Schweitzer Fachinformationen
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Am Ende der Burgerstraße, wo die Reuss stets rauschend über die Stufen des Nadelwehrs hinwegfloss, befand sich ab fünf Uhr nachmittags bei gutem Wetter ein kleiner, alter Holztisch, umringt von vier abgenutzten Stühlen, welche von drei mehr oder weniger abgenutzten Herren im besten Alter und einer lebhaften jungen Frau besetzt waren. Stets standen vier Gläser und zwei Flaschen Wein auf dem dunkelbraunen Tisch. An diesem Herbsttag waren es ein gekühlter Chasselas aus der Waadt und ein Pinot Noir aus dem Luzerner Seetal. Manchmal gesellte sich noch eine Karaffe mit kaltem Leitungswasser dazu.
Es war ein Fleckchen in Luzern, das mehr vom Strom der Reuss als von jenem der Touristen geprägt wurde. Dennoch verirrte sich ab und an auch mal ein Fremder hierhin. Mitunter sogar absichtlich, denn der einfache Holztisch stand vor Buchers Weinhandlung.
Sein Geschäft befand sich in einem Fachwerkhaus mit schwarzen Riegeln und war bis unter die Decke gefüllt mit Pinot Noir aus der Schweiz, Deutschland und Frankreich. Nun mag es ein Klischee sein, dass Weinkenner eine Vorliebe für den edlen Pinot Noir hegen, genauso wie für den weißen Riesling. Doch Letzteren mochte Bucher nicht, weshalb man vergeblich nach Weinen dieser Rebsorte in seinem Laden suchte. Überhaupt schien die Auswahl für Kenner recht eigenwillig. Riesling fand man ebenso wenig wie Amarone, Primitivo oder Rioja. Stattdessen entdeckte man seltene Weine wie Cornalin aus dem Wallis oder Areni aus Armenien.
Aufgrund seines eigensinnigen Sortiments hatte Bucher schon den einen oder anderen Kunden vergrault. Aber das kümmerte ihn wenig. Er verkaufte, was gut war, und was das war, bestimmte er.
Der Wein musste ihm schmecken, und er musste bezahlbar sein. Natürlich konnte man darüber streiten, wo die preisliche Grenze für eine Flasche Wein liegen sollte, und darüber wurde am Holztisch draußen viel gestritten.
«Du solltest amerikanische Weine ins Sortiment aufnehmen. Die aus dem Napa Valley!», sagte Huber, einer der Herren am Holztisch, nach einem kräftigen Schluck Chasselas.
«Hab ich», erwiderte Bucher knapp und zuckte mit den Schultern.
«Nicht die billigen. Die teuren!» Huber leerte sein Glas mit einem geräuschvollen Schluck und stellte es mit einem Knall auf den Tisch. «Der Zürcher in der Neustadt verdient sich eine goldene Nase. Zwischen sechshundert und tausend Franken verlangt er für die Cabernets.»
«Ist mir zu viel», entgegnete Bucher. «Ich bin Weinhändler, kein Anlageberater.» Sein leicht desinteressierter Gesichtsausdruck verriet, dass er diese Diskussion nicht zum ersten Mal führte.
«Aber stell dir mal den Gewinn pro Flasche vor. Die Marge liegt bestimmt bei fünfzig Prozent oder mehr», sagte Huber und legte die Hände in Gebetshaltung auf seinen Bauch, der locker auch ein Kleinkind hätte beherbergen können.
«Ich will ehrliche Weine.» Diesmal lag etwas mehr Nachdruck in Buchers Stimme.
«Wer zum Teufel kauft so was überhaupt?», mischte sich nun Hannah ein, die junge Frau in der Runde, ehe sie einen Zug von ihrer Zigarette nahm.
«Schöne und Reiche», antwortete Huber.
Abschätzig blies sie den Rauch aus. «Wohl eher Operierte und Gauner.»
Huber lachte laut auf, ein Grunzen, das an ein Nilpferd erinnerte und die Flaschen auf dem Tisch zum Zittern brachte. «Unsere Weinprinzessin», sagte er schließlich. «Nicht jede ist mit solch makelloser Schönheit gesegnet wie du. Da fällt mir ein: Ich habe heute Abend noch kein Rendezvous. Wie wär's?»
«Träum weiter!» Hannah schüttelte den Kopf und schenkte ihm nach. Für sie war er einfach Huber: groß, laut und so durchschaubar wie das Wasser in der Karaffe. Es war ihr egal, wenn er sie aufzog.
«Sehr schade», sagte Huber mit gespielter Trauer. «Da muss ich wohl eine meiner kalten Liaisons aufwärmen, wenn du verstehst, was ich meine.»
«Glaub mir, ich verstehe immer, was du meinst. Männer sind da nämlich recht simpel», sagte Hannah und nahm einen Schluck Wein. «Sag mal, wie kommt es eigentlich, dass ich dich noch nie im Beisein einer weiblichen Begleitung gesehen habe?», fragte sie dann mit einem süffisanten Lächeln.
Huber hob die Schultern, lächelte verschmitzt und drehte seinen Kopf zu Castelli, dem Vierten in der Runde.
«Gauner!», meinte dieser, mehr zu seinem Glas als zu den anderen.
«Wer? Der Zürcher?», fragte Huber.
