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Wenn im Zoo der Elementarteilchen ein Preis für Extravaganz und Rätselhaftigkeit verliehen werden würde, dann dürfte er mit ziemlicher Sicherheit an das Neutrino gehen. Neutrinos sind die eigenartigsten und befremdlichsten aller bekannten Teilchen. Im Vergleich zu ihren eher prosaischen Mitbewohnern im Teilchenzoo nehmen sie sich wie regelrechte Zauberwesen aus. Ihre verblüffendste Eigenschaft ist ohne Zweifel die äußerst geringe Neigung, mit ihrer Umwelt in irgendeine Form von Wechselwirkung zu treten. Darum können sie riesige Materieschichten durchdringen, ohne auf ein anderes subatomares Teilchen zu prallen. Von den 60 Milliarden Sonnenneutrinos pro Quadratzentimeter und Sekunde etwa, die von der Sonne kommend auf die Erdoberfläche treffen und dann die Erde durchqueren, stoßen im Mittel kaum ein Dutzend mit einem Atom des Erdinnern zusammen. Unbemerkt durchqueren sie auch unseren Körper, dringen an der Schulter ein und eilen durch die Fußsohlen hinaus, jagen durchs Herz, preschen durch den Magen und huschen durchs Gehirn, ohne auch nur die geringste Spur zu hinterlassen.
Am Anfang der Geschichte des Neutrinos stehen Ungereimtheiten bei radioaktiven Zerfallsprozessen. Lise Meitner, die erste Heldin dieses Buches, hat ihnen einen Großteil ihres Lebens gewidmet - lange bevor sie durch ihre Rolle bei der Entdeckung und Erklärung der Kernspaltung berühmt wurde. Um die erwähnten Widersprüche auflösen zu können, »postulierte« unser zweiter Protagonist, der Physiker Wolfgang Pauli, im Jahr 1930 die Existenz des Neutrinos. Wenige Jahre später gelang es, die Eigenschaften des hypothetischen Teilchens zu berechnen. Das Ergebnis war allerdings niederschmetternd: Das Neutrino glich eher einem Geisterteilchen als einer realen Existenz. Dass man Paulis seltsames Teilchen je würde nachweisen können, glaubte darum niemand - einschließlich Pauli selbst.
Aber das war ein Irrtum. In den Vierzigerjahren entstanden die ersten Kernreaktoren, und sie erzeugten eine so gigantische Menge von Neutrinos, dass ein Nachweis in den Bereich des Möglichen rückte. 1956 gelang es zwei amerikanischen Physikern, Frederick Reines und Clyde Cowan, an einem Reaktor in den USA Neutrinos nachzuweisen. Aus dem Fluss von Abermilliarden Neutrinos, die in jeder Sekunde durch ihr Nachweisgerät strömten, lösten nur ein bis zwei pro Stunde ein Signal aus. Frederick Reines, der dritte Held unserer Erzählung, erhielt dafür den Nobelpreis für Physik. Anders als Meitner und Pauli hat er fast sein ganzes Forscherleben der Untersuchung von Neutrinos gewidmet, mit einer einzigartigen Mischung aus Ausdauer, Ideenreichtum und Besessenheit. An Ideenreichtum steht ihm unser vierter Held in nichts nach. Bruno Pontecorvo ist in der Neutrinoforschung nachgerade allgegenwärtig. Auch die Ergebnisse des IceCube-Neutrinoteleskops am Südpol, an dem ich selbst beteiligt bin, wären ohne Pontecorvos Idee von »Neutrino-Oszillationen« nicht verständlich. Drei seiner Ideen haben zu Nobelpreisen geführt - und in allen drei Fällen gehörte er nicht zu den Ausgezeichneten!
Eine der drei Ideen Pontecorvos betraf den Nachweis von Neutrinos. Zwar wurden die Neutrinos aus Kernreaktoren mithilfe eines anderen Nachweisprinzips entdeckt, aber dem US-Amerikaner Raymond Davis gelang es 14 Jahre später, mit der Pontecorvo-Methode erstmalig Neutrinos aus der Sonne nachzuweisen. Anders als Pontecorvo war Davis vor allem ein Mann der Ausdauer, ein Dickbrettbohrer par excellence. Davis, Nobelpreisträger von 2002, ist die fünfte der porträtierten Personen. Die sechste ist John Bahcall, der Davis als theoretischer Astrophysiker begleitete und Beharrlichkeit mit einer erstaunlichen Vielseitigkeit verband. 17 Jahre nach Davis' ersten Resultaten gelang die Messung von Sonnenneutrinos - mit einem völlig andersgearteten Gerät - auch dem Japaner Masatoshi Koshiba, der siebenten porträtierten Person. Zudem schenkte das Schicksal ihm ein astronomisches Jahrhundertereignis: die Explosion einer Supernova in einer Satellitengalaxis unserer Milchstraße. Weltweit wurden zwei Dutzend Neutrinos aus dieser Supernova registriert, die Hälfte davon mit Koshibas Detektor. Auf spektakuläre Weise bestätigten sie die Vorstellungen von dem, was im Innern eines kollabierenden Sterns passiert, und eröffneten endgültig die Ära der Neutrinoastronomie.
