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»Der Kelch war also aus Gold, Söt, sind Sie sicher?«
Es war nicht leicht gewesen, Theodor Storm wach zu bekommen. Er hatte mich erst angewidert angesehen und mit dem Finger auf den dunklen Fleck auf meinem Hemd gezeigt. Ich wusste selbst, dass ich nach Erbrochenem stank, sicher auch nach Branntwein, und dass für Storm beides zusammengehören würde. Aber ich wollte ihm als Erstem berichten, was ich gesehen hatte, weil ich ihm in diesem Moment eher zutraute als mir, den nächsten Schritt zu unternehmen. Als ich dann von dem Kelch gesprochen hatte, war sein Ekel verschwunden. Er hatte sich in seinem Bett aufgerichtet und mich neugierig angestarrt.
»Und wo ist der Kelch jetzt?«
Storm hatte zwei Räume im Haus des Versicherungsagenten Schmidt in der Großstraße gemietet. Der vordere war seine Kanzlei, im hinteren wohnte er. Das Haus war alt, wie die meisten hier, und zeigte mit dem Giebel zur Straße, die sich verbreiterte und in den Marktplatz überging.
»Ich weiß nicht. Als ich zurückkam, lag da nur noch ein Mann.«
»Was für ein Mann?«
»Keine Ahnung. Ziemlich einfach gekleidet, vielleicht ein Seemann. Tot, glaube ich.«
»Woher wissen Sie das? Drehen Sie sich bitte mal um.«
Ich ging wieder ins vordere Zimmer. Tagsüber arbeitete ich hier mit Storm. Mein Stehpult war der einzige Fleck im Raum, der nicht mit Büchern oder dicken Aktenbündeln bedeckt war. Oder mit Noten. Da Storm als Anwalt nicht sonderlich beschäftigt war, ließ er mich oft die Stimmen für die Sänger des Chors abschreiben, den er im letzten April gegründet hatte. Während Storm sich anzog, fühlte ich plötzlich den Schwindel wie eine Welle aufsteigen. Ich hielt mich mit beiden Händen am Stehpult fest und versuchte das Blatt zu lesen, das ich gestern nach Storms Diktat geschrieben hatte. Seit neuestem sammelte er Spukgeschichten, die er in Büchern fand oder die er sich erzählen ließ. In dieser ging es um einen Handwerksgesellen, der in ein neues Zimmer zieht und dort in manchen Nächten vom Kehrgeräusch eines Besens geweckt wird. Eines Nachts kommt er spät heim und sieht von draußen durch das Fenster in seine Kammer, wo eine weiße Gestalt sitzt und hinausschaut.
Die Buchstaben tanzten vor meinen Augen, und ich hatte Mühe, den kurzen Text zu Ende zu lesen.
»Dann wollen wir mal«, sagte Storm, als er aus seinem Schlafzimmer zu mir in die Kanzlei kam. »Sie sind übrigens ziemlich bleich, Söt, die Sache setzt Ihnen zu, oder?«
War das noch mal eine Spitze wegen des Flecks auf meinem Hemd? Meine Antwort wartete er nicht ab. Er verließ das Haus durch die Seitentür, lief nach vorn zur Großstraße und bog dann nach links. Ich hatte erwartet, dass er quer über den Marktplatz zur Krämerstraße und dann hinunter zum Hafen laufen würde, aber er eilte an der Rathaustreppe vorbei und dann wieder links den engen Weg entlang, der nach Norden und direkt zum Schloss führte. Während wir liefen, fing es wieder an zu regnen.