«Der sowieso», antwortete Castelli und blickte auf.
«Und wer noch?»
«Ich mein ja nur: Kein Mensch mit ehrlich verdientem Geld gibt tausend Franken für eine Flasche Wein aus.»
Huber zog eine Augenbraue hoch und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. «Was sind wir heute aber auch alle ehrlich. Ehrliche Weine, ehrliches Geld, was noch?», fragte er mit einem spöttischen Ton in der Stimme. «Es gibt viele Expats aus den USA, die sich diese Weine leisten können und wollen.»
«Eben. Gauner», wiederholte Castelli. «Die sind wie Wanderheuschrecken. Ausbeuten und weiterziehen.»
«Du meinst, dein Lehrerberuf ist viel ehrlicher? Endlose Wochen Zeit zur Vorbereitung, um dann pünktlich zum Schulbeginn die Unterlagen vom Kollegen zu übernehmen, der seit zehn Jahren pensioniert ist.»
«Dozent», korrigierte Castelli trocken.
«Noch schlimmer.»
Die kleinen, täglichen Auseinandersetzungen zwischen Huber und Castelli waren beinahe ritualisiert, so unterschiedlich, wie sie waren. Huber war groß, laut und fleischig, während Castelli klein, bedacht und drahtig wirkte. Huber verdiente sein Geld mit Immobilien, Castelli war Dozent für Romanistik. Setzte sich Castelli für ein autofreies Luzern ein, erntete er nur Spott von Huber. Schwärmte dieser von der elsässischen Gänseleber, konterte Castelli mit einem Vortrag über artgerechte Tierhaltung. Doch gemeinsam teilten sie die Überzeugung, dass die Welt ein viel besserer Ort wäre, wenn es doch nur mehr Menschen wie sie gäbe.
Und dann war da noch Hannah. Sie war intelligenter als alle drei zusammen, rund halb so alt und genoss es, bei einer Zigarette den beiden Streithähnen zuzusehen. Ihre klugen, schwarzen Augen glänzten ebenso wie ihr langes, zu einem Pferdeschwanz gebundenes Haar. Sie hatte ein feines, graziöses Gesicht, das nicht immer zu ihrem bodenständigen Bündner Dialekt und der gelegentlich rustikalen Wortwahl passte.
«Was haltet ihr von diesem Chasselas?», fragte Bucher und versuchte, wie so oft, das Gespräch beschwichtigend auf den Wein zu lenken.
Er wunderte sich manchmal, wie man so überzeugt davon sein konnte, immer recht zu haben, in einer Zeit, in der selbst mathematische Gesetze zur Ansichtssache wurden.
«Top!», antwortete Huber und streckte selbstgefällig seine Unterlippe hervor. «Waadt?»
«Ja, Lavaux.»
«Viel können sie ja nicht dort. Aber Chasselas können sie. Das muss man ihnen lassen.»
Huber schenkte sich noch einmal ein gutes Glas nach.
«Pack mir einen Karton ein, Dominik, oder besser gleich zwei.»
Bucher schob seinen Stuhl zurück und begab sich in den Laden. Merlot, der meist unter dem Tisch lag, trottete ihm hinterher, ließ sich jedoch nach vier müden Schritten mit einem zufriedenen Murren auf dem Fußabtreter nieder.
Am Tisch entbrannte eine Diskussion über die Eigenschaften des Weißweins. Für Hannah war der Abgang zu kurz.
«Etwas spritziger dürfte er sein», meinte Castelli.
Huber erwiderte, dass Chasselas nie viel Säure habe.
Hannah schnupperte an ihrem Glas. «Interessante Nase.»
«Angenehm fruchtig», fügte Castelli hinzu. «Aber nicht aufdringlich.»
«Ein Apérowein mit einem vernünftigen Preis-Leistungs-Verhältnis», sagte Huber und schwenkte das Glas vor seinen prüfenden Augen.
«Bio?», fragte Hannah und warf einen Blick auf das Etikett.
«Ich befürchte ja», meinte Huber. «Macht ihn unnötig teuer.»
«Was hast du nur gegen Bio?», fragte Castelli.
«Nichts. Nur gegen den Preis habe ich was.»
«Bio ist aber gesünder und umweltfreundlicher dazu.»
Castelli begann eine Laudatio über Bioanbau im Allgemeinen und Bioweine im Besonderen zu halten. Hannah rauchte genüsslich eine Zigarette, während Huber seinen Kopf mit geschlossenen Augen in den Nacken legte, um die letzten Sonnenstrahlen des Tages zu genießen. Castellis Worte schwebten über ihre Köpfe hinweg zur Reuss, wo sie im sanften Rauschen davongetragen wurden. Sie waren ihnen so vertraut, dass sie sie im Schlaf hätten murmeln können. Castelli war wie die Nadel eines alten Plattenspielers, die in der Rille hängen blieb und immer wieder dieselbe Stelle spielte.
Bucher kehrte mit den beiden Kartons zurück. «Ich setze es auf deine Monatsrechnung», sagte er.
Huber lächelte zufrieden und erhob sich. Er war einer jener Menschen, deren wahre Größe sich erst im Stehen offenbarte. Ein wahrer Riese, mit einer beeindruckenden Statur, die nicht zuletzt durch das etwas...
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