Schweitzer Fachinformationen
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Ankunft Laupheim West
Laupheim?
Hoffentlich habe ich richtig gehört, denn sehen kann man vor lauter Nebel so gut wie nichts. Ich bin noch immer etwas unbeweglich nach der halben Nacht im holländischen Schlafwagen, das merke ich, als ich den kleinen Koffer aus der Ablage ziehen und mit Schwung im Gang absetzen will. Dann kommt wieder die Durchsage, und diesmal ist sie klar zu verstehen: Hier ist also Laupheim.
Doch das stimmt nicht so ganz. Man hat es mir gesagt und ich sehe es, als ich auf dem Bahnsteig stehe und der abfahrende Triebwagen den Blick freigibt. Das ist nicht Laupheim, das ist nur der Bahnhof Laupheim West, ein paar Kilometer von der kleinen Stadt entfernt, praktisch draußen auf der grünen Wiese, eine der ersten Stationen an der Strecke, die von Ulm fast schnurgerade bis hinunter zum Bodensee führt. Das Stationsgebäude ist ein alter, glatt verputzter Bau mit Giebeldach und geteilten Fenstern; 87-mal verkleinert steht es so oder ähnlich auf Tausenden Modelleisenbahnplatten. Immerhin - das sehe ich, als ich den Bahnsteig entlang darauf zugehe - kann man darin Karten kaufen. Anderswo gibt es nur noch Automaten. Ich knöpfe den Mantel zu, es ist kalt; ein nebliger Frühherbstmorgen auf dem Land, darin der einsame Bahnhof. Wären nicht die Laternen, die Antennen und die Schilder, es könnte ein Genrebild aus dem letzten Jahrhundert sein.
Ich schaue nach links, bevor ich das zweite Gleis überquere, zur Sicherheit. Wo die Wiesen beginnen, steht ein Güterschuppen im Fachwerkstil. Er scheint noch in Gebrauch zu sein, allerdings sind die Ziegel zwischen den Balken mit einem nicht ganz passenden Rot gestrichen. Zu den Gleisen hin ein paar der üblichen Graf?ti. Die Sprayer hier draußen müssen bei ihrer Arbeit alle Zeit der Welt gehabt haben, aber es waren beileibe keine Pro?s; das Ergebnis ist kläglich. Ein paar Meter neben den unbeholfen kantigen Riesenbuchstaben der Satz: »Die Fantasie an die Macht!«, die Farbe ganz frisch. Ich rechne nach, 28 Jahre hat er gebraucht von Paris über Frankfurt bis Laupheim.
Auf dem Platz vor dem Stationsgebäude steigen ein paar Männer in einen Kleinbus. Ihr Atem dampft, sie sprechen nicht, einer schließt geräuschvoll die Schiebetür, dann fährt der Kleinbus hinaus in den Nebel. Ich stelle den Koffer ab und sehe mich um. Eine Bushaltestelle, ein paar Straßenleuchten, gegenüber vor hohen Bäumen eine Plakatwand. Dort parken auch Autos, in einem davon, einer großen Limousine, brennt Licht. Ich mache ein paar Schritte auf den Platz, da geht die Tür des Wagens und ein Mann im blauen Wintermantel steigt aus. Er winkt. »Hallo!«, ruft er laut und dann meinen Namen.
Das ist Walter Lindenmaier. Er ist Anfang fünfzig. Ihm gehört hier in Laupheim eine mittelgroße, Metall verarbeitende Fabrik, die seinen Namen trägt und die er persönlich leitet. Lindenmaier ist mein Partner. Ich nenne ihn einstweilen so, eine bessere Bezeichnung ist mir bislang nicht eingefallen. Eigentlich müsste ich ihn meine Haupt?gur in spe nennen, aber so will ich gar nicht denken.
»Hallo!«, rufe ich zurück, und mit ausgestecktem Arm kommt er mir entgegen.
Vor vier Monaten, da war noch nicht einmal Sommer, habe ich Lindenmaier kennen gelernt. Und zwar auf einer Hochzeit. Braut und Bräutigam heirateten jeweils zum zweiten Mal. Er: etwas über fünfzig, Führungsposition in der obersten Frankfurter Etage einer sehr bedeutenden Bank; sie: Mitte dreißig, gelernte Lehrerin, jetzt Referentin in der Stadtverwaltung. Daher also kein Wunder, dass die Verwandten, Freunde und Bekannten der Braut die des Bräutigams überhaupt nicht kannten - und natürlich umgekehrt. Absolut ausnahmslos sahen die Angehörigen der beiden Parteien einander auf dieser Feier zum ersten Mal.
Ich selbst, ganz pünktlich gekommen, fühle mich von Anfang an ein wenig unwohl. Und nach einer Viertelstunde weiß ich auch, warum. Es läuft nämlich eine unsichtbare, aber nicht zu überschreitende Demarkationslinie durch den großen Saal des Landgasthofes. Zwar ist alles in Bewegung und es kommen noch immer neue Gäste, doch beklommen und ängstlich scharen sich die jeweiligen Anhänge zusammen. Die einen dort, die anderen hier.
Dort - da sind die Leute aus Wirtschaft und Finanzwelt, durchweg im so genannten mittleren Alter. Und hier, wo auch ich mühsam Unterschlupf suche - da sind die, die nach dem Studium, wie sagt man: alles Mögliche gemacht haben und von denen jetzt einige zwar schon jenseits der vierzig, aber noch immer erstaunt darüber sind, überhaupt irgendwo angekommen zu sein. In einem Kollegium, in einem Amt, manche auch in Jobs, die schwer zu beschreiben sind. Die anderen dort drüben, das sind für sie, also für uns: die Anderen. Die, von denen wir glauben, dass sie ganz sicher sind in dem, was sie tun. Die, denen der Erfolg Recht gibt. Was sie über uns denken, wissen wir nicht. Ich vermute, wir wollen es auch gar nicht wissen.
