Schweitzer Fachinformationen
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Stadt, Land, Dorf
Die Haustür klemmte. Charlotte nahm es als natürlichen Fortlauf aller Dinge, die in den vergangenen Monaten geklemmt, gezwickt und gebremst hatten. Sollte sie noch einmal den anderen Schlüssel.nein, ein leises Klicken verriet ihr, dass sich das Schloss bewegt hatte. Entschlossen stemmte sie sich mit der Schulter gegen das alte Holz, dessen rauchblaue Farbe wie Rinde von einem morschen Baum blätterte. Um ein Haar wäre sie lang hingeschlagen, als die instabile, verzogene Tür unvermutet nachgab und sie in die dahinter liegende Veranda stolperte. Ein kühler, leicht modriger Dunst schlug ihr entgegen. Durch die verstaubten Fenster ringsum drang das milchige Licht eines verhangenen Frühsommernachmittags, das gleichfalls mit ihrer Person in die sich selbst überlassene Stille des Hauses einfiel. Sie meinte zu spüren, wie das Haus durch ihr plötzliches Eintreten zusammenzuckte, dann aber aufatmete, als sie zwei der Fenster aufstieß, nachdem sie sich an den rostigen Fensterhaken zu schaffen gemacht hatte. Die zweite Tür, die eigentliche Haustür, war leicht aufzuschließen und ließ sie mit einem heiseren Schaben herein. Sie blinzelte in eine düstere Diele, die kein Tageslicht erreichte, weil alle von ihr abgehenden Türen geschlossen waren.
Grete Hansen, die verstorbene Vorbesitzerin, hatte selbst den stets unverschlossenen Hintereingang, der zum Garten hinausführte, benutzt, der im Übrigen auch für die unmittelbaren Nachbarn das Tor zu ihrem Refugium gewesen war. So hatte es ihr die Tochter, die ihr das Haus verkauft hatte, berichtet. Versonnen folgte Charlottes Blick dem einfallenden Lichtstrahl durch die geräumige Diele, die in einen schmalen Flur mündete, an dessen Ende die besagte Hintertür wie ein Korken auf einer liegenden Flasche das Haus verschloss. Sie zählte innerlich langsam bis drei. Sollte bis dahin niemand zur Tür hereingetreten sein, nahm sie es als Zeichen, dass sie hier ab jetzt ein ungestörtes, ruhiges Leben führen würde. Sei nicht albern, Charlotte. Wer sollte denn da kommen? Dieses kleine Haus an der Westküste gehörte ihr nun ganz allein.
"Wi verköpen nich geern an frömme Lüüd", hatte ihr die Grete-Tochter allerdings gnadenlos unmissverständlich zu verstehen gegeben. "Aver watt schall een maaken? De jung Lüüd wüllt ook nich hier blieven."
Ihr Haus also. Nur kurz schenkte sie ihrem ebenfalls verstorbenen Vater, der ihr eine beachtliche Summe Geld hinterlassen hatte, einen Gedanken. Dankbarkeit? - Da war nur eine kurze Erinnerung an sporadische Besuche in seiner Villa in Blankenese, hilflose Umarmungen und ein Berg von Geschenken, die ein schlechtes Gewissen kaschieren sollten. Von ihm hatte sie nichts als dieses Erbe und die bernsteinfarbenen Augen. Für diese Erbschaft hätte es allerdings keinen besseren Zeitpunkt geben können. Ja, eigentlich sollte sie dankbar sein.
Trotz ihrer allumfassenden Erschöpfung und dem Bedürfnis nach Ruhe war sie dennoch gespannt darauf, wer wohl der erste Besucher in ihrem neuen Heim sein würde.
Zur Linken wartete eine angelehnte Tür darauf, ihr den Blick in eine der Stuben zu öffnen. Sie war leer und sauber, ein Geruch von Mörtel schwebte in der Luft. Durch einen Rundbogen gelangte man von hier aus in einen weiteren kleinen Raum, der Grete Hansen als Esszimmer gedient hatte, wenn sie mit sich alleine war. Charlotte hatte die alte Dame nicht mehr kennengelernt - sonst hätte es ja keinen Anlass für den Verkauf gegeben. Doch bei der ersten Besichtigung war das Haus noch nicht ausgeräumt gewesen. Die Möbel hatten alle noch an ihrem Platz gestanden und Charlotte hatte fasziniert all die alten Fotographien an den Wänden betrachtet. Sie hatte sich wie in einem Museum gefühlt, gleichzeitig aber auch wie ein Eindringling. Sie hatte Grete in jedem Raum nachgespürt, stellte sich vor, wie sie hier mit der Nachbarin gesessen und Kaffee getrunken hatte oder dem Alten, der ihr im Garten zur Hand gegangen war, einen Köm einschenkte. Das eine oder andere aus Gretes Leben hatte die Tochter mit Wehmut vermischt über Charlotte ausgegossen, die sich danach wie ein nasser Hund geschüttelt hatte, um den Muff des Vergangenen wieder loszuwerden.
