Schweitzer Fachinformationen
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1. ACHTUNG VOR SICH SELBST ERLANGEN
»Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde«, sprach meine Großmutter und schritt dabei beherzt voran. Ich hatte Mühe, ihr auf meinen kurzen Beinen zu folgen. Ich war zehn Jahre alt und kannte den Weg auswendig, so oft war ich ihn schon mit Großmutter gegangen. Und immer betete sie dabei den Rosenkranz. Und ich mit ihr: »Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige katholische Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden .« Dabei hatte ich keine Ahnung von der Vergebung der Sünden und ob es einen Heiligen Geist wirklich gab. Das bringt mir doch nichts, dachte ich, aber da waren wir auch schon am Ziel.
Auf dem Pilgerweg
Das Bruderkirchle liegt an der Steige, eine der alten Straßen, die durch den Schwarzwald auf die Baar führen. Stellen Sie sich den Schwarzwald in meinem Geburtsort Vöhrenbach gern so vor, wie es der Name schon sagt: Hier gibt es sie noch, die endlos dichten Tannen- und Fichtenwälder.
Im 19. Jahrhundert war das eine bettelarme Gegend. Die Winter dauerten von Oktober bis April, waren schneereich und kalt. Es versteht sich fast von selbst, dass man hier die Ursprünge der Schwarzwälder Uhrenindustrie findet. In kleinen Werkstätten entstanden die preisgünstigen Uhren aus Holz, die so stark gefragt waren, dass sie von Uhrenträgern zu Fuß in alle Welt gebracht wurden. Daraus entstanden Handelskompagnien und später Uhrenfabriken, was der arbeitenden Bevölkerung aber wenig nutzte, denn sie blieb arm. Und starb früh: Durch das Bemalen der Uhrenschilder mit giftigen Lacken sank die Lebenswartung in diesen Regionen des Schwarzwalds unter vierzig Jahre.
Kein Wunder also, dass die Menschen an Orte wie dem Bruderkirchle pilgerten, um für bessere Zeiten zu beten. Die ließen dann auch nicht lang auf sich warten: Aus den alten Uhrenfabriken wurden hochmoderne Betriebe, in denen die neuesten Technologien zum Einsatz kommen. In Furtwangen, einer Stadt unweit von Vöhrenbach, entstand aus der früheren Uhrenschule eine der führenden deutschen Hochschulen für Informatik und Digitale Medien.
Von alledem war aber noch nichts zu spüren, als ich mit meiner Großmutter Ende der Sechzigerjahre zum Bruderkirchle pilgerte. Der Ursprung dieser Kapelle liegt im Dunkeln. Im Mittelalter sollen Beginen dort eine Betgemeinschaft eingerichtet haben. Eine Urkunde aus dem Jahr 1651 bezeugt die über Jahrhunderte abgehaltene »Sieben-Frauen-Wallfahrt«. Während des Dreißigjährigen Krieges, als die nahe gelegene Stadt Villingen in Kämpfe und Belagerungen verwickelt war, zogen sich die sogenannten Waldbrüder hierher zurück. Auch eine Eremitage wurde errichtet.
Könnte man in die Zukunft blicken, hätte ich kleiner Bub von diesem spirituellen Ort durchaus angezogen sein können. Doch das war nicht der Fall. Ich begleitete die Großmutter zwar freiwillig, doch vor allem aus dem Grund, weil es immer noch besser war, als zu Hause zu sein. Mein Vater konnte sehr jähzornig werden, und da war es klüger, ihm aus dem Weg zu gehen. Also folgte ich der Großmutter in den Wald. Und betete dabei den Rosenkranz, dessen Worte ich nicht verstand: »Der von Johannes getauft worden ist. Der sich bei der Hochzeit in Kana offenbart hat .« Welche Hochzeit, welche Taufe, was sollte das alles?
Die Macht der Demut
Ich hatte Fragen, aber da gab es noch etwas anderes: Was ich auf diesem Weg empfand, jedoch nicht in Worte fassen konnte, war ein Gefühl von tiefster Demut. Drei der fünf Buchstaben dieses Begriffs sprechen vom Mut - also die Mehrzahl. Denn es gehört Mut dazu, demütig zu sein, und das lernte ich damals, erst hinter der Großmutter herstolpernd und später auf vielen weiteren Stationen meines bewegten Lebens.
