Schweitzer Fachinformationen
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Na, Trössner, wach geworden?
Was für ein Geschenk, im Zug schlafen zu können! Allerdings hat sich inzwischen jemand auf den freien Platz jenseits des kleinen Tisches gewagt, womöglich nach Überwindung eines gewissen Misstrauens gegenüber einem Mann mit Vollbart im honigfarbenen Breitcord-Anzug.
Bisschen steif gelegen?
Nein, nicht der Rede wert; der Körper hat ja nichts mehr zu sagen.
Oder etwas Schlimmes geträumt?
Verzeihung, ich vergaß, er träumt nicht mehr. Sagt er jedenfalls. Denn wenn er träumte, müsste er sich ja sofort aus dem Schlaf lachen, weil was immer er träumen sollte ein alberner Wunschtraum wäre, verglichen mit dem Albtraum, in dem er lebt. Nun ja, was soll man dagegen sagen?
Und? Wie spät ist es? Wo sind wir?
Trössner schaut auf die Uhr in seinem Smartphone, dann aus dem Fenster. Schon weit nach neun, und draußen der alte Osten. Gerade spritzt etwas grauer Beton, der nach ehemaliger LPG aussieht, mit Karacho in Richtung Westen. Ihm auf den Fersen ein Windpark. Trössner muss das Logo auf den Köpfen der Windräder gar nicht erkennen, er weiß auch so, wer die gebaut hat. Er. Also seine Firma. Es sind Fliegende Holländer der dritten Generation.
Lass die Windräder, Trössner. Schau dir lieber sie an!
Ja, die junge Lady gegenüber. Ein wesentlich erfreulicherer Anblick, zumal sie eine elegante Pose eingenommen hat, wenngleich wahrscheinlich nur, um deinen Füßen auszuweichen.
Trössner zieht die Beine ein und schafft ein jungenhaftes Lächeln, soweit der Bart das erlaubt. Als wäre es ihm unangenehm, dass ihn diese Frau womöglich werweiß wie lange im Schlaf beobachtet hat, vielleicht mit offen stehendem Mund. Geschnarcht hat er immerhin nicht. Er schnarcht nämlich nie. Das habe Charlotte gesagt, und wer sollte es besser wissen?
Vorsicht, Trössner! Keine Details. Kein vermintes Gelände. Reiß dich zusammen! Am besten, du sagst jetzt was. Wer etwas sagt, kommt am schnellsten auf andere Gedanken. Zum Beispiel, dass wir jetzt wohl bald in Berlin sind. Gut, das ist nicht originell, aber damit macht man auch nichts falsch.
»Ja«, sagt die junge Lady. »Gott sei Dank.«
Und sie lächelt. Ach was, sie strahlt.
Wenn sie doch nur im Zug schlafen könnte! Sagt sie. Aber sie kann ja leider gar nichts, nicht schlafen und auch nicht arbeiten. Im Zug, wohlgemerkt.
Hoppla! Wird das jetzt eine Unterhaltung? Unverhofft kommt oft. Könnte allerdings für Trössner eine ziemliche Herausforderung werden. Schließlich hat er sich in den letzten viereinhalb Monaten praktisch nur mit dem medizinischen Personal unterhalten, und neuerdings wechselt er bloß einmal täglich ein paar Floskeln mit dem Hotelportier. Wer so aus dem Training ist, der muss sich konzentrieren. Wie ging das doch gleich: ein zwangloses Gespräch führen?
Und welchen Einfluss hat es, wenn die Gesprächspartnerin nicht unbedingt eine ganz besondere, umwerfende Schönheit ist, aber viel unternommen hat, um ihre angenehme Erscheinung zu betonen? Blauer Rock, weiße Bluse, darüber etwas leicht Asymmetrisches, auch in Blau, alles businessmäßig, aber nicht zu streng. Halblange Haare hat sie, eher dunkel. Sagt man dazu schon brünett? Sie ist nicht stark geschminkt, bis auf die Lippen; die sind eindeutig ihr Schmuckstück, herzförmig, man möchte sagen: wie gemalt.
Dass er viel Zug fahre.
Sagt Trössner, nicht ohne Mühe. Und bemerkt sofort das falsche Tempus. Gefahren ist, wäre richtig. Schon weiß er nicht mehr weiter.
Wird das jetzt peinlich?
Wird es nicht. Er bekommt nämlich Hilfe, und zwar von der jungen Frau, die wir jetzt einmal auf Ende Zwanzig, allenfalls Anfang Dreißig schätzen. Denn die verlangt ihm gar keine weiteren Beiträge zur Konversation ab, sondern erzählt ihm rasch, dass sie zwar nicht aus Berlin stammt, dort aber wohnt und arbeitet, wenngleich es in ihrem Falle eigentlich nicht so wichtig ist, wo genau sie wohnt, Homeoffice, er wisse schon. Aber inzwischen ist Berlin ja nun einmal Berlin, also, da ergibt sich einfach mehr als anderswo, das muss man schon einkalkulieren, wenn man sich über die hohen Mieten beschwert oder darüber, wie anstrengend es ist, in einer Metropole zu leben. Anstrengender jedenfalls als auf dem Land, woher sie eigentlich kommt. Und dann nennt sie den Namen eines Ortes, den Trössner nicht versteht.
Er sitzt mittlerweile ganz gerade, aber entspannt. Da kann überhaupt nichts passieren. Glück gehabt. Da braucht er jetzt wahrscheinlich nur zu nicken, und diese nette Person erzählt ihm bis Berlin den kompletten Rest ihres Lebens. Die Aussicht beruhigt. Und vielleicht, weil gleich neben der Ruhe die Sorglosigkeit haust, nickt Trössner nicht nur, sondern sagt, woher er kommt.
