Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Craig Koslofsky
Anfang Januar 1722 erreichte eine ungewöhnliche Gruppe von vier Reisenden Frankfurt am Main und machte sich auf den Weg zum Gasthaus »Reichskrone«.2 Der Verantwortliche war Engländer und trat auf wie ein Kapitän zur See. Der Älteste der Gruppe, er sprach kein Deutsch und verständigte sich über einen Dolmetscher, der später als »Jude in deutscher Kleidung« oder »ein Engländer, der Deutsch spricht« beschrieben wurde.3 Die beiden anderen - junge Männer in ihren Zwanzigern - waren der Grund für die Reise der Gruppe: »Sie sind an ihren Leibern durchaus mit hieroglyphischen Figuren und Charactern bemahlet gewesen [...] Man konte sie vor acht Kreutzer zu sehen bekommen.«4 Von Kopf bis Fuß mit außergewöhnlichen Bildern von Sonnen, Monden, Schlangen sowie anderen Figuren und komplexen Mustern verziert, waren sie auch von Kampfesnarben gezeichnet. Niemand hatte in diesem Teil Europas jemals jemanden wie sie gesehen.5
Die beiden Männer waren indigene Amerikaner: Ocktscha Rinscha und Tuski Stannaki waren die Namen, die sie später in ihren Unterschriften verwendeten. Als Gefangene eines Sklavenhändlers aus Carolina waren ihre kunstvoll verzierten Körper zu lukrativen Kuriositäten geworden, deren Besichtigung gegen Bezahlung angeboten wurde. Ocktscha Rinscha, der ältere Mann, war ein Choctaw, Tuski Stannaki, der jüngere, wahrscheinlich ein Creek. Sie reisten mit ihrem >Besitzer<, einem »namhaften Indianerhändler« namens John Pight, und werden in den vielen Quellen, die ihre Zeit im Heiligen Römischen Reich dokumentieren, als Versklavte beschrieben.6 Im Jahr 1719 brachte Pight die Männer von Charleston (South Carolina) erst nach England und dann im Sommer 1720 nach Frankreich. Einige Zeit später muss die Vierergruppe das Heilige Römische Reich erreicht haben, und im Januar 1722 kamen sie in Frankfurt am Main an - unterwegs nach Wien, wie sie erklärten. Von Wien aus ging es weiter nach Norden, nach Breslau und dann nach Dresden, der Hauptstadt des Kurfürstentums Sachsen. Von den Jahren, die sie in Europa verbrachten, lebten sie ein Jahrzehnt lang auf dem Gebiet Augusts des Starken, König von Polen und Kurfürst von Sachsen - zunächst in Dresden, später in Warschau. Sie waren versklavt, als sie nach Sachsen kamen, und es ist nicht klar, wie - oder ob - sie jemals als frei betrachtet wurden.
Ocktscha Rinscha und Tuski Stannaki waren starke, anpassungsfähige, transkulturelle Überlebensstrategen, und ihre Geschichte verlangt danach, an anderer Stelle aus indigener Perspektive und ausführlicher erzählt zu werden. Die hier untersuchten Quellen liefern einige wesentliche Informationen über ihre Route durch Mitteleuropa und zeigen, wie die Männer von den Deutschen, denen sie begegneten, wahrgenommen wurden. Aber diese Quellen wurden durch die koloniale Gewalt hervorgebracht, die Ocktscha Rinscha und Tuski Stannaki nach England und dann nach Europa brachte, und solche Quellen können nur eine begrenzte koloniale Perspektive auf die Körper, den Intellekt und die Werte der beiden Männer bieten. In dieser Studie verwende ich diese kolonialen Quellen, um eine Grundlage für das weitere Studium der Männer in der indigenen Geschichte zu schaffen, und um neue Vorstellungen von Haut, Sklaverei und race im Deutschland des frühen 18. Jahrhunderts aufzudecken. Das Leben von Ocktscha Rinscha und Tuski Stannaki zeigt, wie die Deutschen diese drei Säulen der atlantischen Welt durch die »Hieroglyphen und indianischen Schriftzeichen«, die die Männer auf ihrer Haut trugen, interpretierten.7
Ocktscha Rinscha und Tuski Stannaki. Details aus der Breslauer Sammlung von Natur- und Medicin-[...] Geschichten, [1722]. Mit freundlicher Genehmigung der Sächsischen Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek Dresden / Deutsche Fotothek (aus: Acta. acad.141-19/22.1722).
Der Südosten am Vorabend des Yamasee-Krieges, 1715, zeigt die möglichen Herkunftsorte von Ocktscha Rinscha (Choctaw) und Tuski Stannaki (Creek). Karte von Daniel P. Huffman.
Ocktscha Rinscha und Tuski Stannaki im Heiligen Römischen Reich und Königreich Polen, 1722-1734. Karte von Daniel P. Huffman.
»Gehorsamste Diener Ocktscha Rinscha; Tuski Stannaki« . Unterschriften der beiden Männer auf ihrem Antrag, in Dresden lutherisch getauft zu werden, 1725. Mit freundlicher Genehmigung des Staatsarchivs Dresden«.
