Schweitzer Fachinformationen
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Ich musste nicht lange auf Storm warten. Weil ich ihn nicht erschrecken wollte, hatte ich mich in einigem Abstand von der Haustür mitten auf die Großstraße gestellt. Der Mond beschien mich ebenso wie die Kirche, den Marktplatz und die alten Giebelhäuser im Zentrum der Stadt. Ich wusste, dass Storm von seinem Vaterhaus in der Hohlen Gasse ein paar Schritte laufen und dann in die Großstraße einbiegen würde. Außer uns war kein Mensch unterwegs, er sah mich schon von weitem und verlangsamte vorsichtig seine Schritte. Dann hatte er mich erkannt und ging wieder schneller auf mich zu.
»Sollten Sie nicht allmählich im Bett sein, Söt?«, fragte er. Dann besah er mich von oben bis unten. »Möchten Sie vielleicht noch einmal in die Kanzlei kommen? Sie sehen aus, als ob Sie etwas loswerden müssen.«
Theodor Storm war damals, im Juni 1844, sechsundzwanzig Jahre alt, etwas älter als ich. Er hatte sich nach dem Jurastudium in Husum als Anwalt niedergelassen, zunächst in der Kanzlei seines Vaters, dann hatte er in der Großstraße seine eigene eröffnet und mich als seinen Schreiber eingestellt. Ich war nicht sehr beliebt in Husum, und vielleicht hing es auch mit mir zusammen, dass Storm so wenig Klienten hatte. Anfangs war ihm das egal gewesen, glaubte ich, aber seit er sich im letzten Winter mit seiner Cousine Constanze verlobt hatte und sich nun eine Existenz aufbauen musste, machte ihn diese Unsicherheit nervös. Mehr als einmal hätte er die Gelegenheit gehabt, mich loszuwerden, aber er hielt an mir fest, und ich dankte es ihm, so gut ich konnte.
»Ich muss Ihnen erst etwas zeigen«, sagte ich.
Wir gingen gemeinsam zum Handwerkerhaus. Wenn Storm entsetzt darüber war, dass im verschlafenen Husum ein geheimnisvoller Fremder aufgetaucht, mit einem Schnitt durch die Kehle umgebracht und einfach auf der Straße liegen gelassen worden war, dann ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Sein schmales Gesicht mit der hohen Stirn und dem schütteren Haar sah angespannt aus, konzentriert und zugleich müde. Ich wusste, dass er in den letzten Tagen nicht viel geschlafen hatte.
»Sie haben noch niemanden geholt, oder?«, fragte er, nachdem er einen Blick auf den Toten geworfen hatte. Ich schüttelte den Kopf.
»Dann machen wir das jetzt. Sagen Sie mir aber bitte vorher, ob es in der Sache irgendetwas gibt, das Sie in ein schlechtes Licht rücken könnte?«
Jedem anderen hätte ich diese Frage übelgenommen, aber Storm hatte mich mehr als einmal in verfänglichen Situationen erlebt, für die ich nichts konnte. Und immer zu mir gehalten.
»Der Nachtwächter«, sagte ich. »Er kam zufällig vorbei, als ich den Mann daran hinderte, in Ihre Kanzlei zu gehen.«
»Handgreiflich hinderte?«
Ich nickte wieder, und Storm stöhnte leise auf. Ich konnte riechen, dass sein Vater, Mitglied der schleswigschen Ständeversammlung und oberster Strippenzieher in Husum, es an diesem Abend wohl nicht beim Wein belassen hatte. Kirschwasser, vermutete ich, Storms Nase war jedenfalls noch tiefer violett gefärbt als sonst.
»Also gut«, sagte er, »es kommt zwar wahnsinnig ungelegen, aber es hilft ja nichts. Wir wecken jetzt Kaup. Übrigens sonst eine schöne Nacht, finden Sie nicht?«
Ich wusste, wie sehr Storm Rosen liebte, und dass der intensive Duft aus den vielen Gärten der Stadt ihn um diese Jahreszeit immer euphorisch stimmte. Zusammen mit seinem Vermieter Schmidt bestellte er das kleine Grundstück rund um das Haus, und auf die prächtigen Rosenstöcke an der Fassade zur Großstraße hin waren sie beide stolz.
Reinhard von Kaup, Husums Bürgermeister, hatte seine Wohnung und seine Amtsräume im Kavalierhaus auf dem Schlossgrund. Ich lief neben Storm durch die Süderstraße, über den Marktplatz und durch die kleine Gasse, die neben dem Rathaus begann und bis zur Grenze des Schlossgeländes führte. Noch immer war es so still, dass man den Wind hörte und von Westen her das Meer. Der Mond stand hoch hinter uns am Himmel, und während wir den schmalen Weg am Schloss vorbei zum Kavalierhaus einschlugen, stellte ich mir vor, wie Kaup auf die Störung seiner Ruhe reagieren würde. Vor allem, wenn wir außer dem Wächter Tostensen auch Kaups kleine Tochter Isabella aufwecken würden.
Tostensen stand schon in der Tür, als wir uns dem Kavalierhaus näherten. Er hielt eine Laterne in der Hand und verabschiedete einen Mann, den ich von weitem wiedererkannte. Als der Mann uns bemerkte, schaute er zur Seite und ging rasch grußlos vorüber.
»Sieht so aus, als wäre Nachtwächter Schlüter Ihnen zuvorgekommen«, sagte Storm. »Das macht die Sache nicht besser.«
Tostensen gähnte. Er nuschelte etwas, hielt uns die Tür auf und deutete zur Treppe, die innen zu Kaups Amtsräumen führte. Dann lief er langsam Schlüter hinterher.
Ich folgte Storm, der oben an die Tür zum Arbeitszimmer klopfte.
