Schweitzer Fachinformationen
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Und rum. Und rum. Und rum. Heike tritt kräftig in die Pedale. Ihr Gesicht brennt vor Kälte. Wegen einer rosa Latzhose ist sie spät dran.
"Mama! Ich komm nicht mit!", ruft Sarah-Felizitas von hinten.
"Wir haben keine Zeit mehr!", schreit Heike gegen den Wind, und weil sie genug Wut im Bauch hat, dreht sie sich um und brüllt noch lauter: "Wir haben keine Zeit, weil du wieder Theater gemacht hast!" Das Fahrrad schlingert gefährlich.
Heike weiß, dass Sarah-Felizitas das Gesicht verziehen und losheulen wird. Heike weiß auch, dass jeder Versuch, ihre siebenjährige Tochter zu trösten vergebens ist, weil sie gerade ihren morgendlichen Dickkopf hat. Deshalb schaut Heike sie nicht an, sondern schreit, was ihre Lungen hergeben.
Und rum gehen die Pedalen.
"Aaah!", schreit Sarah-Felizitas. Es scheppert und kracht.
Automatisch drückt Heike die Pedalen gegen die Kurbelrichtung und zieht beide Handbremsen an. Der Hinterreifen verlässt kurz den Asphalt. Und wieder ist es die Wut, die einen Sturz verhindert: Mit einem nicht uneleganten Hüpfer landet sie neben ihrem Fahrrad und läuft ein paar Schritte aus. Die Brillengläser beschlagen. Umständlich wischt sie den Kondenswasserfilm ab und dreht sich endlich zu ihrer Tochter um. Sarah-Felizitas liegt mitten auf dem asphaltierten Fahrradweg des Auedamms, daneben ihr Puki-Kinderrad in einer seltsamen Verrenkung, als hätte es sich ebenfalls trotzig auf den Boden geworfen. Müde dreht sich das vordere der beiden Räder und bleibt schließlich stehen.
Erschrocken starrt Sarah-Felizitas ihre Mutter an. Ihre hellblonden geflochtenen Zöpfe stehen wie Stöckchen unter dem Helm hervor.
"Keinen Mucks!", droht Heike, reißt ihr Hollandrad herum und rennt zurück. "Muss das ausgerechnet jetzt sein?"
Natürlich entdeckt Sarah-Felizitas beim Aufstehen als Erstes das Loch in der Hose. Und natürlich fängt es ausgerechnet jetzt an zu nieseln, sodass die angekündigten 8° C Durchschnittstemperatur geradezu arktisch wirken.
"Wollte ich nicht", stammelt das Mädchen, "wirklich!" Glücklicherweise ist sie zu erschrocken, um in Tränen auszubrechen.
Heike seufzt und zieht Sarah-Felizitas an sich. "Schon gut." Im Nu lässt der kleine Körper Heikes Wut verrauchen. "Deine Fahrradkette ist abgesprungen."
"Ist das schlimm?"
Unwillkürlich muss Heike lächeln. "Nein. Ich muss nur die Kette wieder auf den Zahnkranz fummeln. Dauert 'nen Moment." Sie lässt Sarah-Felizitas los und stellt das Kinderrad auf Sattel und Lenker. Sarah-Felizitas schluchzt noch einmal trocken und wendet sich ab, geht ein paar Schritte.
"Denk an den Stacheldraht", mahnt Heike, ohne hinzusehen. Die gesamte Dammkrone ist mit diesen blöden Zäunen gesichert, um die Kühe, die hier weiden, vom Radweg fernzuhalten. Noch einmal durchzuckt der Schreck Heike, als ihr Gehirn ihr plötzlich die leblosen Augen ihrer Tochter vorgaukelt, nachdem sie vom Fahrrad direkt in den Stacheldraht gestürzt ist .
Sarah-Felizitas richtet sich auf und erstarrt. "Mama ."
