich, wie du vermutest. da gehe ich dann hin und her, bitte noch einmal und noch einmal. ziemlich langweilig war das, und dann waren es auch noch die drei heißesten tage. aber ich habe es gut überstanden, jetzt gehört meine zeit wieder mir und gedreht wird frühestens wieder im august.
Einige Tage später schrieb ich ihr:
ja, ich bin wohl altersmilde geworden. ich wünsche meinen figuren nichts böses, ich weiß nicht, ob das eine schwäche ist. im neuen buch, an dem ich gerade schreibe, stirbt aber wohl jemand. und dann auch noch der autor! was das wohl zu bedeuten hat.
War ich mir also noch nicht sicher, ob Richard Wechsler wirklich sterben würde? Obwohl in den wenigen Seiten des zweiten Teils, die ich schon geschrieben hatte, bereits seine Beerdigung beschrieben wurde? Ich hatte meine Mail mitten in der Zeit der Sommerferien geschrieben und bekam erst zwei Wochen später, Mitte August, eine Antwort:
Warum lässt du denn den Autor sterben? Ich muss mir aber keine Sorgen machen, oder?
Genau in diesen Tagen fing ich selbst an, mir Sorgen zu machen. Ich antwortete:
wir sind auch längst zurück aus den ferien und ich bin seit vier tagen schon wieder in paris. ich muß mir blöderweise irgendeine infektion zugezogen haben, jedenfalls bin ich, seit ich hier bin, völlig erschöpft und schlafe schlecht, aber jeden tag geht es etwas besser.
nein, du mußt dir keine sorgen machen, weil ich meinen autor vielleicht sterben lasse. im moment ist es ohnehin noch nicht sicher, vielleicht wird es auch nicht wirklich ein physisches sterben, eher eine art dematerialisierung. na, du wirst sehen, bzw. ich werde sehen.
Im Gegensatz zu Richard Wechsler starb ich nicht, aber ich war zum ersten Mal in meinem Leben ernsthaft krank, besser gesagt, es bestand der Verdacht, dass ich ernsthaft krank sein könnte. Meine Symptome waren etwas besser geworden, aber nach meiner Rückkehr in die Schweiz Ende August standen Untersuchungen an, und dank der unvorsichtigen Bemerkung einer Ärztin musste ich einige Wochen lang mit dem Schlimmsten rechnen. Wenigstens konnte ich diese Erfahrung im Buch verwenden, denn obwohl Richard Wechsler am Beginn des zweiten Teiles schon tot und begraben ist, taucht er in den Erinnerungen und in den Fantasien von Andrea, in ihren Gesprächen mit Judith immer wieder auf. Hier erinnert sie sich an ein Telefongespräch, das sie kurz vor seinem Tod mit ihm geführt hatte:
Ich habe eine Scheißangst, sagt er. Und dann fühle ich mich wieder ganz leicht und frei. Ich sehe die Welt jetzt anders, alles ist irgendwie intensiver, die Angst, aber auch die Freude. Bei jedem alten Mann, bei jeder alten Frau auf der Straße, denke ich, geschenkte Jahre. Wisst ihr überhaupt, was ihr da bekommt jeden Tag? Und dass ihr noch herumgehen könnt und Kaffee trinken und einkaufen, den Hund spazieren führen. Wenn ich Kinder sehe, denke ich daran, wie lange sie noch da sein werden, ihr Leben führen, wenn ich längst gestorben bin. Wie ihre Welt aussehen wird, der Wald, die Stadt, ihre Wohnungen und Häuser, ihr Alltag. Ich habe die Schönheit von allem nie so genossen wie jetzt, und ich möchte nicht, dass es zu Ende geht. Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.
Dass Wechsler sich fragt, wie der Wald nach seinem Tod aussehen wird, ist eigentlich ziemlich absurd, da die meisten Wälder sich über Jahrzehnte kaum verändern, aber als das Wort einmal dastand, mochte ich es nicht mehr löschen. Romane vertragen auch solche kleinen Absurditäten und Unstimmigkeiten, solche Irritationen, die die Leserinnen und Leser aufmerken und stutzen lassen.
Meine Krankheit beschäftigte mich einen Monat lang, dann kam die Entwarnung, und allmählich ging es mir wieder besser. Ich saß an meinem heimischen Schreibtisch, mehr oder weniger gesund oder wenigstens auf dem Weg der Genesung.
Die drei Drehtage in Paris waren, wie ich geschrieben hatte, eher langweilig gewesen. Das soll kein Vorwurf an die Regisseure Georg und Arne oder an das tolle Filmteam sein. Wir hatten eine schöne Zeit zusammen, aber Filmaufnahmen sind wohl immer ein wenig langweilig, wenigstens für die Darsteller. Vieles muss wiederholt werden, alles soll stimmen, das Licht, der Ton, die Einstellung. Und wenn alles stimmt, fährt ein Krankenwagen vorbei oder ein tieffliegendes Flugzeug ruiniert die Aufnahme. Ich ging an der Seine entlang und noch einmal und noch einmal. Und noch einmal.
Auf die Frage der Filmemacher, an welchen Orten das Buch spielen würde, hatte ich vor einigen Monaten auch Trouville in der Normandie genannt, obwohl ich mir noch nicht sicher war, ob Andrea oder Wechsler dort landen würden. Ich war oft in Trouville gewesen. Wenn man von Paris aus ans Meer will - und ich will immer ans Meer -, ist es der am leichtesten und schnellsten erreichbare Küstenort. In Trouville aß ich 1983 während meines Jahres in Paris zum ersten Mal in meinem Leben Meeresfrüchte, und dorthin zog ich mich manchmal in den neunziger Jahren mit einem Freund zurück, um zu schreiben. Wir fuhren immer im Winter hin, wenn wenig los war, schrieben tagsüber und trafen uns abends zum Essen. Es gab damals in Trouville ein wunderschönes kleines Café mit einer Glasfront und einem Kanonenofen, wo den ganzen Tag über sanfter Jazz lief und vor allem Angestellte der öffentlichen Betriebe zu verkehren schienen, Müllmänner, Gendarmen, Feuerwehrleute. Das Café habe ich später nie wiedergefunden.
Ich fuhr also mit der Filmcrew nach Trouville, obwohl ich inzwischen bezweifelte, dass der Ort im Buch eine Rolle spielen würde. Aber geplant war geplant. Ich ging der Mole entlang, dem Strand, der Strandpromenade. Ich saß in der prallen Sonne am Strand und machte mir Notizen, weil Autoren sich Notizen machen. Der Ausflug war schön, die Aufnahmen wurden gut. Und nachdem mir die Kamerafrau geschworen hatte, mich...
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