Schweitzer Fachinformationen
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Johann Fenner lief von Tisch zu Tisch, schüttelte Hände und klopfte auf Schultern. Jedes Mal, wenn sich die Tür zur Stube öffnete, leuchtete sein rundes Gesicht. Wenn einer keinen Platz mehr fand, scheuchte Fenner seine Dienstboten auf, von irgendwoher ein Tischchen und Stühle zu holen. Oder er sorgte dafür, dass auf einer Bank alles zusammenrutschte, bis eine Ecke frei geworden war. Vor den enormen Bauch hatte er eine Schürze gebunden, die auch nach Stunden noch keine Flecken zeigte, weil er geschmeidig jeden Zusammenstoß vermied.
Sein Gesicht war eine verzerrte Maske, halslos, monströs aufgedunsen und voller entsetzlicher Narben, so dass seine Augen wie aus winzigen Schlitzen blinzelten. Ich fragte mich, ob das Netz aus roten Linien auf seiner lederartigen Haut die Spur von Peitschenhieben sei. Und warum er sein erstarrtes Gesicht unseren Blicken so bereitwillig aussetzte. Denn sein Kopf war kahl, und die feisten Backen waren völlig glattrasiert.
Storm blieb im Eingang stehen, sah sich um, dann war Fenner auch schon bei ihm. Dass der Herr Advocat den Weg hierher gefunden hätte! Ob er ihn mit einem besonders guten Tropfen verwöhnen dürfe? Hinten sei schon der Kollege Beccau mit seinen Freunden versammelt, da könne der Herr Advocat doch nicht fehlen! Und ob man fragen dürfe, wer denn der junge Herr an seiner Seite sei?
Er ging mir auf die Nerven.
»Sie haben nicht viel verändert«, stellte Storm fest, »aber den Kronleuchter hat der junge Jansen wohl mitgenommen?«
»Alles versteigert, Herr Advocat«, sagte Fenner, »Silbergerät, Goldsachen, Bettzeug, Leinenzeug, Eckschränke, Leinenschränke, Spiegel, Kommoden - ich wollte das ja zusammen mit Haus und Grundstück übernehmen. Sogar die Milchkuh hatte ich ihm deshalb schon abgekauft. Aber Jansen meinte, wenn er das Inventar einzeln anbietet, kann er mehr damit erlösen. So war dann am letzten Mittwoch in der Stube Auktion, und Jansen wurde auch noch die letzten Reste vom berühmten Wacholderschnaps seiner Mutter selig los.«
»Und Sie haben nichts davon genommen? Sie brauchen doch auch Möbel für Ihre Gästezimmer?«
»Acht heizbare Räume, Herr Advocat, dazu die Mädchenzimmer und noch vier kleine Schlafkammern! Natürlich habe ich gekauft, was ich kriegen konnte, vor allem Küchengerät und Geschirr. Dazu Gemälde und die große Tafeluhr dort drüben. Schließlich ist bald Pfingstmarkt, und ich habe schon jetzt so viel Anmeldungen, dass ich gar nicht weiß wohin mit den Leuten.« Fenner strahlte Storm aufmunternd an.
Der schien nur noch aus Höflichkeit stehen zu bleiben. Und als der Wirt dann anfing, von Waschhaus, Kutscherstube, Stall (»dreißig Pferde und drei Wagen bekomme ich dort unter, stellen Sie sich vor!«) und Hofplatz zu reden, machte er sich los und steuerte durch die vollbesetzte Wirtsstube zum Hinterzimmer, in dem sich sein Kollege befinden sollte. Dort saßen vier Männer an einem Tisch, und während Fenner eigenhändig noch zwei Stühle für uns heranholte, stellte uns Storm einander vor: der elegante August Gläser, Apotheker aus Lübeck. Der Arzt Johann Kuhlmann, der schräg gegenüber von Storm in der Großstraße bei der Witwe Friederici wohnte (»spielt hervorragend Klarinette«, flüsterte Storm mir zu). Untergerichtsadvocat Christian Ulrich Beccau, gut zehn Jahre älter als die Übrigen und eindeutig der Platzhirsch am Tisch. Schließlich Harro Feddersen, Primaner, weitläufig mit Storm verwandt. Voller Bewunderung für seine Tischnachbarn. Und entschlossen, sich das nicht anmerken zu lassen.
Sie hatten vor uns begonnen, Fenners Wein zu trinken. Inzwischen waren sie beim Grog angelangt. Beccau erzählte von einem Mandanten, für den er einen Prozess gewonnen hatte und der ihn nun nicht bezahlen konnte oder wollte. Gläser war gerade von einer Reise nach Lübeck und Flensburg zurückgekehrt und schimpfte auf die schlechten Straßen und dass ihn die Arbeiter an der neuen Chaussee allen Ernstes nach einem Trinkgeld gefragt hatten.
»Hast du mir was mitgebracht? Du hattest doch versprochen, die alte Weberin zu besuchen«, fragte Storm. Gläser nickte, und Storm kramte in seiner Tasche. Er zog eine Kladde hervor, und als er den Bleistift aus der kleinen Schlaufe am Deckel zog, fiel ein loser Zettel heraus.
»Was ist denn das?« Beccau griff nach dem Blatt. »Ein neues Gedicht?«
Storm schien die Sache unangenehm, traute sich aber nicht, die Seite wieder an sich zu reißen.
»Tatsächlich. Darf ich? Oder willst du selbst? Nein?« Storm schüttelte den Kopf.
»Dann werde ich wohl mal«, sagte Beccau und räusperte sich. Er schaute von einem zum andern und las den Titel:
»Die Jungen.«
»Und was ist mit den Mädels?«, rief Gläser dazwischen.
