KAPITEL 1
DER ERSTE UND DER ZWEITE CODE
Die Einführung in die Genetik und Epigenetik
Die Genetik ist eine der wichtigsten Forschungsrichtungen der Biologie. Auch für die Hundezucht ist sie von herausragender Bedeutung. Die Vielfalt der modernen Hunderassen zeigt, was passieren kann, wenn man gezielt nach Merkmalen wie Körperbau und -größe oder Fellfarbe selektiert. Aber mit Genetik alleine lassen sich viele biologische Phänomene nicht erklären.
Dieses Kapitel zeigt, dass Genetik sehr viel mehr ist als die Weitergabe biologischer Informationen an folgende Generationen. Gene enthalten die Baupläne für alle Biomoleküle. Kein Hund oder Mensch wäre lebensfähig, wenn die Zellen nicht permanent entscheiden würden, ob, wann und wo ein Gen abgelesen wird. Das gelingt auch dank nebengenetischer Markierungen, die bestimmen, welche Gene eine Zelle überhaupt benutzen kann und welche nicht. Mit diesen Markierungen beschäftigt sich die Wissenschaft der Epigenetik.
Vom Zeitalter der Genetik
Im Jahr 1953 publizierten die Biologen James Watson und Francis Crick als erste das berühmte Modell einer DNA. So lautet die auch hierzulande gebräuchliche englische Abkürzung für Desoxyribonukleinsäure. Was damals eine Sensation war, kennt heute jedes Kind: Das zentrale und mit Abstand wichtigste Molekül des Erbguts sieht aus wie eine Doppelhelix.
Der Stoff, der den Code für alle wichtigen Proteine enthält, die ein Organismus aus sich selbst heraus erzeugen kann, besteht aus zwei umeinander spiralig gewundenen Strängen. Die beiden Stränge verbinden in regelmäßigen Abständen Paare von Nukleinbasen. Sie halten das Molekül zusammen, sind sozusagen die Sprossen einer um ihre eigene Längsachse gedrehten Leiter.
Im Jahr 1962 erhielten Watson und Crick gemeinsam mit dem Kollegen Maurice Wilkins, der ihnen die entscheidenden Röntgenbilder einst gezeigt hatte, auf denen die Form der DNA erstmals erkennbar geworden war, den Nobelpreis für Physiologie und Medizin. Die eigentliche Entdeckerin der DNA war aber die Röntgenstrukturanalystin Rosalind Franklin. Sie hatte diese ersten Aufnahmen der DNA Anfang der 1950er Jahre gemacht. Leider war sie vier Jahre vor der Verleihung des Nobelpreises an Krebs gestorben. Sie hätte ihn als Allererste verdient gehabt.
Doch warum beeinflusst diese Entdeckung unser Leben noch heute? Warum ist sie für die Entwicklung neuer Medikamente, den Kampf gegen Krebs, für das Verständnis von Vererbung, das allgemeine Funktionieren des Lebens und nicht zuletzt für die Hundezucht von so herausragender Bedeutung? Weil es erst mit der Entdeckung der Struktur der DNA gelang, den Code des Lebens und die Mechanismen der Vererbung zu entschlüsseln und schließlich auch zu lesen.
Die vollständige Aufklärung der DNA und ihrer Eigenschaften war fraglos eine der wichtigsten Entdeckungen der vergangenen hundert Jahre. Aber die Wissenschaft zieht weiter.
Heute geht es um sehr viel mehr als den ersten, den genetischen Code: Es geht um die Frage, wie es den Zellen - unter anderem von Mensch und Hund - gelingt, ein Gedächtnis für Umwelteinflüsse zu entwickeln und dadurch im Zusammenspiel mit zahllosen anderen Faktoren die Komplexität des Lebens zu erschaffen.
Im Jahr 1953 begann also das Zeitalter der Genetik. Und dieses Zeitalter sollte genau fünf Jahrzehnte andauern, bis im Jahr 2003 das erste menschliche Genom, der erste annähernd vollständige DNA-Text, wie er sich so ähnlich in jeder unserer Körperzellen findet, gelesen worden war.
ERSTES GENOM EINES HUNDES
Das erste Genom eines Hundes entzifferten Forschende nur kurze Zeit später, im Jahr 2005 (Lange, 2005). Es gehörte der Boxerhündin Tasha und bestand wie bei allen Hunden aus etwa 2,4 Milliarden aneinandergereihten Nukleinbausteinen. Zum Vergleich: Beim Menschen sind es etwa 3,3 Milliarden.
Der Text der DNA enthält dabei nur vier Buchstaben: C, G, T und A. Sie stehen für die Basen - also jene Bestandteile, die die Sprossen der Doppelhelix bilden - Cytosin, Guanin, Thymin und Adenin. Ihre Abfolge kann letztlich den Bauplan eines jeden denkbaren Proteins kodieren, das wiederum aus vielen aneinandergereihten Aminosäuren besteht. Solche Proteine werden permanent in riesengroßer Zahl von unseren Zellen oder auch den Zellen unserer Hunde produziert.
© National Human Genome Research I
Links: Die Desoxyribonukleinsäure (DNA) besteht aus einem Doppelstrang von aneinandergereihten Nukleinbausteinen, die so ineinander verdreht sind, dass sie eine Doppelhelix bilden (hier ein Strukturmodell).