Der große, langgestreckte Bau hinter dem Wassergraben war mir von vielen Besuchen vertraut. Im Sommer war es dort angenehm kühl, jetzt aber spürte man die Zugluft und die Feuchtigkeit der Wände. Auch die prächtigen großen Kamine hielten das Schloss nicht warm. Der alte Hans von Krogh residierte dort, der Amtmann des dänischen Königs für Husum und Umgebung, dessen Töchter in Storms Chor sangen. Auch sein Verwalter Anton Setzer wohnte mit seinen elf Kindern im Schloss. Seine schöne Tochter Laura war ebenfalls im Chor. Inzwischen hatte ich verstanden, dass Storm auf dem matschigen Weg zum Kavalierhaus war, einem hohen Gebäude mit spitzem Giebel, das sich in einigem Abstand zum Schloss auf demselben Grundstück befand. Dort lebte Husums Bürgermeister Kaup, der für alles zuständig war, was in der Stadt und am Hafen geschah. Auch für die Untersuchung eines außergewöhnlichen Todesfalls.
»Finden Sie nicht, dass es langsam mal schneien könnte, so kurz vor Weihnachten?«, fragte Storm durch den Nieselregen. Er zog am Seil der Türglocke. Wir hörten die schlurfenden Schritte von der anderen Seite. Der Aufseher öffnete. Er trug statt der Uniform einen Schlafrock und gab sich keine Mühe, seinen Ärger zu verbergen. »Ich weiß, Herr Tostensen, dass ich Sie recht früh aufsuche«, begann Storm, aber Tostensen unterbrach ihn nuschelnd, dass der Herr Bürgermeister schon aus dem Haus sei und wegen seiner Rückkehr nichts hinterlassen hätte.
Der Regen war mit jeder Minute stärker geworden, ich sah, wie Storms dunkelblonde Haare an seiner Stirn klebten und sich dicke Tropfen von ihnen lösten. Das Haar sah noch dünner aus als sonst.
»Hat es Sinn, lieber Herr Tostensen, wenn wir vielleicht drinnen auf den Bürgermeister warten?«, sagte Storm betont höflich. Ich merkte, dass er gleich explodieren würde. Tostensen merkte es wohl auch und gab mit mürrischem Gesicht den Weg frei. Wir stiegen die Treppe hinauf und folgten dem Gang bis in Kaups Arbeitszimmer. Storm setzte sich auf das Sofa, ich nahm mir einen Stuhl. »Denken Sie bitte noch mal nach, Söt«, sagte Storm. »Haben Sie niemanden in der Nähe des Hafens gesehen? Auch nicht auf dem Weg dorthin?« Ich versuchte mich zu erinnern. Etwas war mir entfallen, das spürte ich, etwas, das ich in der Nacht bemerkt und unheimlich gefunden hatte. Ich hatte nur keine Ahnung, was.
Die Haustür wurde geöffnet und wieder zugeschlagen, dann hörten wir rasche Schritte auf der Treppe. Storm setzte sich aufrecht hin.
»Die Herren, so früh schon?«, sagte Kaup. Er trug Pantoffeln. Seine Haare waren völlig durchnässt, der Mantel hing wohl schon in der Garderobe bei den Stiefeln. Er setzte sich an seinen Schreibtisch. »Der Tee ist gleich da.«
»Herr Söt hat heute Morgen eine Beobachtung am Hafen gemacht«, sagte Storm, »und trotz seines wenig präsentablen Zustands habe ich ihn gebeten, Ihnen gleich mitzuteilen, was er gesehen hat.«
Ich hätte auch gleich in die Süderstraße gehen und den Rausch in meiner Kammer ausschlafen können, dachte ich ärgerlich. Aber Kaup machte nicht den Eindruck, als ob er den Fleck auf meinem Hemd überhaupt bemerkte.
»Herr Söt?«
Als ich anfangen wollte, öffnete sich die Tür. Kaups Dienstmädchen brachte ein Tablett mit Kanne, Stövchen und Teetassen aus dünnem Porzellan. Sie schenkte jedem von uns ein. Vom Gang her kam durchdringendes Geschrei.
»Isabella?«, fragte Storm.
