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»Daraus könnte ein ganzes Buch werden!«, sagte Bernadette immer dann, wenn sie nicht mehr weiterwusste. Und Salvatore? Immer noch wartete er, wenn er auch schon lange nicht mehr genau wusste, worauf.
Aber das war es ja gerade, was sein Warten ausmachte. Das hatte Salvatore mit der Zeit herausgefunden. Er wartete auf alles, als wäre es auf nichts. Als wäre es nicht nichts, sondern etwas. Und dieses Etwas wäre nicht nichts, sondern alles. Worauf er wartete. Je mehr er wartete, desto mehr wartete er. Jeder Tag konnte der erste sein. So wartete Salvatore immer noch, wenn er seine Tage hatte. Und doch mit einer Ungeduld: Noch bei der einen Zigarette, dachte er schon wieder an die nächste. Und so ein Tag war wieder einmal heute.
Wie jeden Morgen, wenn er nicht zu Hause war, rief er Bernadette an, um sich mit einem schönen Gedanken von ihr in den Tag hinein zu verabschieden - und auch, um ihr und sich Mut zu machen, als wäre das Leben etwas, das nur mit Mut und einer richtigen Verhaltenstherapie bewältigt werden könnte. Und das richtige Verhalten benötigte die richtige Einstellung: das positive Denken. Heute Morgen hatte er ihr gesagt: »Ich sehe auf einen blühenden Kirschbaum!«, und sie hatte geantwortet: »Und ich sehe auf ein schmutziges Fenster. Ich werde heute ranmüssen!« So war sie. Und so war er. Linkshändig und ein Träumer, schon am Morgen. So einer wie er liebte so eine wie sie. Auch das war ihm wieder eingefallen. Zunächst war noch gar nichts gewesen. Zeit des inneren Auges, voller Nachtgespenster. Es war noch stockfinster gewesen in seinem Zimmer, und auch in ihm, als er beschloss, aufzustehen, damit es mit dem Sich-hin-und-her-Wälzen ein Ende hätte. Oftmals war er ganz schnell eingeschlafen, und dann aber, besonders wenn es ein Alkoholabend gewesen war, den Bernadette, die sich mit dem Trinken zurückhalten konnte, »schön« nannte, schon nach einer Stunde aufgeschreckt, und ihm war alles eingefallen, wer alles dabeigesessen hatte, wie mit ihm wieder einmal die Pferde durchgegangen waren, wie er sich um Kopf und Kragen geredet hatte, ja, er kam sich immer sehr ausgelauscht vor, die anderen sagten nichts, er sagte alles, je weniger die anderen überhaupt etwas sagten, desto mehr sagte er alles, gab er alles bekannt, bis hin zur Höhe seiner Schulden bei der Sparkasse und bis hin zu der Partei, die er gewählt hatte, nämlich: gar keine. Um seinen exhibitionistischen Übermut zu krönen, sagte er zum Abschluss einer solchen Volte, dass er seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr wählen gewesen war. Und da er doch sehen konnte und einen Blick hatte für den Blick und die Mienen der anderen, hatte er ganz schnell widerrufen und seine Verlautbarungen und alles, was er gesagt hatte, als Scherz ausgegeben. Das war glatt eine Notlüge, um sich von der Welt zu distanzieren, wie sie war. Und außerdem: Er wollte nicht auch noch für die Politik der vergangenen fünfundzwanzig Jahre mit zur Verantwortung gezogen werden. Aber er hatte auch Mitleid, besonders mit jenen, die ihm die ganze Arbeit, den Regierungsdreck, abnahmen und so zu leben verstanden, als hätten sie trotz allem die Hoffnung niemals aufgegeben, mit den Frauen mehr als mit den Männern. Dafür bewunderte er sie.
Meist war es für Salvatore zu spät, die eigenen Dummheiten als Missverständnis oder Scherz auszugeben. Salvatore hatte es einfach nicht geschafft, sich rechtzeitig die Political Correctness wie ein zweites Hemd anzueignen und überzustreifen und so ein Doppelleben zu führen. Er trank ja nur, weil er Angst hatte vor ihnen. Er flüchtete in den Alkohol ja nur aus Furcht, dass ihm die richtigen Wörter nicht kämen. Und er redete ja nur so viel, weil er nicht wusste, was er reden sollte. Vielleicht war es bei den anderen ja auch so. Aber immer noch saß einer oder eine dabei, die nicht trank, übrig blieb, sich unberauscht an der Berauschtheit der Berauschtesten berauschte und sich alles merkte. Wofür? Wozu? Wovon? Als wären dies Wörter aus dem Lateinunterricht. Oder aus der Welt der Logik oder einer Theologie, die Glaube und Vernunft versöhnen sollte - »werch ein illtum!« -
Sie sehen schon: Dieser Salvatore war ein Theologe, der an der Theologie und den Theologen, und ein Mensch, der an den Menschen gescheitert war. Er hatte es nicht geschafft. Und vielleicht galt das jetzt schon über diesen Tag hinaus.
Am anderen Morgen fragte Salvatore seine Bernadette, ohne die er an einem solchen Morgen schon gar nicht mehr leben wollte, dann immer: »War es sehr schlimm?« (Eigentlich hätte Salvatore »ich« sagen müssen.) Und sie hat immer »Nein« gesagt. Und nach einer solchen Auskunft konnte das Leben weitergehen.
