Schweitzer Fachinformationen
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Der geheimnisvolle Brief
Das Pfingstlager war vorüber. Die Zeit verging so schnell, dass ich selten rückwärts oder vorwärts schaute, sondern einfach jeden neuen Tag genoss. Wieder einmal ging der Sommer in den Herbst über, und nun kam ich in die weiterführende Schule.
Wieder kam der Winter, Schnee fiel und bedeckte alles mit einer weißen Decke. Wieder suchte ich Tannenzapfen und röstete Kastanien und bastelte heimlich Weihnachtsgeschenke. Wieder hörte ich das Blöken des neugeborenen Lammes und atmete den warmen Südwind ein, der die Knospen hervortrieb. Ich wusste: Der Frühling war unterwegs.
Es war der vorletzte Schultag vor den Sommerferien. Draußen grünte und blühte es. Der Unterricht war fast zu Ende. Die Schüler waren unruhig und warteten sehnsüchtig auf das Klingeln der Schulglocke. Die Englischlehrerin las uns ein Gedicht vor. Da das Fenster weit geöffnet war, konnten wir die Ringeltauben gurren und die Schafe nach ihren Lämmern rufen hören. Unsere Aufmerksamkeit war weg.
Die Lehrerin schloss ihr Buch, ging zur Tafel und schrieb in großen Buchstaben »SOMMERFERIEN«. Ein begeistertes Flüstern ging durch die Reihen, und alle Blicke richteten sich wieder auf die Lehrerin.
Sie sah aus wie der Sommer selbst, wie sie in ihrem gelben Pullover in der Sonne stand. »Bald plant ihr eure Sommerferien«, verkündete sie. »Dies ist nun ein Wettbewerb, an dem ihr in euren Ferien arbeiten könnt. Im nächsten Schuljahr gibt es für den besten Aufsatz einen Preis. Ihr könnt eine Geschichte schreiben oder berichten, was ihr letztes Jahr in den Ferien erlebt habt oder was ihr für dieses Jahr plant. Schreibt, was ihr wollt, aber versucht, die Besonderheiten des Sommers zu beschreiben.«
Sie schaute im Kreis herum, in die leeren Gesichter. »Der Sommer scheint eine schläfrige Angelegenheit zu sein«, sagte sie schmunzelnd. »Lasst uns schon einmal ein paar Gedanken sammeln und sie an die Tafel schreiben. Mary, woran denkst du, wenn ich Sommerferien sage?«
Mary fuhr zusammen. »Hm .«, stammelte sie, »hm . Hitze . und . Eis .«
»Ja, gut. Jemand anders? Jennifer?«
»Schwimmen . Strand . Esel .«
»Kasperletheater . Boccia .«
»Tennis.«
»Campingurlaub im Wohnwagen.«
»Auf meinem Pony reiten .«
Die Lehrerin schrieb alles an die Tafel. Dann drehte sie sich zu ihren Schülern um, die plötzlich wieder hellwach waren.
»Das stimmt alles. Erinnert euch doch mal an eure Ferienorte vom letzten Jahr! Anna, wo warst du letztes Jahr in deinen Sommerferien?«
»Wir reisten mit unserem Auto durch Schottland.«
»Und wie war Schottland im Sommer?«
»Es gab Berge und Seen, und es regnete, und wir hatten mit unserem Auto eine Panne. Wir besuchten Schlösser und Schlachtfelder. Wir hielten nach dem Loch-Ness-Ungeheuer Ausschau, hatten aber keinen Erfolg.«
Die Lehrerin seufzte leicht und sah mich an.
»Lucy?«, fragte sie.
