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In seinem historisch-politischen Essay vom Juli 2021 hat Putin Belarus, die Ukraine und Russland als »einzige große, dreieinige Nation« bezeichnet. Im Zentrum der Bemühungen Russlands, die Nachbarschaft zu kontrollieren, steht seit 2014 die Ukraine. Wenn es Moskau gelingt, den zweitgrößten und zweitmächtigsten Nachfolgestaat der Sowjetunion - nach Russland - zu unterwerfen, dann hat das imperiale Projekt Putins gute Chancen auf Verwirklichung.
Warum ist die Ukraine so wichtig für Russlands imperiales Projekt?
Der flächenmäßig größte Staat Europas liegt zwischen dem Süden Russlands und einer Reihe von mittelosteuropäischen Ländern: Polen, der Slowakei, Ungarn und Rumänien. Zugleich ist die Ukraine ein wichtiger Anrainerstaat des Schwarzen Meeres.
Die Ukraine ist das nach Russland bei Weitem bevölkerungsreichste Land in der Region, auch wenn seine Bevölkerung von über 50 Millionen in den 1990er-Jahren auf 43 Millionen vor dem russischen Großangriff vom Februar 2022 und danach auf etwa 37 Millionen gesunken ist. Das benachbarte Belarus hat lediglich 9 Millionen Einwohner, Moldawien nur 2,5 Millionen. Die drei Länder des Südkaukasus - Georgien, Armenien und Aserbaidschan - haben zusammengenommen knapp 17 Millionen Einwohner, die drei baltischen Staaten 6,6 Millionen. Russland hat 146 Millionen Einwohner.
Die Ukraine verfügt über erhebliche natürliche Ressourcen: fruchtbares Land und zahlreiche Bodenschätze (Titanium, Eisenerz, Lithium, Kohle).20 Traditionell ist die Ukraine ein Industrieland, mit Schwerpunkt im Osten. Vor dem russischen Einmarsch war die Ukraine auch bekannt für ihren dynamischen Hightech-Sektor. Während des Krieges hat die Ukraine eine boomende Rüstungsindustrie aufgebaut.
Wenn es Moskau gelingt, die Ukraine zu unterwerfen, »wird Russland automatisch ein Imperium«, schrieb Zbigniew Brzezinski, der ehemalige Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter, schon 1994. Umgekehrt gilt, »dass Russland ohne die Ukraine aufhört, ein Imperium zu sein«.21
Die Idee einer russischen Vorherrschaft sei sehr populär in der russischen Beamtenschaft und in der Öffentlichkeit, so Brzezinski. Doch dauerhafte Stabilität gebe es nur, wenn sich Russland vom Imperialismus verabschiede. Nur wenn ein »geopolitischer Pluralismus« im Raum der früheren Sowjetunion etabliert werde, würde »die Versuchung blockiert werden, das Imperium neu zu erfinden«. Nur in einer solchen »glücklichen Umgebung« würde es für Russland möglich sein, »sich selbst nur als Russland zu definieren« und ein guter Nachbar und ein »normaler Staat« zu werden. Für alle diese Fragen sei die künftige Stabilität und Unabhängigkeit der Ukraine von entscheidender Bedeutung. Die USA, so Brzezinski, sollten nicht einseitig auf Russland setzen und damit dessen imperiale Instinkte stärken, sondern das neu entstehende System souveräner Staaten in der Region unterstützen.
Doch der Westen zeigte in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren nur wenig Interesse an der Ukraine. Das Land wurde zu einer Art »flyover country« - der Westen fokussierte sich ganz auf Russland. Die Hoffnung war, Russland zu einem Stabilitätsanker in der Region zu machen. Washington drängte die Ukraine, die auf ihrem Boden liegenden Atomwaffen an Russland abzugeben, im Gegenzug erhielt die Ukraine im Budapester Memorandum von 1994 Zusicherungen von Russland, den Vereinigten Staaten und Großbritannien, die Souveränität und territoriale Integrität des Landes zu sichern.
Obwohl der Westen sich nur wenig für die Ukraine interessierte und fast alle Wege nach Moskau führten, entwickelte sich die Ukraine zu einem modernen Land, mit einer lebendigen, politisch immer aktiver werdenden Zivilgesellschaft und dem zunehmenden Willen, das Versprechen der Souveränität auch auszufüllen und sich von Russlands Bevormundung und Kontrolle zu emanzipieren. Moskau hingegen hat in wachsendem Masse versucht, die Unabhängigkeit der Ukraine zu verhindern und das Land in seinem Orbit zu halten.
