Schweitzer Fachinformationen
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Nach dem Sonnenaufgang stand ich im Tag und wusste nichts damit anzufangen. Auf einer Reise sollte man irgendetwas mit dem Tag anfangen, weil jede Reise eine Abfolge vieler kleiner Tode ist. Sehenswürdigkeiten, Reisebekanntschaften vergehen, und man sagt zwar, dass man unterwegs ist hin zu, tatsächlich aber ist man immer unterwegs weg von. In diesem Fall aber wollte ich nicht weg von, weil Olga noch nicht unterwegs hin zu war. Da das gemeinsame Reisen auch immer die Reisefreiheit des anderen einschließt, wollte ich in Olgas Freiheit nicht einfallen. Stattdessen schaute ich ihr dabei zu, wie sie mit dem Tag etwas anfing. Sie badete im See, sie lag in der Sonne, sie kaufte einen Trockenfisch und aß ihn dann nicht. Sie badete noch einmal im See, sie sonnte sich, sie unterhielt sich mit einer der Frauen, die Gebäck verkauften.
«Und du?», fragte sie mich, weil ich immer noch da war. «Wohin willst du?»
«Muss man immer irgendwohin wollen?»
«Wäre besser.»
«Mh.»
«Was bedeutet das?»
«Wie lange bleibst du hier?», fragte ich.
«Morgen wollte ich weiter.»
«Wohin?»
«Wieso? Willst du mit?»
«Dann wüsste ich, wohin ich will.»
Kirgistan hat viel Natur. Auch dort, wo der Mensch lebt, ist Natur. Es war nicht klar auszumachen, wo der Mensch aufhörte und die Natur begann, wo der Mensch gewesen, nun aber wieder Natur war oder wo der Mensch bislang nicht gewesen und noch Natur war. Und als in dieser Nacht in Tamchy der Strom ausfiel, glaubte ich, dass, wenn überhaupt, dann hier in Kirgistan Natur und Mensch noch eins waren.
Bevor mir in der Nacht dieser Gedanke kam, hatte ich dem Tag dabei zugesehen, wie er mit Olga verging. Ich schrieb dazu: Es gibt Sehenswürdigkeiten, Kirchen und Moscheen, Tempel und Museen, und dann gibt es Menschen. Sehenswürdigkeiten besichtigt man, Menschen trifft man. Im Moment aber besichtige ich Olga. Sie badet im See. Oder eigentlich läuft sie im Wasser, weil der See, so groß er auch ist, kaum Tiefe hat. Olga humpelt über die Steine auf dem Grund. Schön wäre es, wenn sie mir zuwinken würde. Dann hätte ich das Gefühl, ich würde ihr etwas bedeuten, zumindest so viel, dass sie kurz die Steine unter ihren Füßen vergessen würde. Aber sie achtet nur darauf, wo sie steht und wohin sie gehen will. Dass ich hier am Ufer liege und ihr zuschaue dabei, scheint ihr gleichgültig. Immerhin liegt ihr Handtuch neben mir. Oder vielleicht liegt mein Handtuch neben ihrem. Sie ist schön, wie sie da läuft, die Berge und die Wolken im Hintergrund. Man könnte sie jetzt malen. Ein Foto möchte ich nicht machen. Sie ist ein Mensch, an den man immer wieder denken muss, wenn man einmal ein Foto von ihm gemacht hat.
«Fertig?», fragte ich, als sie wieder aus dem Wasser kam.
«Ja. Du schwimmst nicht?»
«Nein. Wenn man lange im Wasser bleibt, wird es kalt.»
«Es ist von Anfang an kalt.»
«Vielleicht.»
«Aber es wird dann wärmer.»
Ich nickte. Olga lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sie sagte noch: «Die Sonne ist warm», dann schlief sie ein.
Während der Nachmittag verging, sah ich Dinge, die im Spätsommer in Kirgistan am Issyk-Kul geschehen. Diese Dinge würden schnell an Wert verlieren, sobald ich anderswo wäre, deshalb wollte ich sie notieren. Olga liegt neben mir und schläft, schrieb ich. Mehr schrieb ich nicht.
Olga wachte auf und sah, dass ich las.
«Was liest du da?», fragte sie. Ich gab ihr das Buch.
«Kenne ich nicht. Worum geht's?»
«Ein Engländer reist durch China und trifft verschiedene Menschen.»
«Ich versteh das nicht. Wieso glauben die Leute, dass eine Geschichte besonders wird, nur weil sie an irgendwelchen fernen Orten spielt?»
Sie gab mir das Buch zurück und sagte, sie wolle jetzt den Ort erkunden. Ich erwiderte, dass es wahrscheinlich nicht viel zu erkunden gebe, aber sie meinte, es sei überall immer irgendetwas zu erkunden. Dann stand sie auf.
«Ich würde gern mehr über dich wissen», sagte ich.
«Nicht auf Reisen.»
«Aber im Moment reist du doch gar nicht.»
«Deshalb geh ich jetzt den Ort besichtigen.»
Wir gingen - das heißt, sie ging, und ich ging mit - durch Tamchy. Viel mehr als das, was wir schon gesehen hatten, gab es tatsächlich nicht zu erkunden. Immer wieder ähnliche und deshalb bald langweilige Häuser, sandige, holprige Wege, Strommasten aus Holz, an denen träge die Stromkabel hingen. Wir setzten uns in eine Laube, die als Imbiss fungierte, und bestellten ein Reisgericht mit Namen Plov und Brot dazu, mehr Auswahl gab es nicht.
«Was machen wir heute Abend?», fragte ich Olga.
«Jeder kann machen, was er will», sagte sie.
«Frag doch mal die Frau, was man hier abends machen kann.»
«Man kann schwimmen.»