»Ruhe! Silentium!«, schnaubte Beccau. Dann setzte er wieder an:
»Die Jungen
Sieh, wie vor den alten Kanzlern und Räten
Die Leute sich bücken, gehorsamst betreten!
Pfui, wie sie den grämlichen Alten hofieren!
Will uns denn niemand respektieren?«
»Hört! Hört!«, rief Gläser, und ich konnte sehen, wie Storms Nase kupferblau anlief.
Beccau kümmerte sich nicht um die Unterbrechung und las weiter:
»Das Haupt entblößt! Respekt, ihr Leut'!
Wir sind die Kanzler der werdenden Zeit.«
»Ich weiß nicht, was du hast«, meldete sich jetzt Kuhlmann, »ich meine . also, das ist doch eigentlich ganz schön gesagt so mit den Alten und den Jungen. Und dass die Jungen von heute später einmal .« Dann musste er selber lachen.
»Es ist noch nicht fertig«, sagte Storm ärgerlich und schnappte sich das Blatt, »ich wollte noch daran feilen. Und besser als Beccaus müde Verse sind meine allemal.«
»Meine müden Verse«, sagte Beccau, »sind immerhin gedruckt.«
»Was ist denn nun mit deiner Weberin, Gläser?«, fragte Kuhlmann.
»Eine einzige Geschichte hat sie mir erzählt. Sie will sie schon als kleines Mädchen in Eckernförde gehört haben und schwört, dass sie sogar viel älter ist. Ich weiß sie noch so ungefähr.«
»Ungefähr!«, stöhnte Storm. »Du weißt doch, dass ich sie wörtlich brauche.«
»Willst du sie nun hören oder nicht?«, fragte Gläser. Und weil Storm den Stift in die Hand nahm und ihn ergeben ansah, begann er:
»Ein Knecht pflügte; da kamen zwei Katzen zu ihm. Jede versuchte, sich an ihn zu schmiegen und die andere zu verdrängen, mit Fauchen, Beißen und Kratzen. Der Knecht wollte sie fortjagen, aber sie kamen immer wieder. Endlich nahm er seinen Stoeker und warf damit nach ihnen. Da verwundete er die eine am Fuß, und sogleich stand eine seiner Geliebten vor ihm, am Fuß blutend. >So, Greet, bist du dat!<, sagte der Knecht, >ga man, ik näem dy nich.< >Ja<, sagte Greet, >de ander dat weer Trien, de keem goet weg.< Da war die andere Katze davongelaufen, aber der Knecht nahm sich nun fest vor, sich auch nicht mehr mit Trien abzugeben.«
Storms Stift lief über das Papier. Um Gläser besser zu verstehen, beugte er sich zu ihm herüber, und Kuhlmann, der zwischen den beiden saß, rückte seinen Stuhl nach hinten.
»Das war's«, sagte Gläser.
»Sehr schön«, sagte Storm, »wirklich sehr schön. Aber was ist ein Stoeker?«
»Keine Ahnung«, sagte Gläser beleidigt.
»Du hast sie nicht gefragt?«
Kuhlmann erklärte, dass das ein Holzstiel mit scharfer Eisenspitze sei, die man beim Pflügen verwende, um die Pflugschar zu säubern. Storm schrieb auch dies mit.
»Hat sonst jemand etwas gehört?«
»Ich«, sagte Beccau, »als ich letzte Woche auf Föhr war, um mich mit meinem leidigen Mandanten zu besprechen. Abends in der Stube erzählte die Magd von einem Schiff .«
»Moment«, sagte Storm, »weißt du ihren Namen?«
»Lina, Emma, irgendwas, keine Ahnung«, sagte Beccau. »Ich hab jedenfalls ihre Geschichte für dich aufgeschrieben.« Er kramte in seiner Jackentasche und zog einen sauber gefalteten Zettel heraus. Dann las er vor: »Es war um die Zeit, da alle Schiffer heimkehrten. Aber einer, der mit einem Mädchen aus Föhr verlobt war, wollte immer noch nicht kommen, als alle andern schon daheim waren. Da weinte das Mädchen, und nachts saß sie am Wasser und schrie nach ihrem Liebsten. Da kam eines Nachts das Schiff, das mit ihrem Bräutigam verunglückt war; das hat sie aufgenommen, und niemand hat sie je wiedergesehen.«
»Brrr!«, machte Feddersen. Es war das Erste, was ich von ihm hörte.
»Seltsam«, sagte Storm. Er nahm den Zettel an sich, überlegte etwas, dann fragte er: »Waren eigentlich auch Leute von Föhr auf der >Hesperus<?«
»Nicht dass ich wüsste«, sagte Beccau. Und Kuhlmann erklärte mir, dass die »Hesperus« ein Frachtschiff aus Friedrichstadt gewesen sei, das vor drei Jahren auf dem Weg nach Amerika mit Mann und Maus untergegangen war.
»Und die Geschichten?«, fragte ich.
»Storm sammelt Märchen und Sagen, wie sie in Schleswig und Holstein im Volk erzählt werden. Es soll wohl ein Buch werden.«
»Soll es«, schaltete sich Storm ein, »aber ich habe noch längst nicht genug authentische Texte. Und ihr seid bisher auch keine große Hilfe.«
»Ich meine, du hast von uns schon eine Menge gehört«, sagte Beccau.
»Außerdem«, sagte Kuhlmann, »hast du mich ja noch gar nicht gefragt.«
Storm öffnete die Kladde. »Also?«
»In Jagel bei Schleswig«, sagte Kuhlmann, »war vor Zeiten ein Bauer, der ärgerte sich darüber, dass sein Bier immer so schnell alle wurde, ohne dass er wusste, wie. Einmal fuhr er nach der...
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