Kapitel 1
New Orleans, Louisiana
Freitag, 9. Februar
16:00 Uhr
Der Verdächtige war ihr ausgesprochen unangenehm.
Er saß an dem kleinen, verkratzten Holztisch wie ein Sinnbild für Selbstsicherheit und Gelassenheit. Keith Gerard. Achtundzwanzig. Grafikdesigner, der bei der größten Werbeagentur in New Orleans arbeitete. Er war unfassbar attraktiv und durch und durch hip - von seinem trendigen Fade Haircut bis hin zu seinem perfekten Dreitagebart.
Zu selbstsicher. Zu gelassen. Sein direkter Blick wirkte seelenlos, als er sie von oben bis unten taxierte wie eine Laborprobe.
Der Mangel an Emotionen irritierte sie. Es war, als würde hinter dieser gut aussehenden Fassade rein gar nichts Menschliches existieren.
NOPD Detective Micki Dee Dare tat es ihm gleich, erwiderte den finsteren Blick und ließ das Schweigen unangenehm im Raum hängen. Sie störte es nicht. Ebenso wenig ihren Partner Zach Harris, der sich lässig an die Tür des Verhörraums lehnte.
Das war Teil des Spiels - Gerard sollte sich fragen, warum man ihn zum Verhör hinzugezogen hatte, was ihn ihrer Ansicht nach mit dem Tod seiner Freundin in Verbindung brachte und warum zum Teufel sie nicht endlich mit der Befragung anfingen.
Sie fing an zu schwitzen, da sie die Heizung vor Betreten des Raums absichtlich höher gedreht hatte.
Gerard rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum, sah über die Schulter zu Zach hinüber und starrte dann wieder Micki an. Er stieß frustriert die Luft aus. »Wie kann ich Ihnen helfen, Detectives?«
»Sagen Sie es uns, Mr Gerard. Sie sind doch derjenige, der Ihre Freundin Sarah Stevens in einer Blutlache gefunden hat.«
»Das ist korrekt.« Er faltete die Hände vor sich. »Ich habe sie gefunden und Sie angerufen. Das ganze Erlebnis war ziemlich traumatisch.«
Er sagte das in aller Seelenruhe, ohne dass sich auch nur die kleinste Emotion in seiner Miene abzeichnete.
Micki blinzelte nicht einmal. »Das kann ich mir vorstellen.«
»Zweifeln Sie etwa daran?«
»Habe ich das gesagt?« Sie warf Zach einen Blick zu, als wollte sie sich das bestätigen lassen, und konzentrierte sich danach wieder ganz auf Gerard. »Ich habe es jedenfalls nicht so gemeint. All das Blut, jemand, der Ihnen angeblich am Herzen lag .«
»Sie lag mir am Herzen. Sehr sogar.«
Micki warf einen Blick auf ihre Notizen. »Wie kam es, dass Sie heute Morgen >einfach mal bei ihr vorbeigeschaut< haben?«
»Wir haben gestern Abend telefoniert. Sie war ziemlich durcheinander, und ich .«
»Warum war sie durcheinander?«
»Sie hatte hin und wieder Depressionen.« Er zuckte mit den Achseln, als wollte er damit andeuten, dass er da nichts hatte machen können. »Daher war das durchaus nicht ungewöhnlich.«
»Was haben Sie üblicherweise gemacht, wenn es ihr nicht gut ging?«
»Ich habe mit ihr geredet, bis sie sich wieder beruhigt hatte.«
»Sie sind nicht auf die Idee gekommen, zu ihr zu fahren und sie zu trösten?«
»Das habe ich früher gemacht, als wir frisch zusammen waren. Später aber nicht mehr.«
»Weil es Sie gelangweilt hat.«
»Ja. Das können Sie mir doch nicht vorwerfen, oder? Es waren immer dieselben Ängste und die gleichen ermutigenden Worte. Immer dasselbe.«
»Aber Sie waren trotzdem mit ihr zusammen?«
Er konnte den Tadel in ihrer Stimme nicht überhören, aber es schien ihm nichts auszumachen. Geistesabwesend legte er die Hände auf den Tisch und trommelte mit den Fingern der rechten Hand auf die Tischplatte. »Die restliche Zeit habe ich ihre Gesellschaft sehr genossen.«
Micki kniff die Augen zusammen. »Sie sind ein richtiger Schatz, nicht wahr?«
»Tatsächlich bin ich das.« Er verharrte. »Ich habe heute noch einiges zu erledigen. Sind wir hier fertig?«
»Nein, sind wir nicht, Mr Gerard.« Sie schaute erneut auf ihre Notizen. »Warum haben Sie Sarah Stevens heute Morgen einen Besuch abgestattet?«
»Sie ging nicht ans Telefon, und ich wollte mich vergewissern, dass es ihr gut geht.«
»Auf einmal waren Sie doch an ihrem Wohlergehen interessiert?«
»Sie haben einen völlig falschen Eindruck von mir, Detective Dare. Ich bin ein guter Mensch. Das können Sie mir glauben.«
Wie kam es dann, dass sie mit jeder Faser ihres Wesens vor ihm zurückscheute? »Ein guter Mensch«, wiederholte Micki. »Und zweifellos ein guter Fang? Sehen Sie sich doch nur an. Sie sind attraktiv, erfolgreich, charmant.«
»Vielen Dank.« Seinen Mund umspielte ein Lächeln. »Aber ich kann Ihnen versichern, dass ich nicht so über mich denke. Erst recht in einer Zeit wie dieser.«
