PROLOG
Halloween 2019
»Na, wer traut sich?«
Die drei berüchtigten Serienkiller - Jason Voorhees, Michael Myers und Freddy Krueger - standen im südlichen Teil Londons am Fuß einer Einfahrt, die zu einem Bungalow hinaufführte. Dunkel lag das große, flache Gebäude dort oben, kaum auszumachen in der beginnenden Nacht. Nichts rührte sich und nirgends brannte ein Licht, hinter keinem Fenster, auch die Außenbeleuchtung nicht. Selbst die Lampen links und rechts der Toreinfahrt waren aus. Eigentlich ein Zeichen, dass hier heute Abend nichts zu holen war.
Aber der Reiz, es dennoch zu versuchen, war groß. Der Nervenkitzel lockte.
Drei Augenpaare blickten durch die Löcher in den Masken zum Bungalow hoch.
Hinter ihnen fuhr ein Auto vorbei. Geisterhaft huschte das Licht der Scheinwerfer über die Sträucher vor dem Haus, die Fassade und die Fenster, und .
»Da! Habt ihr das gesehen?«
Aufgeregt zeigte Freddy mit einem seiner Klingenfinger zum Bungalow hinauf.
»Nein, was denn?«, fragte Jason verdutzt.
»Ich hab's gesehen«, sagte Michael Myers. Seine Stimme klang leise, nicht nur wegen der Maske, unter der sie gedämpft hervordrang. Und die ihm, verdammt noch mal, zu groß war. Ständig rutschte ihm das blöde Ding in die Augen, und dann sah er nichts mehr, bis er die Maske aus schmutzig weißem Gummi wieder zurechtgezogen hatte.
Boah, und wie das stank! Als hätte sein großer Bruder, der ihm das Teil geliehen hatte, irgendwann mal hineingekotzt!
Egal jetzt. Das da oben, das hatte Michael gesehen - der übrigens wirklich so hieß. Im Gegensatz zu »Jason« und »Freddy«. Unter deren Halloween-Masken - die neu gekauft waren - steckten seine Freunde Jared (Freddy) und Matthew (Jason). Sie waren alle drei elf Jahre alt und seit dem Kindergarten beste Freunde. Und in diesem Jahr hatten sie zum ersten Mal allein losziehen dürfen an Halloween, ohne elterliche Aufsicht!
Aber natürlich die Ohren voll mit Instruktionen, was sie durften und was sie nicht durften, was sie tun und lassen und vor allem wovor sie sich hüten sollten - vor unverpackten Süßigkeiten zum Beispiel, und wenn ihnen jemand Obst gab, dann sollten sie nicht einfach reinbeißen; man kannte ja die Geschichten von Perversen, die Rasierklingen in Äpfeln versteckten und zu Halloween an arglose Kinder verteilten.
Michael, den - zu seinem Leidwesen - alle nur (den kleinen) Mikey nannten (sein großer Bruder war Michael und sein Dad Mike), Jared und Matthew hatten lange darüber diskutiert, ob das mit den Äpfeln wohl wirklich schon mal passiert sei. Aber nicht einmal Google hatte ihnen auf die Frage konkret Auskunft geben können. Allerdings konnten sie sich gut vorstellen, wie ein Kind aussehen würde, das so einen präparierten Apfel aß, und sie hatten es sich auch lebhaft ausgemalt.
Wie auch immer, mit annähernd dem gleichen Nachdruck wie vor Rasierklingen-Obst hatten ihre Eltern sie vor dem Bungalow dort oben gewarnt! Und nun standen sie, natürlich, trotzdem davor. Wenn auch in sicherem Abstand - noch.
»Hallo? Habt ihr nicht gehört? Wer traut sich?«, wiederholte »Freddy« seine Frage von vorhin. Bevor er und auch Mikey es gesehen hatten. Matthew nicht. Der brauchte eigentlich immer und für alles ein bisschen länger.
Was es gewesen war, hätte Mikey gar nicht sagen können. Weder vorhin, als er es gesehen hatte, noch jetzt, wo er es sich in Erinnerung zu rufen versuchte. Im Grunde war es nichts gewesen. Nur eine Bewegung an einem der Fenster, und vielleicht nicht einmal das. Vielleicht nur ein letzter Lichtreflex der Scheinwerfer des vorbeifahrenden Autos.
Nur hatte er, als er es gesehen hatte, auch das zwar kurze, aber ganz deutliche Gefühl gehabt, es hätte in diesem Moment auch ihn gesehen. Ihn angesehen.
»Ich trau mich«, erklärte Matthew. Er rückte seine Eishockey-Maske, die viel zu sauber war für einen Serienkiller, der laut Internet in allen »Freitag der 13.«-Filmen zusammen 146 Morde auf dem Kerbholz hatte, gewissenhaft zurecht, als wäre es das Helmvisier eines Ritters, der zum Turnier antrat. Dann setzte er sich in Bewegung und stapfte - er war auch in körperlicher Hinsicht der Schwerfälligste von ihnen - die Einfahrt hinauf.
Jared lugte unter seiner pizzagesichtigen Freddy-Krueger-Maske hervor und sah Mikey an.
»Und du?«
Mikey verzog das Gesicht unter der gruseligen Maske. Wieder rutschte sie ihm runter, und wieder sah er nichts mehr. Er schnaufte genervt.
»Hast du Schiss?«, hörte er Jared fragen. Er ließ die Plastikklingen-Finger seines Killer-Handschuhs spielen.