«Frag doch mal.»
Sie tat es widerwillig, tat es aber immerhin, und nach einigen russischen Sätzen zeigte die Frau den Weg hinauf.
«Was sagt sie?», fragte ich Olga.
«Heute Abend gibt es einen Gesangswettbewerb. Hier ist ein kleines Theater», übersetzte Olga.
«Wer singt?»
«Jeder kann singen.»
«Willst du singen?»
«Nein. Willst du?»
«Nein. Aber lass es uns anschauen, ja?»
Kirgistan besteht aus zwei Teilen. Der südliche Teil, in dem Osch liegt, wo der Italiener ausgeraubt worden war, ist heiß, trocken und staubig. Er gleicht mehr der arabischen Welt. Moscheen stehen herum, Minarette stoßen in den Himmel, es gibt dort Bazare, keine Märkte. Der nördliche Teil ist russisch, kühler, zum Teil pompöser, aber sowjetisch abgehalftert. In Bischkek ragt eine Lenin-Statue in den Himmel, Marx und Engels sitzen herum, und neben ihnen verkaufen Straßenhändler alte CDs in neuen Hüllen. Um vom Südteil in den Nordteil zu kommen, muss man eine hohe Bergkette überqueren. In den Bergen sieht man Hirten, die dort den Sommer in Jurten oder Wohnwagen verbringen und Pferde und Kühe hüten. Kurz vor der Tunneleinfahrt zur anderen Seite des Landes entspringt eine Quelle. Das Quellwasser ist kühl und rein. Als ich einige Tage zuvor an dieser Stelle vorbeigekommen war, fand ich es sehr bedauerlich, dass es den Berg hinabfließen muss und dann bald gar nicht mehr kühl und rein ist. Ich hatte deshalb meine Flasche mit dem Quellwasser gefüllt und sie bisher nicht angerührt. Ich wollte das Wasser beschützen, seine Unschuld bewahren.
Olga musste die Flasche ausgetrunken haben, nachdem wir den Ort erkundet hatten und zurück in unsere Herberge gekommen waren. Als ich später ins Zimmer kam, stand sie leer auf dem kleinen Nachttisch.
Ich wusste nicht, was Olga machte, während ich darauf wartete, dass wir zum kleinen Theater gingen. Ich konnte sehen, was sie tat, ich verstand aber nicht, was sie machte. Sie lag auf ihrem Bett und starrte an die Decke. Ich lag auf meinem Bett und schaute gelegentlich zu ihr hinüber, aber sie bewegte sich nicht. Schließlich holte ich meine Kamera heraus und überflog, um irgendetwas zu tun, die Bilder aus Kirgistan. Ich wunderte mich, dass ich so viele Fotos gemacht hatte, stellte aber bald fest, dass ich schon im zweiten Durchlauf war. Dann überprüfte ich, welche mir bisher unbekannten Funktionen die Kamera hatte, und stellte fest, dass es eine Diashow mit Musik gab. Zu sanften Klängen zogen die Bilder vorbei. «Bitte, kannst du das ausmachen?», sagte Olga. Immerhin, wenn ich sie störte, reagierte sie noch auf mich.
Dann entdeckte ich etwas, was eine so kindliche Freude in mir hervorbrachte, dass es mir gleich war, was Olga gerade machte, und ich den Vorsatz, kein Foto von ihr zu schießen, sofort vergaß. Ich entdeckte die Smile-Funktion. «Olga», sagte ich aufgeregt, «hier gibt es eine Smile-Funktion!» Ich richtete mich auf und die Kamera auf Olga. «Ich fotografiere dich jetzt, aber du musst lächeln, sonst macht die Kamera kein Foto von dir!»
Die Kamera machte an diesem Nachmittag kein Foto von ihr.
Am späten Nachmittag stand Olga plötzlich auf. «Zeit zu gehen», sagte sie. Also gingen wir. Das Theater fanden wir schnell. Es war das größte Gebäude in Tamchy und, wie Olga von einer jungen Frau und ich dann von Olga erfuhr, eigentlich eine Schule. Wir standen auf zersprungenen Betonplatten vor dem Eingang, gedämpfte Basslaute drangen vom Innern zu uns heraus. Olga tat etwas, was ich ihr gar nicht zugetraut hätte: Sie zögerte.
«Wie es wohl drinnen aussieht?», sagte ich.
«Wie in meiner Schule.»
«Gehen wir rein?»
Olga nickte, vielleicht wollte sie sich damit selbst einen Ruck geben. Die aufgeplatzten Betonplatten setzten sich im Schulgebäude fort, Risse krochen wie Wurzeln vom Boden die grauen Wände empor oder kamen von der Decke herab. Eine einsame, leere Glasvitrine stand im Gang, vier Jugendliche standen vor einer Tür.
«Und, sieht es tatsächlich aus wie in deiner Schule?», fragte ich.
«Wir hatten einen Pokal in der Glasvitrine. Zweiter Platz, Schüler-Boxmeisterschaft 1978. Nikolas Juschenkow.»
Die Tür zu dem Raum, in dem gesungen wurde, schwang auf, ein junges Mädchen und eine Welle von Gesang schwappten heraus.
«Dann mal rein», sagte ich und schritt voran.
«Nein», sagte Olga.
Eine Gruppe von Mädchen kam an mir vorbei und schaute mich an. Ich sah Olga hinterher, die nun zielstrebig zurück zur Eingangstür lief. Ich war zunächst unentschlossen, wohin ich gehen sollte. Eines der Mädchen hobelte schließlich einige Vokabeln aus ihrem Gedächtnis, sie forderte mich in einem mit den scharfen Kanten ihrer eigenen Sprache versehenen Englisch auf, ihnen in die Aula zu folgen.
In der Aula stand...
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