»Sie kriegt Zähne«, sagte Kaup, »und wenn einer mal da ist und zwei Wochen Ruhe, dann kommt schon der nächste. Es ist zum Verrücktwerden. Also, Herr Söt, was haben Sie gesehen?«
Ich erzählte der Reihe nach. Beim Kelch hörte Kaup aufmerksam zu und stellte Fragen zu seiner Form und Ausstattung, von denen ich kaum eine beantworten konnte. Als ich von dem Mann im Hafenbecken erzählte, winkte er ab.
»Den bergen wir gerade«, sagte er, und Storm, der mit meiner sensationellen Geschichte gleich zum Bürgermeister geeilt war, verbarg seine Enttäuschung darüber nicht, dass ihm jemand zuvorgekommen war. Auch ein Fischer hatte die Leiche entdeckt, als er auf dem Weg zu seinem Boot gewesen war, um dort zu schlafen. Er hatte sich bei Kaup gemeldet, während ich noch damit beschäftigt war, Storm zu wecken. Wieder dachte ich, dass ich mir das Ganze hätte sparen können, und auch Storm dachte wahrscheinlich gerade an sein Bett.
»Ich vermute mal, dass er im Suff da reingefallen ist«, sagte Kaup. »Das hätten natürlich auch Sie sein können, Herr Söt, wenn Sie Pech gehabt hätten. Denken Sie mal darüber nach.«
»Wenn ich da reingefallen wäre, dann hätte ich mir vielleicht das Gesicht mit Schlick beschmiert, aber das hätte ich überlebt. Woran ist der Mann eigentlich gestorben?«
»Was weiß ich, vielleicht ertrunken? Wir werden ihn natürlich obduzieren, das ist ja neuerdings so vorgeschrieben .« Kaup verstummte plötzlich und schien nachzudenken.
»Ertrunken ja wohl nicht«, sagte Storm vorsichtig.
Durch die Stille drang wieder Isabellas Gebrüll.
»Würden Sie beide mich noch einmal zum Hafen begleiten?«, sagte Kaup nach einer Weile. »Vielleicht klärt sich dort alles. Und wahrscheinlich wissen wir inzwischen auch, wer der Tote ist.«
Es war noch nicht wieder richtig hell geworden, und so wie ich die Stadt in diesem Winter erlebt hatte, würde es heute wahrscheinlich bis zur Dämmerung so bleiben. Kaup hatte seine Stiefel wieder angezogen und lief voraus über das Schlossgelände und durch die Neustadt bis zur Hohlen Gasse, die direkt zum Hafen führte. Es war Freitag, zwei Tage vor Heiligabend, und die Stadt war noch schläfriger als sonst. In den Geschäften wurden allmählich funzelige Öllampen entzündet, Türen klapperten, Fensterläden knarrten im Wind, aber es ließ sich kaum jemand auf der Straße blicken. Nur der Rauch aus den Kaminen zeigte, dass die Häuser bewohnt waren, der Geruch nach Torf, Brot oder Branntwein aus den Backstuben und Brennereien. Im Laden von Konditor Oombur, der vor vielen Jahren aus Flensburg zugezogen war und hier geheiratet hatte, warteten die Dienstmädchen auf das Weihnachtsgebäck, das ihnen die fünfzehnjährige Nichte von Frau Oombur verkaufte. Anna war in der ganzen Stadt für ihre schlechte Laune berüchtigt, vor allem frühmorgens.
Auch in Theodor Storms Elternhaus in der Hohlen Gasse wurde gebacken. Wir liefen an der breiten Fassade vorbei, die die Nachbarhäuser überragte, an der Treppe zur Eingangstür im Hochparterre und an dem Tor zum Nebengebäude, dem Packhaus, in dem Storms Vater seine Kanzlei hatte. Er gehörte keiner der alten Familien an, sondern hatte sich hochgearbeitet, vom Sohn eines einfachen Müllers aus der Gegend...
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