Natürlich tat er das. Es war ebenso offensichtlich wie seine teuren Schuhe. »Reden wir nicht länger um den heißen Brei herum, Mr Gerard. Wir haben Grund zu der Annahme, dass Sie etwas mit Sarahs Tod zu tun haben.«
»Sie hat sich die Pulsadern aufgeschnitten, Detective. Nachdem sie monatelang gedroht hat, genau das zu tun, hat sie es in die Tat umgesetzt. Ich wüsste nicht, was das mit mir zu tun haben sollte.«
»Sie behaupten also, Sie hätten sie nicht dazu ermutigt?«
»Was für ein Monster müsste ich denn dann sein?«
»Sagen Sie es uns, Mr Gerard.«
»Dahinter steckt ihre verrückte Schwester, richtig? Was hat sie jetzt wieder gesagt?«
»Dass Sie Sarah nicht etwa beruhigt hätten, wie Sie behaupten, sondern sie aufgefordert haben, es endlich durchzuziehen und sich umzubringen.«
»Ich hätte sie ermutigt, sich umzubringen? Das ist doch lächerlich.«
»Ist dem so?« Micki hielt seinem Blick stand. »Ihre Schwester behauptet, Sarahs Depressionen hätten erst angefangen, nachdem Sie beide zusammengekommen waren.«
Er zuckte mit den Achseln. »Das ist ihre Meinung.«
»Es ist nicht nur eine Meinung. Sarah hat mit ihr darüber gesprochen. Sogar mehrmals.«
Gerard schürzte leicht die Lippen. »Das ist das Gerede einer Frau, die kurz vor dem Durchdrehen ist.«
Micki beugte sich vor. »Wenn jemand kurz vor dem Durchdrehen ist, kann er von einem Nahestehenden leicht dazu gebracht werden, sich etwas anzutun, finden Sie nicht auch?«
»Sprechen Sie da aus persönlicher Erfahrung?« Er lehnte sich so weit vor, dass sie seinen Atem im Gesicht spüren konnte. »Wissen Sie, wie sich das für mich anhört? Nach Schuldgefühlen. Lieber Sarahs Freund die Schuld an ihrem Selbstmord in die Schuhe zu schieben, statt sich an die eigene Nase zu fassen. Ich kannte Sarah seit sechs Monaten. Teresa kennt sie schon ihr ganzes Leben. Wer trägt Ihrer Meinung nach die größere Schuld an Sarahs Tod?«
»Hat eine Ihrer früheren Freundinnen auch Selbstmord begangen?«
»Das ist erbärmlich, Detective.« Er stand auf. »Ich denke, wir sind hier fertig.«
»Setzen Sie sich wieder, Mr Gerard. Wir sind noch lange nicht fertig.«
Er zog sich lächelnd den Mantel über. »Das sind nur wilde Behauptungen einer trauernden Angehörigen. Sie haben nichts gegen mich in der Hand. Falls Sie noch einmal mit mir sprechen wollen, wenden Sie sich bitte an meinen Anwalt.«
Er holte eine Visitenkarte aus der Brusttasche, warf sie auf den Tisch und wandte sich zur Tür.
Zach versperrte ihm den Weg und reichte ihm die Hand. »Danke, dass Sie heute hergekommen sind, Mr Gerard. Wir wissen Ihre Kooperation sehr zu schätzen und möchten Ihnen noch einmal unser Beileid aussprechen.«
Gerard zögerte kurz, schüttelte dann aber Zachs Hand. Zach hielt ihn etwas länger fest, als üblich war, und sah ihm dabei in die Augen, und Micki bemerkte, dass Gerard sich ein wenig wand.
Trotz allem schien er nicht die geringste Ahnung zu haben, dass er gerade »durchleuchtet« wurde - wie sie es bezeichnete, wenn Zach seine Fähigkeit einsetzte, anderen in den Kopf zu blicken und ihre Gedanken zu sehen und zu spüren.
Zach gehörte einer geheimen FBI-Einheit namens Sixers an. Diese bestand aus Individuen mit übernatürlichen Kräften, die man rekrutiert, ausgebildet und zur Unterstützung und Verbrechensbekämpfung auf lokale Polizeireviere aufgeteilt hatte. Selbst innerhalb der Polizei wussten nur sehr wenige Personen von diesem Programm; und sie war eine der »Glücklichen«, die eingeweiht worden waren, da man ihr den Rekruten des NOPD an die Seite gestellt hatte.
Das war ein ziemlich gerissener Trick, der sie zwar häufiger auf die Palme brachte, sich aber auch als äußerst nützlich erwiesen hatte. Vor allem in Situationen wie diesen.
»Der Fahrstuhl ist gleich den Flur entlang«, sagte Zach und ließ Gerards Hand los. »Steigen Sie im Erdgeschoss aus.«
Der Mann zog seine Hand ruckartig zurück, und auf seinen Wangen zeichneten sich zornige rote Flecken ab. »Ich fahre nicht zum ersten Mal mit dem Fahrstuhl.«
Micki trat neben Zach, und sie beobachteten, wie sich die Fahrstuhltüren hinter Gerard schlossen. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie ungern ich diesen Kerl laufen lasse.«
»Das musst du auch nicht, Partner.«
Er blickte grinsend auf sie herab, und seine umwerfenden blauen Augen strahlten. Sie sah ihn fragend an. »Hast du etwa meine Gedanken gelesen, Hollywood?«
»Du weißt doch, dass ich das nie tun würde, Mick.«
Sie hatte ihn einmal dabei erwischt, wie er es bei ihr versucht hatte, und ihn gewarnt, dass sie ihre Partnerschaft sofort beenden würde, falls er das ein zweites Mal probierte. Er hatte ihr versprochen, es nicht zu tun, und...