Jemand kicherte, und Mary Blossom versuchte, mir zu helfen. »Lucy fährt nie weg«, erklärte sie. »Ihre Großeltern können keine Ferien machen, wegen .«
»Mary, das genügt«, unterbrach sie die Lehrerin. »Den Sommer gibt's auch hier, nicht nur an den Ferienorten. Im Übrigen war Lucy schon einmal fort von zu Hause. Sie ging doch zum Pfingstlager. Kannst du uns etwas vom Sommer in Cotswolds erzählen, Lucy?«
Ich biss mir auf die Lippen und sah meine Lehrerin verärgert an. Warum musste sie mich fragen? Sie wusste doch, dass ich nirgendwohin ging. Dann sah ich ihr Gesicht und verstand, dass sie sich gar nicht über mich lustig machte. Sie wollte wirklich meine Hilfe. Sie und ich fühlten Ähnliches in Bezug auf den Sommer, und sie brauchte meine Antwort. Ich starrte aus dem Fenster und versuchte, mich daran zu erinnern. Sommer in Cotswolds!
»Ich denke an den Duft des Geißblatts und des frisch gemähten Grases«, begann ich langsam, »und an das sanfte Licht, das beim Sonnenuntergang durch die Buchenblätter leuchtete, so dass jedes Blatt einzeln sichtbar wurde . und an Sterne, die ich durch ein Loch im Zelt sehen konnte . an den glitzernden Tau auf den Blumen am frühen Morgen . an ein Bad im Fluss . an Eisvögel, die aus einer Höhle am Ufer auftauchten, und daran, wie wir an den Weidenzweigen hin und her schwangen .« Weitere Erinnerungen kamen, und ich hätte noch stundenlang erzählen können. Dann bemerkte ich plötzlich die erstaunten Gesichter der anderen Kinder. Ich wurde rot und schwieg. Die Lehrerin kehrte uns den Rücken zu, und ich habe sie noch nie zuvor so schnell schreiben sehen. Die Stille wurde durch das Läuten der Schulglocke unterbrochen. Ein fröhliches Geplapper folgte. Es war Zeit für die Pause.
»Du hast uns alle gerettet«, sagte Mary bewundernd, während wir unsere Milch tranken. »Ich konnte mich mit dem besten Willen nur an das Eis erinnern. Ich kann nicht verstehen, wie dir so viel einfallen konnte, Lucy. Ich bin mir sicher, dass du den Preis gewinnen wirst.«
Ich bezweifelte es. Denn wie sollten meine Erlebnisse in Cotswolds neben einer Rundreise durch Schottland oder Ferien am Meer bestehen können? Aufgeregt ging ich an diesem Nachmittag nach Hause. Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich ein Gedicht über das Meer gelesen. Es hieß »Der verlassene Wassermann«.
»Nun fließen die ewigen Gezeiten küstenwärts,
jetzt spielen sie, die wilden, weißen Rosse,
sie schnauben und bäumen sich auf
und werfen sich in die Gischt .«
Könnte ich doch einmal das Meer sehen! Wie sahen Ebbe und Flut aus? Und woher kamen sie? Ich spürte eine große Unzufriedenheit in mir. So gern wollte ich einmal etwas anderes als meine gewohnte Umgebung erleben. Ich öffnete das Tor und ging in Gedanken versunken durch den Garten, so dass ich vergaß, meine übliche Begrüßung zu rufen. Leise betrat ich das Haus. Gerade wollte ich das Wohnzimmer betreten, in dem meine Großeltern saßen, da hörte ich sie reden. Ich konnte verstehen, was sie sagten. Ich blieb betroffen stehen, als wäre ich zur Salzsäule erstarrt.
