1. KAPITEL
Sie war die einzige Frau, die er jemals geliebt hatte.
Das wurde ihm in einem einzigen Augenblick klar, als ein Kribbeln von ihm Besitz ergriff, das in seinen Fingerspitzen begann, weiter an seinen Armen hinauflief und schließlich seinen ganzen Körper erfasste. Wenn er sie in den vergangenen Jahren auch nur einmal gesehen hätte, dann hätte er diese Liebe eher erkannt. Oder wenn er sich zugestanden hätte, auch nur davon zu träumen, dass ein solches Gefühl möglich war, so hätte er dieses Gefühl ihrem Wesen zugeschrieben. Stattdessen hatte er alles versucht, sie zu vergessen. Es fiel ihm leichter, vorzugeben, dass sie gar nicht existierte. Wenn er nicht darüber nachdachte, bei ihr zu sein, dann würde er sich auch nicht nach ihr sehnen. Wenn er sich nicht in Erinnerung rief, wie es sich anfühlte, sie in den Armen zu halten, dann würde er sich auch nicht der Wirklichkeit stellen müssen, dass sie gar nicht für ihn bestimmt war. Dass er sie nie wieder in den Armen halten würde und dass seine Hände von der Leere nicht schmerzen würden.
Nur hatte Gunnar nie wirklich aufgehört, sich ihr Gesicht vorzustellen. Jede Frau, die er jemals berührt hatte, hatte im Dunkel der Nacht ihre Gestalt angenommen.
Von seinem Versteck im Wald aus beobachtete er, wie Kadlin den Weg von ihrer Wohnstatt zu dem Bach nahm. Ihre Wangen waren von der Kälte gerötet und ihre Bewegungen anmutig. Sie sprang über eine Schneewehe, und ihre jüngeren Brüder folgten dicht hinter ihr; sie quiekten und lachten, als einer von ihnen stolperte und in die vereiste Schneeböschung fiel. Ihr Mischlingshund begleitete die kleine Truppe bellend und sprang vergnügt umher. Gunnar wurde bewusst, dass er lächelte, während er schnell einen Schritt zurücktrat, um sich hinter einem Baum zu verstecken, als Kadlin sich plötzlich umdrehte und ausgelassen mit den Geschwistern lachte. Der geliebte Klang ihres Lachens drang bis zu seinem Versteck am Waldrand und erlöste ihn von dem Gewicht, das seine Brust belastet hatte. Er hatte ganz vergessen, wie gut es sich anfühlte, dieses Lachen zu hören.
Es brachte Erinnerungen daran zurück, wie sie als Kinder in genau diesem Wald herumgetollt waren. Einen Augenblick lang stand er mit geschlossenen Augen da, während er die Bilder der Vergangenheit in sich aufsteigen ließ: Wie Kadlin ihn mit Schneebällen bewarf; wie sie ihm auf einem niedrig hängenden Ast auflauerte, während er sie suchte, und ihn dann zu Boden drückte; wie Kadlin ihm eine Ohrfeige gab, als er sie "Mädchen" nannte. Aber dann wurden ihre fröhlichen Stimmen schwächer, deshalb schlich er den dreien nach, um sie nicht aus den Augen zu verlieren.
Wären ihre jüngeren Brüder nicht bei ihr gewesen, so hätte er sich ihr am Bach genähert. Aber er erinnerte sich an die harten Worte ihres Vaters während seines letzten Besuches und blieb daher auf Abstand. Es würde schon die Zeit kommen, sie später in der Nacht aufzusuchen, wenn alle schliefen. Oft genug hatte er in der Vergangenheit erkundet, wie er sich Zugang verschaffen konnte, ohne gesehen zu werden. Er blieb an dem geschützten Platz am Waldrand und beobachtete sie.
Die beiden Zöpfe gingen ihr bis zur Taille. So lange er denken konnte, war er von ihrem Haar fasziniert gewesen. Es war von einem seltenen Silberblond, das er nie bei jemand anderem gesehen hatte. Als Kind hatte er sich nachts in ihre Schlafkammer gestohlen, wenn er zu verletzt und mutlos gewesen war, um in seinem Bett Trost zu finden. Dann hatte er ihre langen Zöpfe gelöst und die seidige Kaskade ihres Haars über sich fallen lassen. Er konnte sich auch lebhaft daran erinnern, wie sie ihn mit ihren klaren blauen Augen überrascht angesehen hatte, wenn sie in jenen Nächten erwacht war. In diesen Augen spiegelte sich, dass sie ihn so annahm, wie er war, und dies war der einzige sichere Hafen, den er je gekannt hatte. Sein Vater, ein verbitterter und hasserfüllter Mann, hatte ihn verstoßen, später auch seine Mutter, die sich von ihrem unehelichen Kind abgewandt hatte, um zu heiraten. Gunnar hatte nie Zärtlichkeit und Anerkennung erfahren, ausgenommen von Kadlin.
Es war töricht von ihm gewesen, die Tiefe seiner Gefühle für sie damals nicht zu erkennen. Aber er war ja auch noch ein Kind gewesen, und was wussten Kinder schon von der Liebe? Er wusste nur, dass er stets zu ihr gegangen war, wann immer sein Leben unerträglich geworden war, und sie ihm dann Trost gegeben hatte. Er begriff nicht ganz, was ihn dazu gebracht hatte, sie von sich zu weisen. Der Grund mochte sein, dass sie für seinen Halbbruder bestimmt gewesen war und dass Gunnar sich nicht dem unvermeidlichen Schmerz hatte aussetzen wollen, wenn sie Eirik ihm vorzog. Aber jetzt war ihm überdeutlich bewusst, dass sie für immer einen festen Platz in seinem Herzen hatte, der nur für sie bestimmt war.