In den 2000er- und den frühen 2010er-Jahren konkurrierten prorussische und prodemokratische, westlich orientierte Politiker in der Ukraine um Vorherrschaft. Wiktor Juschtschenko und Julija Tymoschenko setzten sich für die Westbindung ein, während Wiktor Janukowytsch, der eng mit Putin verbunden war und das Land in seinen Amtszeiten als Ministerpräsident (2002-2005, 2006 und 2007) und als Präsident (2010-2014) auf einen stärker autokratischen Kurs führte.
Doch anders als in Russland, wo es Putin gelang, den politischen Raum zunehmend zu monopolisieren und auf sich auszurichten, indem er die Opposition marginalisierte, war die ukrainische Zivilgesellschaft immer entschlossener, politische Rechte in ihrem Land durchzusetzen. Die »Orange Revolution« von 2004 und die Protestbewegung auf dem Maidan, dem zentralen Platz in Kiew, an der Jahreswende 2013/14 machten klar, dass Moskaus Bemühungen, die Ukraine mithilfe von abhängigen Getreuen im Griff zu behalten, nicht funktionierte.
Janukowytsch vermochte nicht zu liefern, was sein Patron Putin von ihm erwartete: die Protestbewegung niederzuschlagen und das Land in Richtung Russland zu führen. Erhebliche Teile der Bevölkerung sahen sich vom ukrainischen Präsidenten verraten, als sich dieser im November 2013 überraschend weigerte, ein mit der EU ausverhandeltes Assoziationsabkommen zu unterzeichnen. Im Protest entlud sich die Frustration über ein Regime, das für Korruption und Autoritarismus stand und seine Versprechen, die Ukraine näher an Europa zu führen, nicht einhielt. Nachdem er vergeblich versucht hatte, die Demonstrationen gewaltsam niederzuschlagen, floh Janukowytsch im Februar nach Russland - gescheitert an der Entschlossenheit der Ukrainer, sich stärker an EU-Europa zu binden und auf diese Weise aus dem Schatten Moskaus herauszutreten.
Als Folge dieses Akts der Emanzipation und Befreiung entschloss sich Putin, ganz auf Gewalt zu setzen: erst die Besetzung und Annexion der Halbinsel Krim, strategisch bedeutsam für die angestrebte Dominanz im Schwarzen Meer, und dann der verdeckte Angriff auf die Ostukraine, den Donbas.
Die Annexion der Krim im Februar 2014 war ein Paukenschlag - eine klare Absage an die europäische Sicherheitsordnung, gründend auf der Unverletzlichkeit der Grenzen, auf der Souveränität und territorialen Integrität der Staaten. Der Westen war überrascht. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel erklärte im Bundestag, Russland stelle »das Recht des Stärkeren gegen die Stärke des Rechts, einseitige geopolitische Interessen über Verständigung und Kooperation«. Dies sei anachronistisch, widerspreche dem Geist der Globalisierung: »Das ist Handeln nach den Mustern des 19. und 20. Jahrhunderts im 21. Jahrhundert.«22 Dennoch reagierten die EU und die USA erst zögerlich und spät mit milden Sanktionen; immerhin wurde Russlands Mitgliedschaft in der Organisation der G8 suspendiert.23
Von April 2014 an ging Moskau dann einen Schritt weiter und inszenierte einen russisch gesteuerten Aufstand im Donbas. Es wurde klar, dass es Russland nicht nur um die Krim ging, sondern um ihren Anspruch, die Ukraine zu dominieren und zu kontrollieren.
Doch weiterhin zögerte der Westen, mit härteren Sanktionen zu reagieren. Erst im Juli 2014, nachdem ein Zivilflugzeug der Malaysian Airlines über der Konfliktzone abgeschossen wurde, beschlossen die USA und die EU im Schulterschluss wirtschaftliche Sanktionen, die in den Wochen zuvor vorbereitet worden waren. Dennoch führte Russland den Krieg weiter, mit zunehmender Intensität.
Zugleich arbeitete insbesondere Angela Merkel daran, einen diplomatischen Weg aus dem Konflikt zu finden. In zahlreichen Gesprächen mit Putin bemühte sie sich darum, den russisch angeführten Vormarsch in der Ostukraine zu stoppen. Dies führte schließlich zum sogenannten Minsk-II-Abkommen, das Russland, Belarus, die Ukraine sowie Deutschland und Frankreich am 12. Februar 2015 in der belarussischen Hauptstadt Minsk ausgehandelt hatten und das einen Waffenstillstand sowie einen Plan zur schrittweisen Beendigung des Konflikts beinhaltete.
Möglich war die Einigung freilich nur, weil das Abkommen so vage war, dass die Unterzeichnung für...
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