Heute bedeutet Demut für mich: Wer sich kleinmacht, gewinnt an Größe. »Denn nicht mein Wille geschehe, sondern dein Wille.« Auch dieser Satz gehört zum Rosenkranz, den meine Großmutter auf dem Weg von Vöhrenbach zum Bruderkirchle und wieder zurück unablässig vor sich hin murmelte. Bei jeder großen Perle betete sie: »Dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.«
Da taucht sie auch schon auf, die Erde. Denn mit der Demut komme ich zurück zur Erde, kann ich mich also erden. Und glauben Sie nicht, ich hätte das nicht nötig, nur weil ich Jahre in einem japanischen Zen-Kloster verbracht habe und heute als Einsiedler lebe. Auch ich sitze manchmal auf dem hohen Ross, wenn ich wieder mal glaube, ich sei der Größte. Wenn die Medien schmeichelhafte Porträts über mich schreiben. Wenn das Fernsehen kommt und seine Kameras einschaltet, weil ein Einsiedler in den Zeiten des Corona-Virus doch etwas sagen kann in Sachen Lockdown und Rückzug. Ja, das kann er - doch danach kämpft auch er um seine Demut. Das ist nur menschlich. Da geht es uns allen gleich. Mir. Ihnen. Jedem.
Wissen Sie, dass Demut auch eine Form von Macht ist? Jesus hat es uns gezeigt, auch der heilige Franziskus. Vermeintlich starke Gegner rechnen nicht damit, dass in der Offenbarung von Schwäche wahre Stärke liegt. Deshalb will ich lieber in Demut besiegt werden als mit Stolz siegen. Demütig sein bedeutet, zuerst an andere zu denken, und das ist zu meinem Lebensmotto geworden: Ich will nicht der Erste sein, sondern der Letzte.
Nachdem im Jahr 2020 die Pandemie über uns hereinschwappte, nahm ich überall um mich herum Demut wahr, als die Menschen Hilfsbedürftige fragten, ob und wie sie sie unterstützen könnten. Die COVID-Zeit ist nicht vorbei, doch die Demut hat sich vielerorts verflüchtigt. Oder denken wir an die sozialen Medien, an Facebook, Instagram und TikTok: Wo ist dort Demut zu finden? Dort ist jeder der Größte, der Beste und der Schlaueste. Jeder führt ein glänzendes und erfolgreiches Leben, jeder holt für sich stets das Optimum heraus.
Ich kann mit so etwas nicht aufwarten. In der Schule war ich keine Leuchte. Als ich meine Lehre als Buchdrucker abschloss, starb dieser Beruf von heute auf morgen sang- und klanglos aus. Ich war Punker, ich trank zu viel, ich versuchte sogar einmal vergeblich, mich umzubringen. Ich wusste überhaupt nicht, wo mein Platz im Leben war. Trotzdem kam mir nie in den Sinn, dass womöglich mangelnde Demut der Ausgangspunkt meiner Sinnkrise war. Kommt Ihnen das, zumindest teilweise, irgendwie bekannt vor?
Inzwischen ist viel Zeit vergangen, oder wie man in Wolfach sagt, wo meine Klause im Wald liegt: »Es ist viel Wasser den Bach runtergegangen.« Ein sinniger Spruch in einer Gegend, wo die Flüsse Kinzig und Wolf zusammenkommen, und wo in alten Zeiten die Wolfacher Bäume fällten und zu langen Flößen zusammenbanden, um auf ihnen »hinab ins Land« nach Rotterdam zu fahren. Sie hatten eine Aufgabe, die Wolfacher, und das sage ich heute ihren Nachkommen, wenn sie den Pilgerweg aus dem Städtchen hoch zu mir in die Einsiedelei nehmen: »Wir alle haben eine Aufgabe auf dieser Erde. Noch bevor wir auf die Welt kamen, sprachen wir mit Gott darüber, was wir zu tun und zu lassen haben. Angekommen auf der Erde, hat der Verstand die Aufgabe vergessen, doch wir tragen sie tief in unserem Herzen. Daher machen wir uns auf die Suche. Auf dieser Suche lernen wir - hoffentlich - die Macht der Demut kennen.«
Ich bin auch so ein Suchender, und davon will ich Ihnen in diesem Buch erzählen. Die Suche hat mich zum Eremiten gemacht, doch ich bin alles andere als weltabgewandt. Die Menschen kommen zu mir in meine Klause, und ich gehe zu ihnen. Zum Beispiel für die Sterbebegleitung, die mich vor allem in der Pandemie-Zeit stark gefordert hat.
Ein junger Bursche, gerade mal sechzehn Jahre alt, lag wegen COVID im Sterben. Als ich an seinem Bett saß und seine Hand hielt, fragte er mich: »Bruder Otto, warum muss ich schon sterben?« Ich bin überzeugt davon, dass dieser junge Mensch seine Herzensaufgabe bereits...
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