Es war ein Jammer, dass die Bestimmung ihn in wenigen Tagen hinaus aufs Meer führen würde. Und während dieser Gedanke ihm durch den Kopf ging, gelangte Gunnar zu dem Schluss, dass es wohl das Beste für sie sein würde, wenn er fortginge. Sie verdiente jemanden, der so ehrenhaft und so gut war wie sie selbst. Jemanden, der ihr mehr bieten konnte, als er von ihr nehmen würde. Jemanden, der ihr einen Bruchteil dessen zurückgeben könnte, was sie einem Mann zu schenken hatte. Er selbst war dieser Mann nicht, und er wusste, dass es sinnlos wäre, danach zu streben. Während sie strahlendes Licht war, war er nur Dunkelheit. Er würde nur von ihr nehmen. Aber in dieser Nacht würde er sie aufsuchen, würde ein letztes Mal mit ihr sprechen, sie ein letztes Mal in den Armen halten. Das müsste ihm für den Rest seines Lebens genügen.
Kadlin wachte in dem verstörenden Bewusstsein auf, dass sie in ihrer Schlafkammer nicht allein war. Sie blieb ganz still liegen und lauschte, ob irgendein Geräusch den Eindringling verraten würde, aber sie hörte nur das Pochen ihres eigenen Herzens. Das Feuer schwelte nur noch, und sie musste blinzeln, damit sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Da war eine gewisse Schwere in dem Raum, eine Gegenwart, die nicht ihre eigene war. Sie war sicher, dass sie sich das nicht einbildete. Diese Gegenwart verursachte ihr ein Kribbeln auf der Haut und sog gleichsam die Luft aus ihrer kleinen Kammer heraus.
Wo war bloß ihr Hund? Der Umstand, dass ihr treuer Kamerad sie verlassen hatte, bereitete ihr ein namenloses Unbehagen, sodass ihr das Herz in der Brust fror. Wenn jemand Freya hatte fortlocken können, dann .
"Ich bin es nur, Kadlin. Hab keine Angst."
Gunnar! Seine Stimme hätte sie überall erkannt. Den tiefen Klang seiner Stimme begleiteten sprühende Funken, als das Feuer wieder aufflackerte. Der warme Schein liebkoste Gunnars Gesicht, und seinen bernsteinfarbenen Augen schien aus der kurzen Entfernung ein Glühen innezuwohnen. Das Flackern des Feuers hob das dunkle Rot seines Haars hervor, und erneut verlor Kadlin sich in seinen markanten Gesichtszügen, auf denen sich Licht und Schatten in rascher Folge abwechselten. Er war wie der zum Leben erwachte Gott des Feuers.
Aber er war Gunnar, ein unverwechselbarer Mann aus Fleisch und Blut. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, aber aus einem ganz anderen Grund. Sie hatte ihn seit über zwei Jahren nicht gesehen, denn damals war er fortgegangen, war in den Kampf jenseits des Meeres gezogen. Aber selbst vor dieser Zeit hatte sie ihn kaum richtig kennengelernt, es gab nur verstohlene Blicke und Mahlzeiten in verlegener Atmosphäre, wenn ihre Väter zusammenkamen. Sie waren immer noch Kinder gewesen, als er das letzte Mal die lange Wanderung allein durch den Wald von seiner Wohnstatt zu ihrem Bett unternommen hatte.
Jetzt aber hatte er die breiten Schultern eines erfahrenen Kriegers, die durch den Pelzumhang sogar noch breiter wirkten. Sie konnte den Blick kaum von der Kraft dieser Schultern abwenden. Wie selbstverständlich begann er, das Feuer zu schüren, wobei sie bemerkte, wie groß und stark seine Hände geworden waren. Ganz anders als jene, die sie so viele Jahre zuvor gehalten hatten. Tief in ihr machte sich ein Zittern bemerkbar.
"Ich wusste nicht, ob ich dich wiedersehen würde." Sie war etwas außer Atem, während sie die Worte aussprach, und musste tief Luft holen, als sie sich im Bett aufrichtete. Sie wollte ihn berühren, um sicher zu sein, dass er wirklich da war und sie keinem Traum aufsaß. Sie wollte seine Schultern mit den Händen berühren, wollte dieses Gefühl mit ihren Träumen vergleichen. Sie sehnte sich danach, ihre Hände auszustrecken und ihn festzuhalten, ehe er gehen und sie ihn nie wiedersehen würde. Sie wollte ihn dafür schütteln, dass er sie verließ.
Aber es war so viel Zeit verstrichen, seit sie die unbeschwerte Kameradschaft ihrer Jugend genossen hatten, und er schien so kämpferisch und unnahbar geworden zu sein, so ganz anders als jener Junge, an den sie sich erinnerte. "Du bist im Herbst mit Eirik zurückgekehrt." Sie hätten den ganzen Winter miteinander verbringen können, um sich wieder näherzukommen. Diesen Gedanken sprach sie nicht aus, aber der Vorwurf hing wortlos zwischen ihnen in der Luft. "Warum bist du nicht gekommen?" Da löste sich ein Schatten aus der Ecke hinter ihm, und Kadlin sah, dass Freya ein großes Stück getrocknetes Fleisch bekommen hatte. Wie es schien, hatte sich Gunnar gut auf dieses heimliche Treffen vorbereitet!
Er tat einen tiefen Atemzug und war offenbar zu einer Entscheidung gelangt, denn als sein Blick sie traf, sah Gunnar ihr so direkt und ernst in die Augen, dass es ihr die Sprache verschlug. Kein belustigtes Funkeln lag in diesem Blick, keine...