Und ich fühle mich, wie gesagt, unwohl. Sehr unwohl. Ich denke schon darüber nach, wie früh ich gehen kann ohne unangenehm aufzufallen, da macht in meiner Gegenwart der Bräutigam einen harmlosen Scherz auf meine Kosten - und jetzt will ich weg, und zwar auf der Stelle! Bitte sehr, ich bin nicht grundsätzlich gegen Konventionen, ich bin auch nicht gegen Hochzeitsfeiern. Im Gegenteil. Aber so viel Lizenz zur Dünnhäutigkeit habe ich doch, dass ich von einer Veranstaltung weglaufen darf, bei der ich mich fühle, als spielte ich in einem Gesellschaftsroman des 19. Jahrhunderts. Und zwar die Rolle des unglücklichen Vertreters einer Randgruppe! Ich suche meine Frau; sie soll den anderen sagen, ich fühlte mich krank. Oder, noch besser: Der Autor hat eine Idee, die er unbedingt gleich notieren muss. Zu dieser Ausflucht habe ich zwar noch nie gegriffen, aber jetzt will ich mich trauen.
Da sagt einer: »Sie gehören sicher zur Braut.«
Der Mann, der mich angesprochen hat, ist mittelgroß und eher schlank. Er hat dunkle, etwas angegraute Haare, einen kräftigen Schnurrbart, braune Augen mit buschigen schwarzen Brauen, die über der Nase zusammenwachsen. Er spricht mit süddeutschem Akzent.
»Ja«, sage ich, so kalt und knapp wie möglich.
»Lindenmaier«, sagt der Mann; er lächelt und gibt mir die Hand. »Man kennt sich ja überhaupt nicht.« Er macht eine Geste, die ungefähr die ganze Lage umreißt. »Da muss man dann zusehen, wie man sich kennen lernt, nicht wahr?«
Ich nicke so wenig, dass man es übersehen muss.
»Ich bin Unternehmer«, sagt der Mann. »Metallverarbeitung. In Laupheim, das liegt in der Nähe von Ulm. - Und was machen Sie?«
Ich antworte nicht sofort. Aber ich weiß, was ich jetzt sagen werde. Ich werde sagen: >Ich bin freier Schriftsteller.< Mit diesem Satz habe ich meine Erfahrungen. Es ist ein Satz, nach dem recht häu?g Gespräche mit mir, kaum haben sie begonnen, auch schon wieder enden. >Ach?<, sagen dann nämlich meine Gegenüber - und dann sagen sie gar nichts mehr, wahrscheinlich aus den verschiedensten Gründen. Meistens ist das bitter, denn ich erzähle ganz gerne von meiner Arbeit; aber jetzt bin ich froh, über einen Satz zu verfügen, der alle Konversation vernichtet. Wie einen Torpedo werde ich ihn durch diesen süddeutschen Herrn hindurch in die Versammlung schießen! Krachend wird er detonieren, und im abschwellenden Getöse werde ich mich entfernen. Halb aufrecht, halb gebrochen.
Andererseits ist das natürlich unfair. Warum will ich denn ausgerechnet diesen gar nicht unsympathisch wirkenden Herrn Metallunternehmer Lindenmaier aus dem Süddeutschen verschrecken, wo er doch erstens offenbar dasselbe Unbehagen an dieser Zwei-Lager-Veranstaltung emp?ndet wie ich und zweitens so souverän daran geht, etwas gegen sein Unbehagen zu unternehmen? Im Gegensatz zu mir, der ich bloß das Weite suche.
So denke ich noch, aber etwas anderes, etwas Schwächeres in mir ist schneller und lässt den Satz von Bord. Ich kann gerade noch machen, dass er nicht allzu unfreundlich klingt.
»Ich bin freier Schriftsteller«, sage ich.
»Ach!«, sagt der Mann. Doch dieses >Ach!< klingt, als sei es die Reaktion auf eine angenehme Überraschung.
>Ach<, denke ich. Doch bevor ich etwas erkennbar Freundliches erwidern kann, zieht mich der Mann aus dem großen Saal in die Gaststube, an die Theke. Er bestellt zwei Bier, dann erkundigt er sich. Wie das denn funktioniere, Schriftsteller zu sein?
Ich versuche es zu erklären. Im Prinzip, sage ich, bin ich ja auch Unternehmer. Ich stelle etwas her, auf eigene Verantwortung, und versuche es zu verkaufen. Das klingt profan, ist aber zumindest ein Teil der Wahrheit.
»Und worüber schreiben Sie?«
Das ist viel schwerer zu beantworten. Das müssten eigentlich andere sagen. Außerdem habe ich erst drei Bücher geschrieben. Aber ich will jetzt wirklich nicht mehr unhöflich erscheinen. »Ich schreibe über Männer«, sage ich, »über Männer, die große Probleme haben und nicht darüber reden. Bis ihnen dann plötzlich etwas zustößt.«
»So?«, sagt der Herr Lindenmaier. »Und wie geht es aus?«
Ich mache eine Handbewegung. »Meistens kommen sie noch so gerade davon. Aber das macht es nicht besser.«
»Wissen Sie was?« Der Mann tippt sich an die Brust. »Sie sollten einmal meine Geschichte schreiben!«
Ich versuche so freundlich wie möglich zu schauen. Aber man muss mir ansehen, was ich denke.
»Ich meine das im Ernst«, sagt der Herr Lindenmaier, »und es ist nicht mal meine Idee. Aber meine Bekannten sagen seit Jahren zu mir: Walter, sagen sie, bei...
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