Die Persönlichkeiten der Hauptdarsteller in unserer Neutrinosaga könnten unterschiedlicher nicht sein. Da sind die peniblen Ausdauerläufer, die sich über mehr als zwei Jahrzehnte beharrlich einer Fragestellung widmen. Lise Meitner, Raymond Davis und John Bahcall sind Beispiele dafür. Daneben die genialen Vordenker, die mit einem Schlag einen gordischen Knoten durchtrennen, wie Wolfgang Pauli. Dazu Physiker, die von ihrem Forschungsobjekt regelrecht besessen sind und von einer Entdeckung und einer Idee zur nächsten eilen, wie Bruno Pontecorvo und Fred Reines. Und schließlich solche, denen ein astronomisches Jahrhundertereignis verdientermaßen zu Nobelpreisehren verhilft, wie Masatoshi Koshiba. Bewundernswert sind sie alle, jeder auf seine Weise.
Ihre Biografien sind jedoch nicht nur durch ihren Forschungsgegenstand, das Neutrino, geprägt, sondern auch durch die Weltgeschichte: durch ein Jahrhundert mit zwei Weltkriegen, durch Diktaturen wie die von Hitler in Deutschland, Mussolini in Italien und Stalin in der Sowjetunion. Durch Emigration, durch die Entdeckung der Kernspaltung und den Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki und durch den Kalten Krieg zwischen West und Ost. Lise Meitner und Bruno Pontecorvo werden durch die geschichtlichen Ereignisse um den Nobelpreis gebracht, die eine, weil sie aus Nazideutschland emigrieren musste, der andere, weil er über den Eisernen Vorhang hinweg vom Westen in den Osten wechselte und kaum Chancen hatte, seine Ideen in die Tat umzusetzen. Fred Reines, der Entdecker des Neutrinos, wäre möglicherweise nie auf das Neutrino als Lebensprojekt gestoßen, wenn er nicht vorher in Los Alamos für das Atombombenprojekt gearbeitet hätte. Und der Lebensweg des Japaners Masatoshi Koshiba wäre vielleicht ganz anders verlaufen, wenn nicht 1945, als er gerade 19 Jahre alt war, Atombomben über seinem Heimatland abgeworfen worden wären und Japan bedingungslos kapituliert hätte.
Zurück zu den Neutrinos selbst: Sie sind schon allein wegen ihrer physikalischen Eigenschaften ein fesselndes Forschungsobjekt. Für mich und viele meiner Kollegen sind sie aber in einer völlig anderen Hinsicht interessant: als kosmische Informationsträger. Teilchen, die nur äußerst sporadisch mit ihrer Umwelt reagieren, können uns nämlich aus kosmischen Regionen erreichen, aus denen nie ein Lichtstrahl zu uns dringen kann. Vereinfacht könnte man sagen: Was der Röntgenstrahl für die Medizin, das ist das Neutrino für die Astrophysik.
So haben uns Neutrinos entscheidende Informationen aus dem Innern der Sonne geliefert, von dort, wo die Kernreaktionen ablaufen, aus denen unser Zentralgestirn seine Energie bezieht. 1987 haben sie uns, wie schon erwähnt, Kunde aus dem Innern einer Supernova überbracht. Die zwei Dutzend weltweit registrierten Supernova-Neutrinos hatten die Wirkung eines Paukenschlags. Von heute auf morgen nahmen selbst Skeptiker die Neutrino-Astronomie ernst, auch wenn die meisten von deren Pionieren immer noch als seltsame Exoten angesehen wurden. Auch für mich selbst stellte dieses Ereignis ein Schlüsselerlebnis dar: Ich schloss mich einem Projekt für ein Neutrinoteleskop im Baikalsee an.
Im Mittelpunkt des Baikal-Projekts stehen nicht Neutrinos aus der Sonne oder aus Supernovae, sondern solche aus kosmischen Beschleunigungsprozessen. Deren Energie ist zwar Millionen Mal größer als die von Sonnenneutrinos, aber ihre Anzahl auf der Erde dafür viele Billionen mal geringer. Der Nachweis solcher Neutrinos erfordert darum Detektoren von gigantischen Ausmaßen. Er gelang erst im Jahr 2013 mit dem IceCube-Neutrinodetektor am Südpol. An diesem Projekt (und seinen Vorstudien) bin ich selbst seit...
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