Rechts: Schematische Zeichnung der Desoxyribonukleinsäure (DNA), die die vier Nukleinbasen zeigt: Adenin (A) paart sich immer mit Thymin (T), Cytosin (C) mit Guanin (G).
Die DNA befindet sich im Kern der Zelle. Dort existiert auch eine Menge wichtiger Arten von Proteinen. Eines davon kann über die DNA hinweggleiten und liest dabei den Nukleinbasen-Text jeweils eines Gens ab. Dieser Text wird schließlich übersetzt in ein Botenmolekül aus der Gruppe der sogenannten Boten- oder messenger-RNAs (mRNAs), das für das Gen typisch ist. Diese Substanzen sind spätestens seit der ersten Coronaimpfung berühmt. Dabei handelt es sich nämlich um nichts anderes als um eine mRNA, die den Code für einen Teil des Coronavirus enthält.
Bei dem Impfstoff stammte der Code aus dem Labor und nicht aus dem Zellkern. Die Anti-Corona-mRNA musste gespritzt werden. Aber von der Zelle selbst gebildete mRNAs gelangen vom Zellkern ganz von alleine in das gewöhnliche Zellinnere. Und dort werden nach ihrer Anleitung die neuen Proteine zusammengebaut. Im Fall der mRNA-Impfung produziert der Körper seinen Impfstoff also selbst. Gespritzt wird nur der Bauplan.
CODE DES LEBENS
Der eigentliche Code des Lebens steckt demnach in der Abfolge der Nukleinbasen der DNA, die die Codes für kleine RNAs speichert, nach deren Anleitung die Zelle letztlich Proteine baut. Hunde wie Menschen haben diesen Code des Lebens von ihren Eltern geerbt, wobei deren Erbgut neu zusammengewürfelt worden ist.
Deshalb sind sich Geschwister ähnlicher als Tiere oder Menschen, die nicht eng miteinander verwandt sind. Und deshalb sind wir alle und unsere Hunde auch so einzigartig. Nur Klone oder eineiige Zwillinge haben eine nahezu identische DNA.
Doch schon hier wird klar: Die DNA speichert zwar den Bauplan der Proteine - also letztlich aller aktiver Biomoleküle, die eine Zelle aus sich selbst heraus produzieren kann. Unterschiede in der DNA sorgen dafür, dass diese Proteine verschieden gut arbeiten und damit für mehr oder weniger gut ausgeprägte Eigenschaften verantwortlich zeichnen. Sie sorgen aber nicht dafür, welche Art von Proteinen überhaupt in einer Zelle existiert oder von dieser gerade gebildet wird. Dazu benötigt man eine weitere Ebene der Informationsverarbeitung: die Genregulation.
Je nach Aufgabe und Art der Zelle eines Hundes, erzeugt diese Genregulation aus dessen Genom einen unterschiedlichen Satz an Proteinen, obwohl die Gene und Genvarianten in allen Zellen eines Individuums nahezu identisch sind. Das können Botenstoffe wie Hormone sein oder Enzyme, die beim Verdauen von Nahrung helfen, oder Antikörper, die nützlich im Kampf gegen Infektionen sind.
Die Zellen eines Menschen oder eines Hundes können immer nur solche Proteine bauen, für die es in ihrer DNA auch einen Code gibt. Ein solcher Code heißt Gen. Der Mensch hat etwa 23?000 solcher Gene. Bei Hunden sind es ähnlich viele. Und mit diesen beschäftigt sich die Wissenschaft der Genetik.
Von jedem Gen gibt es verschiedene Varianten. Sie besitzen kleine Unterschiede in der Abfolge der Nukleinbasen. Oft haben diese Unterschiede keinerlei Auswirkung auf das Äußere oder die Gesundheit von Mensch und Tier. Aber manche solcher Veränderungen - Mutationen genannt - beeinflussen auch die Eigenschaften der von ihnen kodierten Proteine. Und so kann es sein, dass nur einige wenige Mutationen nötig sind, damit eine Zuchtlinie von Hunden ihre Fellfarbe, die Größe oder zum Beispiel den Körperbau verändert.
Zucht auf Merkmale
Wie mächtig dieses Prinzip ist, zeigt kaum etwas so deutlich wie die moderne Rassehundezucht. Kaum zu glauben, dass die Deutsche Dogge und der Chihuahua, der Windhund und der Mops oder der Golden Retriever und der Pudel von Hunden abstammen, die sich noch vor 200 Jahren vergleichsweise ähnlich waren. Sie alle sind nach dem simplen Prinzip der Auswahl entstanden. Es wurde immer nur mit jenen Tieren weitergezüchtet, bei denen ein bestimmtes, gewünschtes Merkmal besonders deutlich ausgeprägt war. Und damit wurden die dafür verantwortlichen Genvarianten in der entsprechenden Zuchtlinie immer häufiger. Bis eine neue Rasse entstanden war.
Diese Beobachtung zeigt, wie unerhört wichtig die Entdeckung der DNA und das daraus resultierende Zeitalter der Erforschung der genetischen Vererbung sind. Doch über die Begeisterung für die wichtigen Erkenntnisse dieser Zeit wurde vergessen, dass die Gene nur die Basis bilden für etwas sehr viel Größeres: Die meisten Merkmale - Intelligenz, Trainierbarkeit, Aggressivität, Fitness, Widerstandskraft, um nur einige zu nennen - entstehen aus dem komplexen...