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Jetzt wird's persönlich
Mythos:
Für alle Menschen gelten dieselben Ernährungsrichtlinien und Diätpläne
Wir Menschen sind komplexe Wesen, und auch unsere Gesundheit hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab. Manches, wie Alter und Gene, können wir nicht beeinflussen, anderes dagegen schon, wie das, was wir essen oder trinken. Zudem sind die Billionen von Bakterien, die unseren Darm besiedeln - in ihrer Gesamtheit als Darmmikrobiom oder auch Darmflora bekannt -, entscheidend für die Verdauung und damit für unsere Gesundheit. Unser Essen setzt sich aus vielen verschiedenen Nährstoffen zusammen, die sich ganz unterschiedlich auf unseren Körper und die Darmflora auswirken. Daher ist es alles andere als einfach, die Beziehung zwischen Ernährung, Stoffwechsel und Gesundheit in verständliche Worte zu fassen.
Wir sind es gewohnt, amtliche Empfehlungen und Richtlinien hinsichtlich Ernährung, Gesundheit und körperlichem Wohlbefinden zu befolgen. Diese sind nicht nur prägend für das Verhalten der Bevölkerung, sondern auch für die Behandlung durch Ärzte und andere Gesundheitsexperten. Ist es jedoch wirklich sinnvoll, Millionen von Menschen mit ganz verschiedenen Lebensstilen und gesundheitlichen Voraussetzungen dieselben Empfehlungen zu geben? Stellt dieser Ansatz, alle über einen Kamm zu scheren, eine adäquate Grundlage für staatliche Gesundheitspolitik dar? Im Laufe der Evolution haben wir Menschen uns zu Allesfressern entwickelt, und rund um den Globus dienen uns die unterschiedlichsten Nahrungsmittel als Grundlage für eine gesunde Ernährung - man denke nur an die Inuit, die afrikanischen Jäger und Sammler oder die gut eine Milliarde asiatischer Vegetarier. Kann angesichts der zunehmenden kulturellen und ethnischen Vielfalt unserer Welt überhaupt behauptet werden, eine bestimmte Ernährungsweise sei für alle Menschen geeignet?
In den Richtlinien des USDA (United States Department of Agriculture) für 2015-2020, die auch vielen anderen Ländern als Grundlage für ihre Empfehlungen dienen, soll mit der Grafik eines Tellers die ideale Zusammensetzung einer gesunden Ernährungsweise veranschaulicht werden: 39 Prozent Obst und Gemüse, 37 Prozent Getreide (Brot, Reis, Teigwaren, Kartoffeln etc.), 12 Prozent Eiweiß aus Bohnen, Hülsenfrüchten, Eiern, Fleisch und Fisch, 8 Prozent Milchprodukte und 4 Prozent zucker- und fetthaltige Nahrungsmittel. Zudem rät man uns, täglich fünf Portionen Obst und Gemüse, darunter ein Glas Fruchtsaft oder Smoothie, zu uns zu nehmen, zweimal in der Woche Fisch zu essen und uns auf 2000 Kalorien (Frauen) und 2500 Kalorien (Männer) zu beschränken.1 In Großbritannien gelten ähnliche Richtlinien, wobei darüber hinaus empfohlen wird, keinesfalls auf das Frühstück zu verzichten und täglich acht Gläser Wasser oder andere Flüssigkeiten zu trinken,2 mehrere kleine Mahlzeiten zu sich zu nehmen und am Abend nur maßvoll zu essen. In den USA gibt es vergleichsweise strenge Richtlinien bezüglich der Tagesaufnahme an gesättigten Fettsäuren (10 Prozent) und Salz (2,3 Gramm, was etwa einem Teelöffel entspricht). Diejenigen von uns, die alternativ auf die Tipps von Ernährungs- und Wellnessgurus vertrauen und es wahlweise mit glutenfreier, ketogener, kohlenhydratarmer Ernährung, Paläodiät oder Intervallfasten versuchen, sehen sich mit denselben Problemen konfrontiert. Können diese Empfehlungen wirklich für alle Menschen gleichermaßen gelten?
Neue Studien verkomplizieren den Sachverhalt zusätzlich: Sie zeigen nämlich, dass Nahrungsmittel mit vergleichbaren Nährwertprofilen unterschiedliche Auswirkungen auf die Gesundheit und die Darmflora haben können. Kollegen in den USA baten vierunddreißig gesunde Freiwillige, siebzehn Tage lang ihre Nahrungsaufnahme im Detail festzuhalten; diese Informationen wurden täglich mit der Zusammensetzung der Mikroorganismen in ihrem Stuhl abgeglichen.3 Zwar gab es einige Nahrungsmittel, wie Kaffee, Cheddar-Käse, Hühnchen und Karotten, die fast alle Studienteilnehmer zu sich nahmen; größtenteils war die Essensauswahl jedoch individuell verschieden. Die jeweilige Ernährung hatte nachweislich Auswirkungen auf die Darmflora der Probanden - manche Lebensmittel förderten oder minderten die Häufigkeit bestimmter Bakterienstämme -, ließ aber keine Rückschlüsse auf andere Teilnehmer zu. So führte etwa der Verzehr von Bohnen bei einer Person zur Zunahme bestimmter Bakterien, bei einer anderen hingegen ließ sich das nicht nachweisen. Während eng verwandte Nahrungsmittel (wie Weißkohl und Grünkohl) nahezu denselben Effekt auf die Darmflora zeigten, wirkten sich Nahrungsmittel, die eine sehr ähnliche Nährstoffzusammensetzung aufwiesen, aber nicht miteinander verwandt waren, überraschend unterschiedlich aus. Daraus lässt sich schließen, dass die herkömmliche Nährwertkennzeichnung nicht als Gradmesser dafür dienen kann, wie »gesund« ein bestimmtes Nahrungsmittel ist. Die Darmflora ist derzeit wohl das meistdiskutierte Thema im Bereich der Ernährung und Gesundheit; viele Wissenschaftler arbeiten gerade daran, die »guten« Bakterien zu erfassen und Wege zu ihrer Beeinflussung zu finden. Aber das Thema ist noch viel größer.