Ocktscha Rinscha und Tuski Stannaki überquerten den Atlantik als Gefangene von John Pight, einem berüchtigten Versklaver von indigenen Menschen im amerikanischen Südosten. Er wurde um 1670 in England geboren und brach in die Kolonie Carolina auf, wo er 1694 eine kleine Plantage in Goose Creek, außerhalb Charlestons, besaß. Zu den für ihre Gewalt-tätigkeit und Doppelzüngigkeit bekannten »Goose-Creek-Männern« gehörten viele Siedler aus Barbados, Englands erster Sklavengesellschaft. In Carolina hielten diese Männer versklavte Afrikaner*innen, aber sie »griffen auch auf das zurück, was sie kannten, und begannen, Indianer zu versklaven, oder besser gesagt, diese zu sich gegenseitig zu versklaven, um dann diese Gefangenen aufzukaufen«.8 Als einer dieser Goose-Creek-Männer zog Pight nach Westen bis in das Land der Creek und Cherokee und tauschte Gewehre, Pulver und andere Waren gegen Pelze, Felle und versklavte indigene Menschen ein und stieg in den Jahren nach 1700 zu einem bedeutenden »Indianerhändler« auf.9 Er sprach mindestens eine indigene Sprache, wahrscheinlich die Mobilian-Handelssprache (auch Chickasaw-Choctaw-Handelssprache genannt). Als Anführer von Verteidigungs- und Überfallkommandos, bestehend aus Afrikanern, Indigenen und Europäern, trug Pights Habgier und Gesetzlosigkeit dazu bei, einen regelrechten Flächenbrand, den Yamasee-Krieg, im Jahr 1715 auszulösen - einen Aufstand der indigenen Bevölkerung, der so groß war, dass Charleston selbst von völliger Zerstörung bedroht war.10 Ocktscha Rinscha und Tuski Stannaki wurden möglicherweise während dieser Welle der Gewalt gefangen genommen. Als der Yamasee-Krieg 1716 endete, wurde Pight politisch ins Aus befördert und schließlich aus Carolina verbannt. Seine Tage als Händler indigener Menschen waren zu Ende gegangen. Allerdings besaß er noch eine Reihe von indigenen Gefangenen, unter ihnen auch Ocktscha Rinscha und Tuski Stannaki. Die beiden jungen Männer im Alter von etwa 27 und 22 Jahren kamen aus dem Westen, zwischen der englischen Provinz Carolina und dem Mississippi, wie es in einem Bericht heißt.11 Ihre Namen geben Hinweise auf ihre Herkunft: Ocktscha Rinscha, der ältere, gehörte wahrscheinlich zu den Choctaw, der jüngere Tuski Stannaki möglicherweise zu den Muscogee Creek. Als sie im August 1722 in Breslau ankamen, wurden ihre vollen Namen von den Entführern angegeben als »Oak Charinga Tiggvvavv Tubbee Tocholuche inca Navvcheys« und »Tuskee Stannagee Whothlee Powvovv Micko Istovvlavvleys«.12 In einem Londoner Bericht wurden sie folgendermaßen beschrieben: »Der erste ist der Sohn des Kaisers der Nawcheys, sein Name ist Oakecharinga Tiggwawtubby Tocholochy Ynca; den anderen, den Sohn des Königs der Istowlawleys, nennen sie Tuskestannagee Whosly Powon Micco.«13 Der Name des älteren Mannes, erwähnt als »Sohn des Kaisers der Natchez«, deutet auf eine Choctaw- Herkunft hin. Ausgehend von dem englischen Zeitungsbericht stellte ein Experte für indigene Sprachen fest, dass »die meisten Wörter des Vornamens mit ziemlicher Sicherheit die Sprache der Choctaw sind. Oakecharinga = Okchanilncha = >zum Leben erweckt<. Tigwatubby = Tikbatibby = >tötet zuerst< (ein klassischer Choctaw-Kriegstitel). Tocholochy = Tusholach = >wird übersetzen<. Ynca scheint völlig falsch zu sein.« Der Name des jüngeren Mannes, »Tuskestannagee scheint eindeutig das Muscogee Wort >Tvstvnvke< zu sein, was >Krieger< bedeutet. Außerdem bedeutet >Micco< >Anführer< in Muscogee.«14 Die Gelehrten sind sich einig, dass einige Teile der Namen wahrscheinlich von ihrem Entführer Pight erfunden wurden.
Als die Männer fließend Deutsch sprechen konnten, unterzeichneten sie ihre eigenen indigenen Namen als »Ocktscha Rinscha« und »Tuski Stannaki« auf einem Brief von 1725, in dem sie um die Erlaubnis baten, getauft zu werden.15 Diese Namen entsprechen den Choctaw- und Muscogee-Creek-Elementen in ihren jeweiligen Namen, die zuvor Pight in London und Breslau angegeben hatte. In Anbetracht der Entdeckung dieses Dokuments im Jahr 2018 mit den eindeutigen Unterschriften der beiden Männer verwende ich »Ocktscha Rinscha« und »Tuski Stannaki« als die genauesten Versionen der indigenen Namen dieser Männer.
Alle Berichte stimmen darin überein, dass beide Männer von Kopf bis Fuß mit einem außergewöhnlichen Spektrum von permanenten Markierungen versehen waren. Irgendwann im Jahr 1719 beschloss Pight, der sein Leben lang mit der Vermarktung menschlicher Körper verbracht hatte, diese Hautdarstellungen zu verwerten, indem er die indigenen Amerikaner nach England brachte, um sie dort auszustellen. Sie erreichten London im August 1719, wo Pight von den unterschiedlichsten Menschen alle möglichen Preise verlangte, um sie und die komplizierten Muster und Bilder auf ihrer Haut zu sehen, und sie als indigene »Prinzen« oder »Könige« vorstellte. Angekündigt durch eine Zeitungsanzeige oder ein Flugblatt, ließ sich Pight in...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.