Schweitzer Fachinformationen
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Prolog
Der kühle Wind hier am Sønderho-Strand wehte Sandra Holz den feinen Sand ins Gesicht, und sie hielt den Mund geschlossen, um nicht zu viel davon einzuatmen. Die 39-Jährige zog den Kragen ihrer Lederjacke hoch. Schon seit letzter Woche verweilte sie hier auf der dänischen Insel Fanø, die sie nach einer Rehamaßnahme in Deutschland als Rückzugsort ausgewählt hatte. Es hatte sich einfach so ergeben. Ihre Heimat war der in Hamburg als Ermittlerin arbeitenden Kommissarin nach dem Messerangriff eines ehemaligen RAF-Terroristen zu eng geworden und sie musste dringend eine Auszeit nehmen. Alle wollten dauernd wissen, wie es um sie stand. Das war sicher gut gemeint, aber auch extrem nervig. Auf ihrer Suche nach Ruhe und Abgeschiedenheit, fernab vom Stress, stieß sie im Internet auf das Gasthaus Krogaard auf der dänischen Ferieninsel Fanø. Sie hatte sofort zwei Wochen gebucht. Schon am nächsten Morgen war sie mit dem Zug vom Hamburger Hauptbahnhof nach Esbjerg gefahren. Keine zwölf Minuten nach Abfahrt der Fähre, bei ihrer Ankunft im kleinen Ort Nordby, lockerten sich Nervosität und Ruhelosigkeit. Ihre Balance kehrte langsam wieder zurück. Nach dem Einchecken hatte sie sich auf der kleinen Holzterrasse vor ihrem Zimmer niedergelassen. Entspannt blickte sie hinweg über kleine Reetdach-Häuser mit üppigen Vorgärten in Richtung der dänischen Nordsee. Dieser Ort und seine Stille waren exakt das, was sie sich, nach dem Anschlag im letzten Jahr auf ihr Leben, sehnlichst gewünscht hatte. Inzwischen war die erste Woche vergangen. Sandra hatte schon mehrfach darüber nachgedacht, hier ständig leben zu wollen.
Der gestrige 23. Juni war ein Ausnahmetag. Auf der Insel wurde die Sonnenwende, der "Sankt Hans Aften", gefeiert. Überall brannten die Bewohner Lagerfeuer ab, sangen, tanzten und tranken. Sandra hatte sich die Geschichte um die Tradition des Hexenverbrennens von ihrer Wirtin angehört. Ihr war sofort klar geworden, dass sie daran nicht teilnehmen würde. Den Abend verbrachte sie lieber lesend in ihrem Zimmer.
*
Gerade zogen erste Schleier der Dunkelheit über das Meer, und die meisten Urlauber hatten ihre Plätze am Wasser schon geräumt. Das war stets der Zeitpunkt, an dem Sandra zu ihrer abendlichen Joggingrunde aufbrach. Anonym, ohne Kontakt zu irgendwelchen Unbekannten, liebte sie es, kilometerweit durch den Sand zu laufen.
Eine Wattwanderung hinaus zu den Seehundbänken hatte man ihr schon nahegelegt. Aber das war nur in Gruppen möglich, denn noch immer verzichtete sie auf Kontakte. Auch jetzt, im letzten Licht des Abends, konnte sie die Silhouetten der Seehunde beim Riff Galgerevet erkennen. Sie blieb stehen und schaute auf den Pulsmesser. Alles war in Ordnung. Dennoch setzte sie sich für einen Moment in den Sand, trank einen Schluck aus der Mineralwasserflasche und dachte über ihre Zukunft nach. Noch bis Juli war sie krankgeschrieben. Vielleicht würde der Amtsarzt verlängern. Aber wie sollte es weitergehen? Wollte sie wieder zurück in den stressigen Job bei der Hamburger Mordkommission? Doch hatte sie Alternativen? Sie würde im kommenden Jahr vierzig Jahre alt werden. Noch zu jung, um über den Ruhestand nachzudenken.
