Intro
Ich musste schon um mein Leben kämpfen, bevor ich überhaupt wusste, was Leben eigentlich bedeutet. Deswegen ist das inzwischen die einzige Variante des Lebens, die ich kenne. Nach all dieser Zeit bin ich mittlerweile sogar so weit, dass ich mich umso wohler fühle, je mehr Schmerzen ich habe. Ich kenne kein Leben ohne Schmerzen mehr. - Was nicht heißen soll, dass ich mir selber Schmerzen zufüge, nein, die kommen weiterhin von ganz allein. Und wenn die Schmerzen da sind, dann ist es alles andere als angenehm, aber wenn ich mal wirklich annähernd keine Schmerzen habe, dann fühlt sich alles total fremd und ungewohnt an - als ob irgendetwas fehlt. Komischerweise fühlt es sich dann sogar so an, als ob ich stillstehe. Vielleicht haben mich die ganzen Erlebnisse tatsächlich in die Vorstellung getrieben, dass ich nur weiß, dass ich noch lebe, wenn ich Schmerzen habe. Aber es sind eben auch Schmerzen dabei, die mich im wahrsten Sinne des Wortes auf die Knie zwingen. Wenn ich wenigstens mit voller Stärke den Schmerzen gegenüberstehen könnte, aber meine Energie reicht einfach nur für wenigen Stunden am Tag, danach erlangen Müdigkeit und Energielosigkeit die Überhand. Wenn man das Spiel über ein Jahrzehnt mitspielt, dann sollte man meinen, dass man es irgendwann gewohnt ist, aber das Tödliche sind nicht die Schmerzen oder die Energielosigkeit: Das Tödliche ist, wenn es bei all diesen Sachen einfach keine Pause gibt - niemals!
Ich habe Angst davor, dass ich es nicht schaffe. Dass ich es nicht schaffe, selber wieder herauszukommen. Dass ich den Burn-out nicht verhindern kann. Dass ich mein Leben selber nicht in den Griff bekomme. Dass ich es nicht schaffe, selber wieder auf die Beine zu kommen. Ich habe Angst davor, dass ich meinem Anspruch, meinem Ehrgeiz nicht gerecht werde. Dass ich mir selber nicht standhalten kann. Wenn ich mich nicht selber ständig fordere, den Druck auf mich selber nicht permanent aufrechterhalte, dann habe ich das Gefühl, dass alles um mich herum zerbricht, dass mein Leben auseinanderfällt, dass ich Zeit verschwende. Dann habe ich immer den Eindruck, ich würde mein Leben, meine Zeit vergeuden. Wenn ich mal ein oder zwei Tage Pause mache und >nur herumliege<, dann erscheint es mir, als ob ich mein Leben wegwerfe, dann geht irgendwie alles zugrunde. Wenn ich den Druck nicht aufrechterhalte, dann fühlt es sich so an, als ob mein Körper kollabiert. Wenn ich mich nicht ständig fordere, dann bin ich unzufrieden mit mir. Es geht immer nur um den nächsten Schritt, ich darf nicht stehen bleiben. Wenn ich stehen bleibe, dann versinke ich. Als ob ich im Treibsand versinken würde, sobald ich aufhöre vorwärtszugehen. Ich weiß nicht, wo das noch hinführt. Wenn ich diese Situation nicht in den Griff bekomme, dann kann das ein sehr böses Ende nehmen. Ich habe Angst davor.
Notizbuch 2015
Aber jetzt stellt sich schon ein bisschen die Frage: Was zur Hölle muss einem Menschen passieren, damit er mit Ende 20 schon so einen Zustand seinen Alltag nennt?
In meinem Leben sind Dinge Realität, von denen niemand will, dass sie Realität sind. Es sind mit Sicherheit auch Sachen dabei, von denen man will, dass sie Realität sind, aber das eine geht nicht ohne das andere. Manches geht nur Hand in Hand.
Manchmal musst du einfach eine Distanz gehen, die so groß ist, dass du Angst davor hast. Eine Distanz, die alles von dir verlangen und dich in deinen Grundwerten erschüttern wird. Eine Distanz, die dir ganz genau aufzeigt, wo deine Defizite sind und wie schnell dein Leben vorbei sein kann. Eine Distanz, die dir jeden Funken Hoffnung aus der Seele presst und dich langsam aber sicher den Wahnsinn der eiskalten Einsamkeit spüren lässt. Das Problem ist nur, dass du am Ende dieser Distanz feststellen musst, dass das erst der Anfang war und es jetzt erst so richtig beginnt .
Ich habe wirklich lange gezögert, mit dem Schreiben anzufangen. Ich hatte es zwar seit sehr langer Zeit im Kopf und habe auch schon ein paar Mal halbherzig damit angefangen, aber ich wusste immer ganz genau: Wenn ich es jetzt ernsthaft anfange und bis zum Schluss durchziehe, dann kommen mir permanent Tausend Sachen in den Kopf, die ich auf gar keinen Fall vergessen will aufzuschreiben. Und diesen Gedanken kommen natürlich immer genau dann, wenn man eigentlich gerade was anderes im Kopf und natürlich nichts zum Notieren zur Hand hat. Auf der anderen Seite geht mir sowieso immer alles Mögliche bezüglich meines Lebens durch den Kopf und das ist ja eigentlich auch der Grund, warum ich anfangen wollte, alles mal aufzuschreiben. Der Unterschied wäre nur, dass ich alles ein bisschen ausblenden könnte, solange ich es nicht aufschreibe. Aber da das ja so supertoll funktioniert in all den Jahren, komme ich in letzter Zeit immer mehr zu dem Entschluss: Ich muss anfangen zu schreiben und es auch durchziehen.