»Aber Elsie«, sagte Großvater freundlich, »sie wird es bald erfahren müssen. Sie ist nun zwölf Jahre alt, und schließlich ist er ihr Vater.«
»Noch nicht, noch nicht«, rief Großmutter. »Bis dahin sind es noch fast zwei Jahre. Was kann nicht alles in zwei Jahren geschehen.«
Leise ging ich zurück und zur Haustür hinaus. Sie brauchten nicht zu wissen, dass ich sie hatte reden hören. Ich wollte weglaufen und mich im Wald verstecken und lange nachdenken, aber Shadow entdeckte mich. Er lief mir entgegen, leckte meine Füße, wedelte mit dem Schwanz und sprang bellend an mir hoch. Da blieb mir nichts anderes übrig, als ins Haus zurückzukehren. Ich konnte gerade noch sehen, wie Großmutter einen Brief in die oberste Schreibtischschublade steckte. Meine Großeltern begrüßten mich wie üblich, und ich half mit, Tee und Kuchen auf den Tisch zu stellen. Die Sonne schien durch das Wohnzimmerfenster und warf Strahlen an die Wand. Eigentlich hätte ich glücklich sein müssen, aber irgendwie waren wir alle stiller als sonst. Etwas stand wie ein Schatten zwischen uns. So war ich fast froh, als ich in mein Zimmer gehen konnte.
»Hast du Hausaufgaben auf?«, fragte Großmutter.
»Nein, Großmutter«, antwortete ich. »Morgen ist ja der letzte Schultag; darum haben wir jetzt keinen richtigen Unterricht mehr. Kann ich noch ein bisschen hinausgehen, wenn ich das Geschirr abgewaschen habe?«
Sie sah mich besonders zärtlich an. »Großvater und ich werden heute das Spülen und Abtrocknen erledigen, Liebes«, antwortete sie. »Geh du ruhig noch etwas mit Shadow hinaus. Es ist heute ein schöner Abend. Aber komm vor dem Sonnenuntergang nach Hause.«
Großvater begleitete mich zum Tor und fragte mich, wohin ich gehen wollte. Ich zeigte zum Hügel hinauf. Ich wollte allein sein. Im Eiltempo kletterte ich auf den Hügel, der links neben unserem Haus lag. Ich warf mich in einen alten, mit Gras bewachsenen Schützengraben, von dem aus die Briten vor vielen, vielen Jahren versucht hatten, den Römern Widerstand zu leisten. Shadow legte seine Schnauze auf meinen Arm. In Reichweite wuchsen Farne. Die kleinen Wedel der Farne öffneten sich wie Kinderfinger. Vor mir, oberhalb des Schützengrabens, lag die Ebene und spiegelte sich im letzten Sonnenlicht. Alle Straßen leuchteten in der Sonne. Jeder Fluss war ein glänzendes Band. Alles sah aus wie eine helle, klare Landkarte. Da verstand ich auf einmal, wie groß unsere Welt war. So viele Straßen führten von meinem sicheren Zuhause weg in die weite, weite Ferne!
Was sollte ich tun? Wenn ich meine Großeltern nach dem Brief fragte, würden sie mir sicher keine Antwort geben. Und überhaupt wollten sie gar nicht, dass ich fragte. Aber ich musste wissen, was mit meinem Vater war, denn schließlich war er mein Vater, und ich war seine Tochter Lucy. Im Übrigen war ich zwölf Jahre alt, alt genug, dass man mir Vertrauen schenken konnte. Selbst Großvater hatte das gesagt; doch Großmutter hatte immer das letzte Wort. So nützte mir Großvaters Meinung nichts. Als ich so dalag und an meinem Farnstängel kaute und die untergehende Sonne am Horizont betrachtete, kam mir ein Gedanke, ein sehr gewagter Gedanke, das wusste ich.
Ich wollte wach bleiben, bis meine Großeltern schliefen. Dann wollte ich aufstehen, den Brief aus der Schublade holen und ihn lesen. Ich würde die Adresse meines Vaters sehen und endlich wissen, wo mein Vater steckte und was so seltsam war. Natürlich wusste ich, dass Großmutter es nicht ausstehen konnte, wenn man heimlich in ihren Sachen herumkramte. Aber dieses eine Mal musste ich es tun, um endlich mehr zu wissen. Schließlich, so redete ich mir ein, gehörte der Brief...
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