Oftmals schreckte er nach so einem Abend schon nach einer Stunde wirren Schlafes auf, und nichts half, außer dem süßen Gedanken daran, dass es einmal aus sein würde mit allem, auch mit solchen Abenden. Er hätte es auch schlicht »Kater« nennen können, wie das gewöhnliche Menschen, zu denen freilich auch Salvatore zählte, taten. Aber an diesem Morgen und in dieser Nacht war es kein Kater. Er hatte, es war dieses Mal bei den Rotariern, seinen Vortrag über Refinanzierungsmodelle gehalten. Schnell hatte er sich in dieses Thema eingelebt und eingelesen gehabt. Salvatore wusste von vielen Pleiten, angefangen mit der eigenen. Doch das meiste an Informationen kam von seinem Schwager, einem Sichersteller namens Gabor, der im Auftrag der Banken schon manche Praxis hatte schließen müssen.
»Und was ist mit den Zahnärzten? Das läuft doch immer noch, oder?«
»Der Zahnarzt ist ein Auslaufmodell!«, sagte Gabor.
Salvatore könne mehrere komplett eingerichtete Praxen von ihm haben, die er habe sicherstellen müssen; und nun wisse er auch nicht so recht, was er damit anfangen solle. »Versuch's doch einmal im Domina-Gewerbe!«
»Stell sie doch ins Internet, das doch nicht viel mehr ist als eine einzige Kontaktbörse.«
Salvatore sagte oder behauptete nun, er kenne einen Mann, der nicht mehr zum Zahnarzt gehen könne, denn kaum sei er in einem solchen Zimmer, und noch mehr auf einem solchen Stuhl, quälten ihn schon wieder ganz und gar heimatlose Erektionen, und sie lachten. Gabor sagte: »Leute laufen auf der Welt rum!« Und Bernadette sagte: »Es gibt Sachen, die gibt es nicht«, und Salvatore lachte an diesem Tag nun zum ersten Mal, als er an diese Geschichte dachte. Da hatte Salvatore den Mann wieder einmal auf eine Geschäftsidee gebracht, und er wurde zu einem Abendessen geladen dafür. »Bring deine Frau mit.« Das war Bernadette, Gabors Schwester. Das tat Salvatore auch. Es war dann ein schönes Abendessen mit Gabor, seiner Chantal, Bernadette und ihm. Da Salvatore schon einmal Konkurs hatte anmelden müssen, schlicht pleite gewesen war, wusste, was ein Offenbarungseid war, und auch in der Schufa gelandet, wusste er auch am besten, wie man es nicht machen musste, sondern, wie man es machte. Ohne dass er gesagt hätte, mit welcher Autorität er über diese Dinge sprechen konnte, sprach er eigentlich mehr davon, wie man es nicht machen sollte, als darüber, wie man es machen sollte. Freilich war sein Vortrag nur zum Teil aus eigenen Quellen gespeist, eigentlich stammte nur die Captatio Benevolentiae, das einladende, abschreckende Beispiel, wie er es in seinen Rhetorikkursen gelernt hatte, und überhaupt die Anekdoten und die Beispiele, all die Katastrophen, die zu einem Witz geworden waren, von ihm.
Der Rest, den die Experten the beef nannten, war komplett von Bernadette und ihrem Bruder, dem Sichersteller. In eine solche Familie hatte Salvatore eingeheiratet.
Sie war Wirtschaftsprüferin und sorgte für einen gewissen ökonomischen Mindeststandard im Haus, mindestens so lange, bis Salvatore finanziell wieder auf eigenen Beinen stehen, er also komplett entschuldet sein würde. Das würde aber noch bis über sein fünfzigstes Jahr hinaus dauern. Vielleicht schaffte er es dahin überhaupt nicht mehr, und er würde zeitlebens ein Sklave sein des herrschenden Joint Venture aus Geld, welches durch das Recht geschützt war mehr als das Leben, und einem Recht, welches gekauft werden konnte.
Das (sein) Leben war also ein klassischer Circulus vitiosus. Trotzdem blieb sie bei ihm. Es war wohl Liebe, anders konnte er sich das Verhalten seiner Frau nicht erklären. Und vielleicht war auch noch folgende Überlegung dabei: dass sie nämlich, anders als einen schönen Mann, diese hochverschuldete Existenz ganz für sich haben würde, wenigstens würde ihr keine andere diesen Salvatore streitig machen. Es sei denn, es wäre eine gewesen, die Bernadette ihren Salvatore abkaufen wollte für viel Geld. Aber das war äußerst unwahrscheinlich, so unwahrscheinlich wie ein Lottogewinn, und außerdem liebte Salvatore seine Bernadette mehr als am ersten Tag, als er noch ganz schuldenfrei war und von Bernadette nichts anderes wollte als Liebe. Wenn er auch mehr als je zuvor ganz und gar abhängig war von seiner Frau, und er wusste es auch. Es war seit dem ersten Tag auch eine irrsinnige Schuldenlast dazugekommen, und sein bester Freund, das war immer noch Uwe, Uwe von Schmieheim, ein Ungläubiger wie er, nach außen hin (den er allerdings seit fünf Jahren nicht gesehen hatte; Telefon und E-Mail verhinderten ein tatsächliches Wiedersehen), gab ihm, als er zum ersten Mal von seiner Lage hörte, in die er freilich selbstverschuldet, wie könnte es anders sein!, gekommen war, den guten Rat: »An deiner Stelle würde ich mich sofort erschießen!« Salvatore nahm davon Abstand, weil er nicht auch noch in die Hölle kommen wollte, als wäre er nicht manchmal schon in ihr. Der freiwillige Tod wurde nämlich von der katholischen Kirche...
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