Auch in diesen Räumen öffnete sie die Fenster, stapfte quer über die Diele zurück, um damit im gegenüberliegenden Zimmer fortzufahren. Dieses hatte als Esszimmer für besondere Anlässe gedient. Während das Haus nun bis auf wenige Möbelstücke ausgeräumt worden war, stand hier noch der große Esstisch, ein dreihundert Jahre alter Gerbertisch, der aus Dänemark stammte, wie die Grete-Tochter berichtet hatte. Ein Umzug ins Sozialkaufhaus - ein Schicksal, das die meisten anderen Möbelstücke ereilt hatte - kam bei diesem edlen Stück für Charlotte nicht in Frage. Es besaß zweifellos einen gewissen Wert (dafür hatte die Grete-Tochter zu Charlottes Glück kein Gespür), und sie hatte so eine Ahnung, dass er ihr noch so manche Geschichte zu erzählen hätte. Geradezu liebevoll strich sie mit der Hand über die unebene, tausendfach eingekerbte Fläche. Dabei rieselten Staub und ein paar mumifizierte Insekten zu Boden.
Sie wischte sich die Hand an der Jeans ab und betrachtete den runden Kachelofen in der Ecke, ein schwedisches Prachtstück, das schon seit Jahren nicht mehr befeuert worden war. Die Kachelglasur hatte wohl einmal weiß geglänzt, war nun aber blind und fleckig wie auch die Vortüren aus Messing, welche die dahinterliegende Gusseisentür vor dem Kaminraum bedeckte. Mit seiner geschwungenen Krone und dem floralen Musterband darunter wirkte er herrschaftlich und stolz.
Sie wanderte weiter durch die Diele in den schmalen Flur. Direkt vor der Hintertür öffnete sich nach links der Küchenraum. Der maßgefertigte Tresen, der unter dem Fenster verlief, war aus massivem Kirschholz und glänzte matt im faden Sonnenlicht. Ihr gefiel der ländliche Stil der Fronten in einem milchigen Weißton mit den schwarzen Griffen. Überhaupt war die Küche sehr modern ausgestattet. So, wie Charlotte es verstanden hatte, war Grete diese nicht unbedingt erwünschte Erneuerung von ihren Töchtern (es gab derer wohl drei) "angeschnackt" worden. Auf diese Weise konnten sie mehr Vergnügen daran finden, Gretes stets zahlreiche Gäste zu bewirten, die sich an ihren Geburtstagen, an Ostern, Weihnachten und selbst an ihrem Hochzeitstag einfanden, den Grete in den letzten zwanzig Jahren auch ohne den verstorbenen Gatten zu feiern pflegte. Grete selbst war schon gar nicht mehr in der Lage gewesen, ihre Gästeflut zu versorgen, aber es war keine Option für sie gewesen, die ganze Bagage in die Wirtschaft einzuladen.
Sehr zu Charlottes Zufriedenheit hatten also die Töchter die Sache in die Hand genommen und sich einen komfortablen "Arbeitsraum" herrichten lassen, in dem sich mit einer flotten Maschine literweise Kaffee kochen ließ und die beigesteuerten Torten fachgerecht zerlegt werden konnten.
Geschirrspüler und Ceranfeld sowie der Backofen in Augenhöhe waren von der alten Frau jedenfalls gut gepflegt - oder gar nicht benutzt - worden. Rechts vom Eingangsbereich führten ein paar Stufen abwärts in einen kleinen Gewölbekeller, in dem Grete ihr Eingemachtes verwahrt hatte. Ihn ließ Charlotte bei ihrer Begehung heute links liegen. Sie wusste, dass er leergeräumt war und der Dinge harrte, mit dem Charlotte ihn zu füllen gedachte.
Aus den Augenwinkeln nahm Charlotte plötzlich eine Bewegung im Garten wahr. Ein zaghaftes Winken, ein scheues Lächeln, graue Wasserwelle - die Nachbarin vielleicht. Charlotte entriegelte die Hintertür und trat über die Terrasse in den Garten.
"Guten Tag, ich bin Charlotte!", plauderte sie munter drauflos. "Das ist aber nett, dass Sie mich besuchen. Ich bin gerade erst angekommen."
Schnurstracks ging sie auf die ältere Frau zu und nahm die Hand, die ihr sogleich entgegengestreckt wurde wie von einem Hund, der Pfötchen gibt. Sie hielt die schlaffe, weiche Hand in der ihren wie einen warmen Hefeteig, während sie das zurückhaltende Lächeln mit doppelter Leuchtkraft erwiderte, als könnte sie damit atmosphärischen Ausgleich schaffen.
"Herta Petersen. Ich komme immer zur Hintertür rein. Die ist immer offen."
"Tja, das war sie ja nun schon eine ganze Weile nicht mehr", fiel Charlotte dazu ein, der es nicht behagte, dass womöglich das halbe Dorf zur Hintertür hereinströmte. "Aber wir werden sehen."
"Kommen Sie aus der Stadt?", fragte Herta höflich.
Offensichtlich suchte sie nach einer Schublade für Charlotte, und da waren die Kategorien Land, Stadt und Dorf schon ganz hilfreich.
"Ich komme aus Kiel", präzisierte Charlotte, ahnte aber, dass die korrekte geografische Zuordnung für Herta belanglos war.
"Oh", entgegnete Herta ehrlich beeindruckt. "Aus der Großstadt. Wie kommt es, dass Sie dann hierher."
"Äh." Ja, gute Frage, Herta Petersen. Die frische Luft? Die Ruhe? Nachbarn, die...
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