"Moment!" Heike schiebt das letzte Kettenglied über den Zahnkranz und dreht probehalber die Pedalen. Die Kette klappert, schleift und hält. Heike seufzt erleichtert. Noch können sie pünktlich am Rheinbad sein.
"Mama!"
"Sarah-Felizitas, ich mach hier gerade deine Kette!"
"Da liegt jemand!"
Ein paar größere Nieseltropfen treffen Heikes Brille, ihre Sicht reicht plötzlich nur noch bis zu ihrer Tochter, dem rosa Fleck in einer grünbraunen, tristen Landschaft. Spielchen, denkt Heike resigniert, immer wieder Spielchen. Und außer mir ist niemand da, der sie mitspielt. "Quatsch, da ist niemand."
"Aber doch! Da unten!" Energisch deutet Sarah-Felizitas die Böschung hinunter. Heikes schlechtes Gewissen nutzt die Gelegenheit und schlägt erbarmungslos zu. Sie hat sowieso schon so wenig Zeit für ihr Goldstückchen, und dass der Chef ihr ausgerechnet in den Osterferien keinen Urlaub gibt, ist auch nicht Sarah-Felizitas' Schuld. Außerdem: Die Kleine wird sich später sicher nicht bei ihr dafür bedanken, dass sie immer pünktlich waren. Was sind also zehn Sekunden, bevor es weitergeht?
Ergeben nimmt Heike die verschmierten Hände von den Pedalen des Kinderrades, stellt sich neben ihre Tochter und schaut auf die Rheinwiese hinunter. Eine Weile überdeckt das beständige Rauschen des Rheins alle anderen Geräusche, sogar das Trommeln des stärker werdenden Regens. Heikes Müdigkeit scheint schwerer zu werden.
"Siehste?" Sarah-Felizitas klingt alles andere als glücklich. "Da liegt nämlich wohl jemand."
***
Im Umkreis von zwanzig Metern ist alles abgesperrt. Unten auf der Wiese haben die Typen von der KTU ein Schutzzelt über der weiblichen Leiche aufgestellt, damit der Nieselregen die Spuren nicht gleich wieder vernichtet. "Genickbruch nach Sprung über den geschlossenen, einen Meter fünfzig hohen Stacheldrahtzaun mit anschließendem Sturz über vier bis fünf Meter auf die Rheinwiese", sagt der KTUler im weißen Overall. Einfache Sätze sind definitiv nicht sein Fall.
Vorsichtig tritt Kommissar Claaßen an den Zaun und schaut hinunter. "Fällt Ihnen was auf, Steinhauer?"
"Ungewöhnlich", sagt Polizeimeisterin Victoria Steinhauer, genannt Vicky, und unterdrückt ein Zittern. Sie liebt den Niederrhein. Aber Nieselregen kann sie trotz ihrer wetterfesten Jacke auf den Tod nicht ausstehen, schon gar nicht Ende März, wenn noch halber Winter herrscht.
"Finde ich auch", stimmt Claaßen zu. Seine Haare hängen feucht und schwer in die Stirn. Ihm würde nie in den Sinn kommen, eine Kapuze zu tragen.
Vicky zieht die Dienstmütze tiefer ins Gesicht. "Chef, die Frau Jürgens muss dann mal langsam zur Arbeit."
"Solang ich die Ermittlungen führe, geht niemand ohne meine Erlaubnis", antwortet Claaßen schroff. "Wir haben hier eine Leiche. Da kann sich der Arbeitsanfang der einzigen erwachsenen Zeugin schon mal verschieben."
Vicky findet die Tote am Fuß des Dammes auch interessanter, aber auch Zeugen müssen von etwas leben, und dazu müssen sie nun mal Geld verdienen. "Frau Jürgens arbeitet im Schichtdienst. Ihr Boss hat schon zweimal angerufen."
"Hat sie ihre Aussage gemacht?", fragt Claaßen.
"Jo."