Hoppla, mein Lieber! Was, wenn das nette Gegenüber gleich aus purer Höflichkeit fragt, was du denn da tust und ob du beruflich nach Berlin und so weiter?
Das wäre nicht gut. Denn Hartmut Trössner, den seit dem neunten April die Ärzte, die Staatsanwaltschaft und neuerdings auch ein Portier mit Erfolg vor der interessierten Öffentlichkeit schützen, besitzt, soweit ich weiß, keine Legende, keine Tarnidentität und, zu meinem Leidwesen, keine wie auch immer geartete Begründung für Hauptstadtbesuche.
»Ah!«, sagt die junge Frau und spricht noch einmal den Namen der Stadt aus, den Trössner genannt hat. Da arbeite eine Freundin, mit der sie in Stuttgart auf der Uni war. Soll ja eine ganz nette Stadt sein, leider noch nicht dagewesen. Nur das Wetter in der Gegend, so jedenfalls die Freundin, sei nicht das allerbeste, aber darauf gebe sie nichts, die Leute hielten sich zu oft an Vorurteile, statt eigene Erfahrungen zu machen.
Wunderbar! Gerettet. Trössner, du solltest jetzt mit dem Nicken aufhören, wenn du nicht aussehen willst wie ein Wackeldackel.
»Und«, sagt sie, »fahren Sie auch bis Ostbahnhof?«
»Ja.«
Trössner, ich staune. In diesem Moment beschlossen? Aus dem verständlichen Wunsch heraus, deinem Gegenüber zuzustimmen? Nur erwarte bitte keinen Kommentar von mir, ich habe ja nicht die blasseste Ahnung, was du eigentlich vorhast.
Die junge Frau zieht ein Smartphone aus ihrer Tasche, einem bauchigen, sackförmigen Teil, das nicht so richtig zu ihrem Business Outfit passt. »Kleiner Anruf«, sagt sie, aber keine Bange, sie zeigt auf das Logo an der Wand des Wagens, sie wisse ja, was sich gehört, und suche sich dafür ein stilles Örtchen. Steht auf und sagt: »Bis gleich.« Ihre Tasche nimmt sie mit.
Bis gleich?
Ja, Trössner, warum denn eigentlich nicht? Ist diese gewisse Sache denn so gar nicht mehr zu denken? Schau doch hin: Da geht sie durch den Gang, und weil sich der Zug in eine Kurve legt und sie schon das Smartphone ans Ohr hält, muss sie ein wenig den Po zur Seite herausstrecken, als Gewichtsverlagerung, damit es sie nicht über die Sitze wirft. Das sieht doch ganz reizend aus, oder? Werden da nicht Wünsche wach?
Trössner tut, als winkte er ab. Er will da nicht hinschauen und schließt, damit ich es glaube, beide Augen, als wollte er ein erneutes Einschlafen erzwingen.
Und schon sehe ich's hinter seinen Lidern: es. Es kam früh am Morgen, letzten Dienstag, am Ende der ersten Nacht im Hotel. Es kam zuerst als Bild, dann als Gefühl. Trössner erkannte die Szene sofort. Ein Räuberball, so hieß das, wenn ihre Tanzschule am letzten Tag vor den Ferien schon mittags öffnete. Der ganze Saal war voller aufgekratzter junger Leute; mittendrin er, ich erkannte ihn sofort, sechzehn, nein, gerade siebzehn geworden, also ohne die geringste Ahnung von dem, was er einmal sein und besitzen und verlieren sollte. Und natürlich galt das Gefühl einem Mädchen, so alt wie er, nicht üppig, aber sinnlich, immer in Bewegung und ständig lachend. Er kannte sie flüchtig von den Discoabenden in der Tanzschule, sie hieß Elke, ansprechen konnte er sie nicht, geschweige denn berühren.
Es war noch dunkel, als es aufploppte wie Spam mit Werbung für ein heikles Produkt. Trössner schaltete rasch das Licht ein, doch es ließ sich nicht vertreiben, das Verlangen nach einer Umarmung und mehr noch nach einem Wort, das die Umarmung erlaubte. Würde damit jetzt eine schwere Zeit beginnen? Das heißt natürlich: eine über die schlimmen Umstände seiner Existenz hinaus noch weiter erschwerte Zeit.
In den letzten Monaten hatte Trössner gelegentlich, nun ja, Hand an sich gelegt. Und Verzeihung, wenn ich das so sage, er tat es nicht, um ein Bedürfnis zu befriedigen, sondern um es im Keim zu ersticken. Nicht wahr? Eine Immunisierung gegen die wenigen Kontakte mit Frauen, die der Alltag in der Reha-Klinik erzwang. Und es hatte gewirkt. Kein hübsches Bein unter einem weißen Rock, kein offen stehender Knopf, keine Locke im Wind hatten es über seine Erregungsschwelle geschafft, auch als dieser unerhörte Sommer ausbrach und viel mehr Haut zu sehen war als sonst.
Jetzt aber, da es ihn in diesem Hotel erwischt hatte, was tun? Trössner war aufgestanden. Nebenan konnte er einen Mann atmen hören, vielleicht der Chef einer erfolgreichen Vertreterkolonne. Im Badezimmer trank er kaltes Wasser aus der hohlen Hand. Zurück im Bett, hatte sich das Verlangen nicht gelegt, doch der Impuls, es abzuleiten, war schwach. Außerdem ahnte Trössner, es würde alles nur schlimmer machen. Also wartete er darauf, dass der Tag anbrach.
Am Nachmittag ging er zum ersten Mal seit dem neunten April alleine auf die Straße. Man hätte meinen können, er ginge spazieren. Der Stadtpark stand ganz unter der Fuchtel dieses Rekordsommers, ebenso die Fußgängerzone; hier wie dort...
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