Um sie herum am Strand war es inzwischen ruhig geworden, genauso, wie sie es liebte. Die letzten Touristen würden sich im Moment duschen und aufhübschen, um dann in den Kneipen oder Restaurants der Ferieninsel zu verschwinden. Ihr Blick fiel in Richtung Wattenmeer, wo sie am Horizont die Umrisse eines Schiffes erkannte. Wären Schiffsreisen eine Option? Eher nicht. Diese fanden, was Mitmenschen anging, nur im Rudel statt und waren somit nichts für sie. Plötzlich hatte ein kleines Licht ihre Aufmerksamkeit geweckt. Es leuchtete in geringer Entfernung auf. Sofort verschwand das Licht wieder, um Sekunden später erneut aufzutauchen. Sicher nur eine Spiegelung des Meeres, überlegte Sandra und erhob sich, um zum Gasthof zurückzukehren. Fast zehn Kilometer waren es heute, das musste reichen. Niemand wusste, dass sie sich Ende des Monats um einen Platz beim Marathonlauf durch den Alten Hamburger Elbtunnel beworben hatte. Schon immer wollte sie an diesem besonderen Lauf teilnehmen, doch bisher war es ihr aus Zeitgründen nie möglich gewesen. Ob das Los sie auswählte? Sandra war klar, Tausende bewarben sich jährlich dafür, nur circa 230 Läuferinnen und Läufer hatten die Chance, die knapp neunundvierzig Runden durch die Röhren unter der Hamburger Elbe laufen zu dürfen.
Sandra entfernte mit einer Handbewegung den feinen Sand von der Laufjacke und wandte sich dabei vom Wind ab, sodass sie die jodhaltige Luft tief einatmen konnte.
Wieder war da dieses Leuchten. Es machte sie neugierig. Sie schaute sich um, wollte jemanden fragen, was er davon hielt. Aber bis auf eine Person mit Hund, die etliche Meter von ihr entfernt in der Dämmerung verschwand, befand sie sich allein auf weiter Flur. Was, wenn sich da draußen jemand verirrt hatte? Sandra zog ihr Handy aus der Hosentasche. Drei Balken, der Empfang ging in Ordnung. Sollte sie jemanden über ihre Beobachtung informieren? Die Polizei? Die Flut ließ das Wasser schon ansteigen. Sie spürte, wie ein Schauer ihre Rückenhaut beherrschte. Wenn sich da draußen jemand in Not befand, war es allerhöchste Eisenbahn, ihm zu helfen. Wenn es nicht schon zu spät war. Der Schlick war nichts für unerfahrene Wattläufer, wusste Sandra aus den Erfahrungen ihrer Kindheit. Von ihrer Strandliege aus hatte sie in den letzten Tagen oft die Höhenveränderung des Wasserspiegels beobachtet, und er war verdammt schnell angestiegen.
Das Licht erschien, verschwand und kehrte zurück. Als ob eine hilflose Person da draußen bewusst Zeichen gab. Sandra bemerkte, dass die Lichtzeichen zeitlich unterschiedlich lang waren. Gab es dafür eine bestimmte Erklärung? Morsezeichen? Das Notsignal aus der Seefahrt kam ihr in den Sinn. Wie war der Morsecode noch? Sie spürte, dass ihre Herzfrequenz anzog, und musste zum besseren Atmen den Mund öffnen. Sandra ignorierte den feinen Sand, der in die Mundhöhle eindrang, sich auf die Zunge, den Rachen und das Zahnfleisch ablegte. Sie zählte nur die Intervalle des Lichts: dreimal kurz - dreimal lang - dreimal kurz! Ihr stockte der Atem. Da draußen, wenige Hundert Meter von ihr entfernt im Wattenmeer, mussten Personen sein, die sich in großer Not befanden. Sie zögerte noch, doch dann lief die Hamburgerin, ohne weiter darüber nachzudenken, in Richtung des Lichts.
