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Vor ein paar Jahren noch gingen Hunderttausende für ambitioniertere Klimaziele auf die Straße. Heute protestieren vor allem jene Gruppen, die von einer solchen Politik belastet würden: Landwirte, Pendler, Hauseigentümer. Das Projekt einer ökologischen Transformation scheint erschöpft.
Philipp Staab diagnostiziert eine tiefgreifende Systemkrise. Die Aussicht auf Modernisierung erzeugt nicht länger Legitimität. Viele Bürger:innen empfinden Steuerungsversuche des Staates als übergriffig. Immer öfter wird aus Abwehr sogar offene Ablehnung nicht nur der Klimawende, sondern liberaler Grundwerte und der Demokratie als solcher. Der »grüne Fortschritt«, so Staab, ist selbst zur Quelle von Instabilität geworden. An die Stelle des Versprechens einer helleren Zukunft ist eine Utopie des Stillstands getreten.
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»Krisenvorgänge verdanken ihre Objektivität dem Umstand, daß sie aus ungelösten Steuerungsproblemen hervorgehen.«
Jürgen Habermas (1973)
In den vergangenen Jahren ließen sich zwei Prozesse beobachten, die sowohl für eine Soziologie in Zeiten des Klimawandels als auch für die politische Zukunft der reichen Gesellschaften des alten Westens maßgeblich sind. Erstens nahmen dort verschiedene liberale Regierungen eine politökonomische Transformation in Angriff, welche die betreffenden Volkswirtschaften binnen weniger Jahrzehnte zur Klimaneutralität führen sollte. Der ökologischen Krise plante man nach Dekaden des Zögerns mit einer umfassenden Modernisierungsoffensive zu Leibe zu rücken: Energieproduktion, Verkehr, Industrie und Wohnen sollten so erneuert werden, dass die Bürgerinnen und Bürger in Zukunft ohne schlechtes Gewissen Strom, Konsumgüter, Wohnraum und Mobilität nutzen könnten, da hierbei schon bald kaum mehr klimaschädliche Emissionen anfallen würden. Von den in diesem Prozess entstehenden grünen Jobs würden nicht zuletzt jene profitieren, die am unteren Rande der Arbeitsgesellschaft mehr schlecht als recht über die Runden kommen und daher immer öfter systemkritische Parteien wählen.
Politisch reagierte man auf diese Weise nicht nur auf ein seit den 1980er Jahren in den Bevölkerungen der betreffen10den Länder immer weiter verbreitetes Wissen um die »Nebenfolgen« der industriellen Entwicklung.1 Die grüne Erneuerung sollte auch politische Legitimität durch neue wirtschaftliche Optionen für große Teile der Bevölkerung stiften. Statt Freudensprünge bei den Bürgerinnen und Bürgern auszulösen, kam es allerdings zu einem Aufstand gegen ebendieses Programm: Es gab große Demonstrationen gegen die Besteuerung fossiler Energien; aus Protest gegen eine ökologische Bodenpolitik blockierten Landwirte in vielen europäischen Ländern Autobahnen und Regierungsviertel. In Deutschland sorgte ein Gesetz zur Erneuerung der Gebäudeenergieinfrastruktur für einen landesweiten Aufschrei. Die Regierung, die es geplant hatte, endete in vorzeitigen Neuwahlen, die sie krachend verlor. Zum wiederholten Male entschieden sich die US-Amerikaner für einen Präsidenten, der unter dem markigen Slogan »Drill, baby, drill!« statt einem ökosozialen Aufbruch den Ausbau fossiler Energien versprach, direkt nach seiner Wahl abermals aus dem Pariser Klimaabkommen austrat und die klimapolitischen Maßnahmen seines Vorgängers schleunigst rückgängig zu machen versuchte. Das ist der zweite Prozess: Was den Bürgerinnen doch eigentlich ihre umweltbezogenen und ökonomischen Sorgen nehmen sollte, entpuppte sich als politischer Sprengsatz. Auf den Aufbruch folgte ein aggressives Rollback.
Wie aber konnte es dazu kommen, dass ein Programm, das nicht nur die Entschärfung der Klimakrise in Aussicht stellte, sondern zudem versprach, in diesem Zusammenhang den dominanten Lebensstil hochindustrialisierter Gesellschaften unangetastet zu lassen und neue Optionen am Arbeitsmarkt zu schaffen, derart scheiterte? Warum gelingt es der ökologischen Modernisierung nicht, als erstrebenswertes 11Projekt gesellschaftlicher Erneuerung wahrgenommen zu werden? Und: Was bedeutet dies für die politische Zukunft der betreffenden Gesellschaften? Das vorliegende Buch wird diese Fragen sowohl aus der Perspektive einer Krisengeschichte westlicher Gesellschaften als auch über die empirische Analyse des umweltpolitischen Gesellschaftskonflikts adressieren. Es formuliert die These, dass das Scheitern der grünen Erneuerung sich aus einer Identitätskrise der spätmodernen Gesellschaft ergibt, die sich dadurch auszeichnet, dass normative Orientierungen in der Bevölkerung im Kontext der ökologischen Frage in Widerspruch zu den Erneuerungsimperativen des Systems geraten und auf diesem Wege Probleme erzeugen, die die Quelle einer politischen Systemkrise bilden. Ich unterstelle damit zwei Dinge, die ich, genau wie diese These, noch ausführlicher begründen werde: erstens, dass die Verarbeitung der Umweltfrage von zentraler Bedeutung für den politischen Raum spätmoderner Gesellschaften ist; zweitens, dass dieser sich durch die soziologisch noch kaum verstandene soziale Ontologie der Umweltthematik längst massiv verändert hat.