Mein Team am King's College London arbeitet mit Forschern des Massachusetts General Hospital, der kalifornischen Stanford University und des Ernährungsberatungsunternehmens ZOE4 zusammen. Wir führen derzeit die weltweit größte ernährungswissenschaftliche Studie durch - PREDICT (»Personalized Responses to Dietary Composition Trial«, etwa: Studie zu den individuellen Auswirkungen der Nahrungszusammensetzung), deren Ziel es ist, die komplexen, sich wechselseitig beeinflussenden Faktoren zu bestimmen, die hinter den individuellen Reaktionen auf Nahrungsmittel stecken. Insbesondere sollen Erklärungen gefunden werden für die regelmäßigen Anstiege des Zucker-, Insulin- und Fettspiegels im Blut, die metabolischen Stress verursachen, langfristig für Gewichtszunahme und verschiedene Erkrankungen verantwortlich sind und sich zudem auf den Appetit auswirken. Zunächst untersuchten wir die individuellen Ernährungsreaktionen von 2000 Freiwilligen aus den USA und Großbritannien, darunter auch Hunderte Zwillingspaare. Dazu wurden zwei Wochen lang der Blutzucker- (Glukose-), Insulin- und Fettspiegel (Triglyceride) und andere Marker gemessen, die sich aus der Kombination von vorgegebenen und selbst gewählten Mahlzeiten ergaben. Zudem wurden Informationen zu weiteren Parametern erfasst, wie etwa körperliche Aktivität, Schlaf, Hungergefühl, Zeitpunkt und Häufigkeit der Mahlzeiten, Stimmung, Erbanlagen sowie die Darmflora (natürlich!). So konnten Millionen von Einzeldaten gesammelt werden, darunter über zwei Millionen Blutzuckermessungen mittels Sensoren (als Teil eines CGM-Systems, wie es auch Diabetiker häufig verwenden) nach dem Verzehr von 130.000 Mahlzeiten sowie von 32.000 speziell zubereiteten Muffins. Die im Journal Nature Medicine publizierten Ergebnisse sorgten für Aufsehen.5
Wir fanden heraus, dass Menschen reproduzierbare, vorhersagbare Reaktionen auf bestimmte Nahrungsmittel zeigen, abhängig von deren Eiweiß-, Fett- und Kohlenhydratgehalt. Viel entscheidender ist jedoch die Erkenntnis, dass es zwischen einzelnen Individuen enorme Schwankungen gibt (bis zum Zehnfachen) - was die Aussagekraft sogenannter Durchschnittswerte ad absurdum führt. Diese Unterschiede traten sogar bei eineiigen Zwillingen auf, die als natürliche Klone dieselben Gene und ein ähnliches Umfeld haben. Weniger als 30 Prozent der Abweichungen bei den Blutzuckerreaktionen sind auf das individuelle Erbgut zurückzuführen; bei den Reaktionen auf den Fettkonsum sind es weniger als 5 Prozent. Entgegen den Erwartungen gab es nur einen schwachen Zusammenhang zwischen den beiden Faktoren: Eine negative Reaktion auf den Fettkonsum ließ keine Rückschlüsse darauf zu, wie die Reaktion auf Zucker ausfallen würde. Von den Tausenden bisherigen Probanden, die identische Mahlzeiten zu sich nahmen, lagen die Reaktionen eines gewissen Teils nah am Durchschnittswert, doch weniger als ein Prozent der Teilnehmer entsprach bei allen drei Werten, also Zucker, Insulin und Fett, genau dem Durchschnitt. Demnach können 99 Prozent aller Menschen keinem Durchschnittswert zugeordnet werden. Zudem fanden wir heraus, dass bei eineiigen Zwillingen nur 37 Prozent der Arten von Mikroorganismen im Darm übereinstimmen. Dieser Prozentsatz ist nur geringfügig höher als bei zwei nicht verwandten Personen, was den geringen Einfluss der Gene unterstreicht. Die ungefähre Zusammensetzung von Lebensmitteln, wie sie auf Verpackungen zu finden ist, kann nur etwa ein Viertel der Stoffwechselreaktionen erklären. Die meisten Unterschiede waren auf individuelle Faktoren wie Darmflora und Gene zurückzuführen, aber auch auf Abweichungen beim circadianen Rhythmus (Schlaf-Wach-Rhythmus, auch »innere Uhr« genannt), Bewegung, Schlaf und andere bisher noch unbekannte Größen.
Die im Rahmen von PREDICT gewonnene Datenfülle wird derzeit von einem großen internationalen Team von Wissenschaftlern ausgewertet. Das Ernährungsprogramm ZOE, mit dem ich eng zusammenarbeite, hat eine Smartphone-App entwickelt, um auf Basis von selbstlernenden Algorithmen und individuellen Angaben die Reaktion eines Menschen auf bestimmte Nahrungsmittel vorherzusagen. Dies soll den Nutzern helfen, sich möglichst gesund zu ernähren. Für erweiterte Studien in häuslicher Umgebung werden derzeit in den USA und Großbritannien Tausende von Probanden gesucht. Je mehr Freiwillige teilnehmen, desto mehr Daten können gesammelt werden, wodurch sich die...