"Steinhauer, das heißt: Ja, Chef."
"Ja, Chef. Hat sie. Und morgen kommt sie zum Unterschreiben des Protokolls vorbei."
"Sie sagen das so nett, als hätten Sie die Frau Jürgens zum Kaffeetrinken eingeladen", witzelt Claaßen. Auch heute mimt er den knallharten Ermittler in Schimanski-Jacke ohne Kapuze, aber ohne Blutflecken am Kragen und ohne Waschbrettbauch. Vicky kennt die Schimanski-Tatorte nur aus dem Internet und findet sie ziemlich daneben, und ausgerechnet Kommissar Claaßen schafft es mit seiner Aufmachung, noch einen draufzusetzen.
"Wenn sie zum Protokoll einen Kaffee will, kriegt sie auch einen", sagt Vicky ruhig und denkt: Eine Bocholterin lässt sich doch von einem Weselaner nicht aus der Fassung bringen.
Claaßen mustert sie interessiert. "Wo arbeitet die Frau Jürgens denn?"
"Bei einer Fastfood-Kette."
"Ach Gottchen. Eine Fastfood-Kette. Sagen Sie doch Mecces wie jeder normale Mensch, Steinhauer. Oder beim King." Gereizt wedelt Claaßen sowohl Vicky als auch Heike Jürgens und ihre inzwischen bibbernde Tochter Sarah-Felizitas weg und wendet sich wieder den Ereignissen am Fuß des Dammes zu.
"Und was passiert jetzt?", fragt Sarah-Felizitas. Ihre Kleidung trieft, der beständige Nieselregen hat sie durchgeweicht.
"Jetzt versuchen wir herauszufinden, was passiert ist." Vickys Lächeln gerät ein wenig schief, weil sie heute Morgen nicht an den eisigen Frühlingswind gedacht hat, dem auch ihre Polizeikleidung manchmal nichts entgegenzusetzen hat. Mit ihrer Angoraunterwäsche, die noch im Schrank liegt, stellt sie es sich deutlich gemütlicher vor.
"Aber es war doch Mord, oder?"
"Es kann auch ein Unfall gewesen sein", meint Vicky milde. "Aber weißt du was? Deine Mami kauft morgen eine Zeitung, und dann kann sie dir vielleicht schon vorlesen, dass Kommissar Claaßen den Fall gelöst hat."
"Ich bin in der zweiten Klasse und da kann man schon lesen. Das weiß man doch!", mault Sarah-Felizitas und stapft beleidigt davon.
"Feli!" Grußlos eilt Heike hinter ihrer Tochter her. Trotz ihrer Bemühungen leise zu sprechen, hört Vicky Frau Jürgens schimpfen, dass man als Zweitklässlerin eine Polizistin auch dann nicht beleidigen darf, wenn sie nicht weiß, dass sie schon lesen kann.
Sie wirft einen kritischen Blick zum Himmel und dann hinüber zum Einsatzfahrzeug, mit dem sie hergekommen ist. Claaßen fläzt sich bereits auf dem Beifahrersitz und telefoniert wichtig. Vicky weiß, dass sie gar nicht zu fragen braucht, ob er ihr den Wagen überlässt. Bei dem Wetter wird ihr Chef sich weder freiwillig vom Tatort entfernen noch aussteigen, damit Vicky zügig zu den umliegenden Anwohnern kommt, um sie zu befragen. Einmal mehr wünscht sie sich, dass ihre Versetzung nach Bocholt endlich bewilligt wird, damit sie von der Primadonna Claaßen wegkommt.
Vicky gibt den Kollegen Bescheid und läuft los, den Damm hinunter bis zum Bauernhaus am Rheinwardt, den Kopf wegen des Nieselregens tief zwischen die Schultern gezogen. Der Wind bläst die Tropfen zwischen Kragen und Mütze. Immer wieder schaut sie nach links zum Auesee...
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