Das erste Mal fing ich im Juli 2014 damit an. Ich habe nie wirklich gewusst, auf welche Art und Weise ich die Sachen zu Papier bringen, wie ich alles verpacken soll, aber ich fing einfach an, meine Gedanken in ein Notizbuch zu schreiben, wann immer mir irgendwas in den Kopf kam. Das war sehr ungewohnt für mich. Ich habe noch nie vorher ernsthaft versucht, meine Gedanken festzuhalten, aber das war ja noch lange kein Grund dafür, es nicht mal zu versuchen. Das hier sind meine ersten Zeilen aus meinem Notizbuch vor sechs Jahren:
Die ganze Zeit versuche ich, diese Gedanken auszublenden, sobald sie mir in den Kopf kommen. Weil ich immer das Gefühl habe, dass ich daran zerbreche und komplett durchdrehe. Jetzt ist es nach sieben Jahren an der Zeit, diesen Gedanken aufzuschreiben, damit ich einen freien Kopf bekomme. Es geht nicht darum, dies alles zu vergessen. Ich will diese Sachen gar nicht vergessen. Sehr wahrscheinlich werde ich sie auch nie vergessen. Aber jetzt muss ich alles mal aus meinem Kopf >rausschreiben<, damit ich nicht immer befürchten muss, dass ich etwas davon vergesse und damit ich weiß, es steht irgendwo geschrieben und ich kann mit einem freien Kopf in die Zukunft schauen. Vielleicht geht es auch ein bisschen darum, loszulassen.
Viele der Erlebnisse haben mich zu dem gemacht, der ich heute bin. Schon alleine deswegen werde ich vieles nicht vergessen. Permanent muss ich mich konzentrieren und mich daran erinnern, dass ich diese Gedanken ausblende und gewissermaßen aussperre, sobald die Vergangenheit wieder in meinen Kopf kommt. Meistens hält das nicht lange, aber wenn ich es nicht mache, dann zieht es mich wieder in diesen Sumpf hinein und das will ich vermeiden. Und jetzt, da ich endlich angefangen habe zu schreiben, komme ich nicht mal in Ruhe zum Autofahren, weil meine Gedanken ständig abschweifen und ich anhalten muss, um sie aufzuschreiben.
Wenn mich Leute fragen, dann will ich auf der einen Seite, dass sie es erfahren. Auf der anderen Seite aber, und das überwiegt, will ich und kann ich das meiste nicht erzählen. Alles, was ich zu erzählen hätte, ist schwer verständlich und man kann es fast nur begreifen, wenn man es miterlebt hat. Vor allem ist es schwer, so etwas in fünf Sätzen zusammenzufassen.
Notizbuch 2014
Diesen Text habe ich tatsächlich, gerade jetzt, da ich ihn hier abtippe, das erste Mal seit Juli 2014 gelesen. Alles was in meinem Notizbuch steht, habe ich hauptsächlich im zweiten Halbjahr 2014 geschrieben. Wenn ich den Text so lese, muss ich feststellen, dass es mir damals schon schwergefallen ist, die Umstände in dem entsprechenden Ausmaß halbwegs realistisch darzustellen und zu Papier zu bringen. Vor allem klingt das jetzt im Nachhinein alles noch recht verwirrt. Damals habe ich wirklich gehofft, dass ich mit dem Aufschreiben meinen Kopf etwas freimachen kann. Allerdings war der Effekt nicht wahnsinnig groß, eher schon fast vernachlässigbar gering.
Was mir letztendlich weitergeholfen hat, war nicht das Aufschreiben, sondern das Verarbeiten, und zwar unabhängig vom Aufschreiben. Verarbeiten heißt in diesem Fall, alles bis ins kleinste Detail auseinanderzunehmen und zu verstehen, was passiert und abgelaufen ist. Es macht zwar den Kopf nicht zwingend freier, aber ich kann dann besser mit allem umgehen. Ich bin auch lange noch nicht damit fertig. Es wird meine gesamte Lebenszeit dauern, bis ich damit durch bin.
Ich habe mich nie als irgendwas Besonderes oder Spezielles gesehen, obwohl ich ganz genau weiß, dass ich sehr speziell bin. Wenn ich mir die Welt so anschaue, die verschiedenen Menschen, wie sich Leute verhalten, welche Entscheidungen getroffen werden, oder auch einfach nur, was alles so um mich herum und auf der Welt geschieht, dann merke ich ganz deutlich, dass mein Kopf komplett anders arbeitet. Das führte mich zu dem Glauben, dass ich einfach mal aufschreiben muss, was in meinem Leben bisher so abgelaufen ist und warum ich bin, wer ich bin. Ich bin der Meinung, dass sehr viele Menschen einen Nutzen aus meinen Erfahrungen und Gedankengängen ziehen könnten. Ich bin noch vielmehr der Meinung, dass noch mehr Menschen einen Nutzen aus meine Erfahrungen und Gedankengängen ziehen müssen, denn wenn ich mich so umschaue, dann habe ich sehr oft das Gefühl, dass niemand mehr weiß, wieso man...