»Da sind Sie ja«, sagte Kaup. Er saß im Morgenrock und mit grauem Gesicht an seinem Sekretär, die Feder in der Hand, vor sich einen Bogen Papier. Offenbar hatte er seinen Schreiber nicht wecken wollen, um Schlüters Aussage aufzunehmen. Der Raum sah aus, als hätte Tostensen ihn notdürftig und in aller Eile beleuchtet. Zwei Kerzen brannten in den Haltern an der Wand und eine Öllampe auf Kaups Tisch.
»Wir wären schon früher gekommen«, sagte Storm, »aber ich war noch in einer Besprechung, und Herr Söt wollte erst mich hinzuziehen, bevor .«
»Eine Besprechung«, sagte Kaup. »Sehr schön. Und nun sind Sie also hier.«
»Ich nehme an, Schlüter hat Ihnen bereits berichtet, was heute Abend geschehen ist.«
»Schlüter hat mir einiges erzählt, das mir etwas rätselhaft erscheint. Nun hoffe ich, dass Ihr Schreiber etwas Licht in die Angelegenheit bringen kann. Bitte ohne Abschweifungen, damit ich mich bald wieder schlafen legen kann. Also, Herr Söt?«
Er bewegt sich kaum, aber als er jetzt auf mich deutete, warf seine Hand einen großen Schatten an die Wand. Ich erzählte, dass der Mann mitten in der Nacht wild geläutet hatte, ich ihn nicht in Storms Arbeitsräume gelassen und ihn dann später auf dem Heimweg gefunden hätte.
»Was haben Sie denn noch in der Kanzlei gemacht, um diese Zeit, ohne Ihren Herrn?« fragte Kaup.
»Herr Söt arbeitet häufiger in meiner Abwesenheit dort«, sagte Storm, »Akten kopieren und dergleichen.«
»Soso«, sagte Kaup. »Ich nehme an, das kann für heute Nacht niemand bezeugen? Es würde nämlich Ihre Lage verbessern, lieber Herr Söt, wenn es einen Zeugen gäbe. Oder eine Zeugin.«
Storm berührte meinen Arm.
»Bottilla«, sagte ich, und Kaup notierte sich etwas auf dem großen Bogen vor ihm. Ich war niedergeschlagen und nervös, weil ich Bottilla in die Sache hineingezogen hatte, ohne es zu wollen.
»Und Sie, Herr Storm? Gibt es da jemanden, den Sie heute Abend so dringend erwartet haben, dass es keine Zeit bis morgen früh gehabt hätte?«
»Nein.«
»Sie haben den Mann also auch nicht wiedererkannt?«
Storm überlegte, dann schüttelte er den Kopf.
»Wir werden das klären«, sagte Kaup. »Tostensen und Schlüter bergen gerade die Leiche, morgen werden wir sie untersuchen. Kommen Sie beide doch bitte um zehn Uhr ins alte Scharfrichterhaus in der Osterende.«
Storm sah ihn überrascht an.
»Oh, erzählen Sie mir bitte nichts vom Gottesdienst morgen früh«, sagte Kaup. »Ich habe Sie schon lange nicht mehr in der Kirche gesehen.«
»Dazu müssten Sie allerdings auch mal hingehen, Herr Bürgermeister«, sagte Storm. »Es ist nur . Meinen Sie, dass das morgen lange dauert?«
»Es dauert so lange, wie es eben dauert. Warum?«
»Morgen Nachmittag fahren wir nach Bredstedt, fast die ganze Familie.«
»Zum großen Volksfest, richtig«, sagte Kaup. »Wir fahren auch, zusammen mit halb Husum, wie mir scheint. Ich habe schon Karten gekauft, meine Frau hat sehr darauf gedrängt. Aber das Fest findet doch erst übermorgen statt. Am zehnten Juni, richtig?«
»Ich gehöre dem Vorbereitungskomitee an«, sagte Storm beiläufig.
»Ach so.« Kaup grinste, er hörte das wohl nicht zum ersten Mal. »Na, dann machen wir es morgen kurz. Ich möchte nicht schuld sein, wenn das Fest ausfallen muss, weil der wichtigste Mann nicht rechtzeitig nach Bredstedt gekommen ist.«
Plötzlich wurde sein Gesicht ernst. Auch ich hatte das leise Geräusch an der Zimmertür gehört. Kaup gab Storm, der am nächsten an der Tür saß, ein Zeichen, und Storm riß sie mit einem Ruck auf. In der Öffnung stand eine kleine Gestalt im Nachthemd.
»Isabella!« Kaup seufzte. Er winkte uns fort, und während wir aufstanden und vorsichtig die Treppe hinuntergingen, hörten wir Kaup noch fragen, wo eigentlich das Kindermädchen sei.
Tostensen war noch nicht zurück, aber er hatte die Tür nicht mehr verschlossen, so dass wir auf den Schlossgrund kamen, ohne Kaup wieder zu stören. Die Nacht war immer noch schön, der Himmel schwarz und voller Sterne, nur ganz im Osten zeigte sich ein schmaler grauer Streifen.
Ich verabschiedete mich von Storm und ging durch die Süderstraße bis zum Haus von Böttchermeister Kruse. Im letzten Winter war der Böttchergeselle, der die andere Kammer bewohnte, tot im Hafen gefunden worden, und obwohl Kruse nicht wissen konnte, wie sein Geselle wirklich zu Tode gekommen war, schien er mich zu verdächtigen, mehr über die Sache zu wissen. Ich hörte ihn schnarchen, stieg die Treppe unters Dach so leise wie möglich hoch und dachte wieder, dass ich mir eine neue Unterkunft suchen sollte.
Am nächsten Morgen machten sich Kruses Familie, die Magd und der neue Geselle für die...
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