Mikey zog seine Maske ab und musste an sich halten, um das Scheißding nicht ins Gebüsch zu feuern. Aber sein Bruder wollte sie ja wiederhaben .
»Schiss? Nee«, sagte er.
»Aber?«, fragte Jared.
»Kommt ihr?«, rief Matthew, der die Einfahrt schon zur Hälfte hinter sich hatte.
»Ja, gleich!«, gab Jared zurück.
»Wenn ihr nicht kommt, sack ich alles alleine ein, wenn's was gibt!«, warnte Matthew und schwenkte den schon mit einigen Süßigkeiten gefüllten Beutel in seiner Hand. Sie waren schon seit fast einer Stunde unterwegs.
»Na, was ist?«, wandte Jared sich wieder an Mikey.
Der wischte sich über das Gesicht. Er hatte geschwitzt unter der Maske. Trotzdem fühlte sich seine Haut kalt und feucht an. Wie ein Fisch.
»Meinst du echt?«, fragte er und spähte die Einfahrt hoch. Der lichtlose Bungalow war schon fast eins mit der Nacht. Matthew hatte das Gebäude beinahe erreicht, seine Gestalt schien sich dort oben im Zwielicht aufzulösen.
»Warum denn nicht? Komm schon«, drängte Jared und klopfte ihm ermunternd auf die Schulter. Normalerweise verfehlte die Geste ihre Wirkung auf Mikey nicht. Heute schon.
»Du weißt, was man sich über das Haus erzählt«, sagte er.
»Du meinst, was man über den Mann sagt, der hier wohnt«, korrigierte Jared.
»Ist doch egal. Kommt aufs Gleiche raus.«
»Natürlich weiß ich, was die Leute reden.« Jared grinste. »Deshalb ist es doch so aufregend. Komm, Matthew ist schon oben.«
Mikey sah wieder zum Haus hinauf. In der Tat war ihr Freund nicht mehr zu sehen.
»Wir können ihn doch auch nicht alleine lassen«, versuchte es Jared jetzt auf eine andere Tour. »Wenn doch etwas dran ist an den Geschichten .«
»Was denn für Geschichten?«, fragte Mikey gleich. Geschichten hatte er nämlich noch keine gehört, weder über das Haus noch den darin lebenden Mann. Er hatte nur gehört, dass er komisch sei - komisch geworden sei, nach dem Tod seiner Frau und dem Verschwinden seines Sohnes .
. dieser unheimliche Mr Conolly.
Bill Conolly, genau, so hieß er.
Früher sei er sehr nett gewesen, sagten die Leute, die ihn schon länger kannten und seine Nachbarn waren. Umgänglich und freundlich. Ja, es sei auch da über die Jahre schon zu ein paar Vorfällen gekommen, die Anlass zu Fragen gegeben hätten. Fragen, die nie richtig beantwortet worden wären. Und natürlich sei das ein Nährboden für allerlei Gerüchte gewesen. Aber die Conollys hätten mit ihrer Liebenswürdigkeit alle aufkommenden Vorbehalte stets zerstreut.
So sagte man.
Aber seit Bill Conolly allein war, sprach man anders über ihn .
Mikey und Jared erstarrten!
Oben am Bungalow, ein Schrei, der ihnen schier das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Sie sahen sich an, entsetzt und fragend.
Matthew?
Dann, wie aus einem Mund und so schrill, wie der Schrei gewesen war:
»Matthew!«
Der schreckliche Schrei war verklungen, ihr Ruf nach dem Freund verhallte.
Ungehört?
Stille kehrte ein. Währte aber nur kurz.
Schritte waren zu hören, und sie kamen schnell und lauter werdend näher, vom Bungalow her, die Einfahrt herunter .
Eine Sekunde lang standen Mikey und Jared noch da, wie am Boden festgeklebt.
Dann warfen sie alles Hinderliche von sich und rannten auch schon.
VOR EINEM JAHR
Halloween 2018
»Auf unsere Toten, Sir James!«
»Und auf die Lebenden, Mr Conolly.«
»Hört, hört«, sagte Bill und trank.
Ein ausgezeichneter Tropfen. Wie es sich geziemte für diesen exquisiten Club. Er gehörte zu den renommiertesten nicht nur in London. Hier Aufnahme zu finden, schlicht auf eine Anfrage hin, war unmöglich. Auch eine Empfehlung half nicht. Neue Mitglieder durften in den Kreis dieser erlauchten Gentlemen nur dann eintreten, wenn die Natur einen Platz frei machte.
Bill Conolly war heute Abend auf Einladung von Sir James Powell hier. Sie hatten schon länger nichts mehr voneinander gehört. Seit John Sinclairs Tod und der Auflösung seiner Sonderabteilung bei Scotland Yard hatten sie im Grunde auch nichts mehr miteinander zu tun, keine Gemeinsamkeiten, sah man von der durchaus freundschaftlich zu nennenden Verbindung ab, die sie über die Jahre, da sie John bei der Geisterjagd unterstützten, entwickelt hatten.
Allerdings fürchtete Bill auch, dass ein regelmäßiger Kontakt zu Superintendent Powell nur unnötig immer wieder alte Wunden aufreißen würde, die ohnedies nicht verheilen wollten. Schließlich hätten sie - von Small Talk abgesehen - auch kaum andere Gesprächsthemen als die Erinnerungen an alte...