Mein Sohn kommt nächstes Jahr in die weiterführende Schule. Wir klappern jetzt die Tage der offenen Tür an verschiedenen Einrichtungen ab. Man lässt sich bei solchen Veranstaltungen von den Rektorinnen und Rektoren üblicherweise ihre pädagogischen Ansätze erklären und kann anschließend die Klassenräume besichtigen. Neulich haben wir uns eine Gesamtschule in einem bürgerlichen Stadtteil Berlins angesehen. Es war ein dunkler Winterabend, das Gebäude leuchte12te warm und war voller Leben. Schüchterne Grundschüler schlichen durch die Gänge und versuchten sich zurechtzufinden. Selbstbewusste Teenager präsentierten ihre Seminarräume. Der Schulleiter pries den Gemeinschaftsgeist seiner Institution. Er zeigte Bilder von Klassenfahrten und Nachmittagsaktivitäten und erzählte, dass er die Leitung erst vor wenigen Jahren übernommen habe. Als seinen wichtigsten persönlichen Impuls betrachtete er den Unterrichtsschwerpunkt zum Thema Nachhaltigkeit. Arbeiten der Schüler hierzu könne man im ersten Stock begutachten. Dort empfing uns ein aufwändig gestaltetes Poster zum Klimawandel. Seine Überschrift formten die weltbekannten Worte der Klimaaktivistin Greta Thunberg: »Unser Haus brennt!«2 2019 hatte sie in einer Rede auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos diesen Slogan als Metapher für die drängende Notwendigkeit eines gesamtgesellschaftlichen Umschwenkens genutzt. Bereits heute, so ihre Botschaft, seien unsere Lebensgrundlagen akut gefährdet.
Thunberg und die Berliner Schüler sind mit dieser Sorge keineswegs allein. Sie schwimmen nicht gegen den Strom der öffentlichen Beunruhigung, sondern kraulen höchstens schneller voran als die meisten. Denn die ökologische Krise wird von großen Teilen der Bevölkerung als Bedrohung wahrgenommen: Schon seit den frühen 1990er Jahren geben in Umfragen zwischen achtzig und neunzig Prozent der Deutschen an, furchtsam auf Umweltprobleme zu blicken, siebzig Prozent halten den Klimawandel heute gar für ein politisches Problem, dem sie in Fragebögen die höchstmögliche Relevanz (»sehr wichtig«) zusprechen.3 Die Beobachtung, dass das Haus brennt, wird also weithin geteilt. Gleichzeitig zeigt sich ein ökopolitisches Paradox: Zwar hat der größte Teil der Menschen Angst vor den Flammen. Aber gegen die politi13schen Löschversuche regt sich massiver Unmut bis zu dem Punkt, dass die Feuerwehr davongejagt wird.
In Deutschland konnte man diesen Zusammenhang in den vergangenen Jahren besonders eindrücklich beobachten. Die zwischen 2021 und 2025 amtierende Bundesregierung hatte sich einer, im Vergleich zum bisher Dagewesenen, sehr ambitionierten Klimapolitik verschrieben. Man strebte die Dekarbonisierung der Wirtschaft an, die man in großen Schritten voranbringen wollte. Dafür griff man terminologisch auf ein einflussreiches Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen von 2011 zurück.4 Dort war von einer »großen Transformation« die Rede gewesen, die insbesondere in den Industriegesellschaften des Globalen Nordens stattfinden müsse. Sie wurde in dem Dokument als menschheitsgeschichtliche Aufgabe ausgelobt, deren Tragweite jene der neolithischen oder der industriellen Revolution erreichen müsse. Mit ihrer Orientierung an der schmissigen Formel der Transformation hoffte die Bundesregierung, ein positives Zukunftsprojekt zu entwerfen, hinter dem sich die Menschen langfristig versammeln könnten, eine ansprechende Vorstellung des Machbaren in einer Welt voller Probleme. »Ökonomische Entwicklung und ökologische Verantwortung« sollten miteinander in Einklang gebracht werden.5 Die Dekarbonisierung der Industrie durch die Umstellung auf grünen Wasserstoff, Klimaabgaben auf CO2-intensive Produkte und ambitionierte Ziele für den Ausbau erneuerbarer Energien, von Batterieproduktion, von Bahn...
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