Schon nach wenigen Metern spürte Sandra, wie Feuchtigkeit ihre Laufschuhe durchnässten. Kurz kam ihr der Gedanke, dass sie überstürzt handelte, aber wenn es ihre in Not geratene Familie wäre? Sie rannte wie von Sinnen. Als ginge es darum, einen Rekord gegen die Natur aufzustellen. Es wurde ihr warm. Sie öffnete, während sie lief, die Laufjacke.
Der Wasserspiegel war inzwischen weiter angestiegen; das Laufen fiel ihr schwerer. Sie spürte das Meer bei den Waden. Vielleicht war es auch nur das Spritzwasser, das sie beim Spurt aufwirbelte? Das Licht war verschwunden. Sie blieb stehen, kniff ihre Augen zusammen, um etwas zu erkennen. Doch da war nur tiefes Dunkel. Was, wenn sie sich getäuscht hatte? Noch konnte sie zurück. Sie drehte sich um. Der Strand befand sich in Sichtweite und die kleinen Wegeleuchten zeigten ihr die Richtung zum Festland. Sandra zweifelte plötzlich, dachte an Lara Sophie, an ihre toten Eltern. Sie hatte sich schon oft für andere Menschen, auch Unbekannte, eingesetzt. Sicher reichte ihre Opferbereitschaft für mehrere Leben, doch irgendwann musste auch mal genug sein. Es war an der Zeit, mehr an sich zu denken. Das hatte ihr auch die Psychologin in der Reha geraten: "Sie haben nur das eine Leben. Es wurde Ihnen geschenkt. Nutzen Sie es!"
Gerade verschleuderte sie es, um einem Licht, einer Fata Morgana, entgegenzurennen? Plötzlich war das Leuchten wieder sichtbar. Nicht mehr so weit entfernt, glaubte sie und bewegte sich in diese Richtung. Das Wasser würde bald ihren Po erreichen und machte ein Laufen schon nahezu unmöglich. Es fühlte sich an wie die allmorgendliche Wassergymnastik in der Reha in Thüringen. Sie hatte diese Betätigung nie gemocht. War nur mit viel Überwindung dort aufgetaucht. Doch Joggen und den Fitnessraum hatte man ihr ärztlicherseits verboten. So blieben nur die leichten Gymnastikübungen und die Stunde im Hallenbad. Trotzdem hatte sie sich darüber hinweggesetzt. Oft vor dem Abendessen war Sandra in den nahe gelegenen Park spaziert, um dort ihre Joggingrunden zu drehen.
Es wurde ihr kalt und sie schloss ihre feucht gewordene Laufjacke wieder. Das Handy fiel ihr ein. Es durfte nicht nass werden. Sandra wechselte dessen Position von der Gesäßtasche der Laufhose in die Innentasche der Jacke. Die Lichtintervalle leuchteten unentwegt weiter. Sie schätzte, es waren keine zwanzig Meter mehr bis dorthin. Was, wenn sich dort bloß eine blinkende Boje befand? Eine, die aus dem Takt geraten war? Und sie vermutete ein SOS-Notsignal! Sandra spürte diesen Kloß im Magen. Sah vor ihrem geistigen Auge die Schlagzeile der hiesigen Presse:
"DEUTSCHE KOMMISSARIN BEIM VERSUCH, EINE BOJE AUS DEM WATTENMEER ZU BERGEN, ERTRUNKEN!"
Konnte sie auf der Boje, wenn es denn eine war, die Nacht verbringen? Bis sie am Morgen jemand fand? Doch noch hatte sie ihr Handy und war in der Lage, Hilfe herbeizurufen. Während ihr diese Gedanken durch den Kopf schossen, brüllte sie laut gegen den Wind: "Hallo, ist da wer?"
Sie blieb kurz stehen, drehte sich in Richtung Strand. Ihr stockte der Atem: Der Strand war verschwunden. Auch die Lichter konnte sie höchstens noch erahnen. Ihr wurde bewusst,...
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