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Besuch bei einer Pionierin und einem Pionier der Selbsthilfearbeit in Deutschland
Von Berlin nimmt man den Zug, steigt in Erfurt um, gondelt durch nordhessische Hügellandschaft, steigt in Bad Hersfeld aus - und ist noch immer nicht angekommen. Die Taxifahrerin muss ihr Navigationsgerät befragen. »Zwanzig Minuten wird's schon dauern«, sagt sie und setzt die Sonnenbrille auf. Es ist Anfang Dezember, aber draußen ist eher goldener Herbst. Wie Perlen an einer Kette reiht sich ein Dörfchen ans nächste. Verwinkelte Sträßchen, Kirchtürme, Neubausiedlungen, dann wieder Felder und Pferdekoppeln. Die Frau, die ich treffen soll, wohnt weitab vom Trubel des Berliner Regierungsviertels, von den geschäftigen Forschungszentren der Republik wie Heidelberg, Essen, Hamburg oder München, und doch hat sie in den letzten 30?Jahren zusammen mit entschlossenen Mitstreitenden und der Deutschen Krebshilfe gesundheitspolitische Geschichte geschrieben.
Hilde Schulte empfängt mich bei strahlendem Sonnenschein. Sie wohnt in ihrem Elternhaus, inzwischen allein. Die 82-Jährige ist verwitwet, ihr Mann starb mit nur 62?Jahren am plötzlichen Herztod. »Das war hart«, erzählt sie, »der zweite schwere Schlag in meinem Leben.«[124] Um über den ersten zu sprechen, der sie völlig unvorbereitet getroffen und radikal aus der Bahn geworfen hat, bin ich den weiten Weg von Berlin hergekommen. Aber erst mal führt mich Hilde Schulte in ihre Wohnung. Es duftet schon. Sie hat ein Mittagessen für uns vorbereitet. »Sie haben doch sicher Hunger«, ihre blauen Augen blitzen munter.
Hilde Schulte war noch keine 50, als sie Ende der Achtzigerjahre einen Knoten in ihrer Brust ertastete. Sie ging zum Frauenarzt, der sie umgehend ins Krankenhaus zur Abklärung schickte. Dort fand man noch einen zweiten Knoten. »Direkt am selben Tag kam die Diagnose Brustkrebs. Dann hieß es: >Und morgen amputieren wir<«, erzählt sie und fügt mit einem bitteren Lächeln hinzu: »Und der nächste Tag war mein Geburtstag.« In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. »Im ersten Moment habe ich gedacht: >Die müssen sich irren.< Ich doch nicht! Ich bin fit und ernähre mich gesund. Das passte überhaupt nicht zu mir.« Schulte war fundamental verunsichert. Sie hatte das Gefühl, ihren eigenen Körper nicht mehr zu kennen, und wurde völlig überrollt von der Maschinerie, die sich nun in Bewegung setzte.
Hilde Schulte war von 2003 bis 2009 Vorsitzende des Bundesverbandes »Frauenselbsthilfe nach Krebs«. [22]
»Vor der Operation habe ich vom Krankenhaus aus meinen Mann angerufen und gesagt: >Du musst sofort kommen, ich muss hier weg. Das geht alles nicht, was die machen wollen.<« Ihr Mann eilte zu ihr in die Klinik, und zusammen versuchten die Schultes, den zuständigen Arzt zu erwischen, was gar nicht so leicht war. Schließlich nahm der sich doch ein paar Minuten, in einem kleinen, beengten Raum, zwischen zwei anderen Terminen. »Bei so einer gravierenden Entscheidung muss der Arzt doch Zeit haben, um mit der Patientin zu reden. Aber er hat uns nur notdürftig das Wesentliche erklärt, in einer sehr unangenehmen Atmosphäre«, erinnert sich Hilde Schulte. »Mir erstarb jedes Wort im Munde. Ich konnte gar nicht richtig denken. Ich hatte so viele Fragen, aber ich konnte sie nicht formulieren. Es war einfach alles unfassbar.«
Inzwischen ist die Suppe gewärmt, wir nehmen an Hilde Schultes gemütlicher Eckbank in der Küche Platz. Vor dem großen Fenster die lieblich hügelige Landschaft. Hilde Schulte besteht darauf, dass ich den Platz mit der besseren Aussicht bekomme. Sie ist zugewandt, neugierig auf meine Fragen. Eine Frau, die wohlwollende Gelassenheit ausstrahlt und Heiterkeit. Wie hat sie das geschafft, schießt es mir durch den Kopf. Mit dieser Geschichte, diesem Schicksal.
Wie erlebte sie die erste Zeit nach der Operation, will ich von ihr wissen. »Nach der Narkose bin ich aufgewacht, habe getastet, und alles war platt«, erzählt sie. »Da war natürlich ein Verband drüber und im ersten Moment habe ich gedacht, da kann ich nie hingucken.« In den späten Achtzigerjahren hatte eine Brustkrebsdiagnose oft eine deutlich schlechtere Prognose als heute. Eins ist klar, Hilde Schulte hatte Angst - Angst vor allem, was auf sie zukam, Angst vor Schmerzen, vor endlosen quälenden Behandlungen und auch Angst vor dem Tod. Zunächst begann eine Chemotherapie, die ihr alles abverlangte. »Ich habe gedacht, ich sterbe an der Chemotherapie, die hat mich kaputtgemacht.« Ihr Körper rebellierte, sie, die ihr Leben lang sportlich und vital gewesen war, erkannte sich kaum wieder. »Einmal war eine Frau neben mir bei der Chemotherapie, und ich fragte sie: >Wie lange ist es denn bei Ihnen her?< Da sagte sie: >Zehn Jahre.< Und ich dachte: >Ach, wenn ich noch zehn Jahre leben könnte!< Das war ein Traum. Und heute sind es 32.« Hilde Schulte lacht, und ihr ganzes Gesicht hellt sich auf. »Noch Suppe?«
Aber nicht nur ihr Körper war nicht mehr wiederzuerkennen, ihr ganzes Leben war ihr plötzlich fremd. Man hatte ihr nicht nur die Brust abgenommen, sondern auch die Lymphknoten entfernt, sodass sie ihren Arm nicht mehr richtig heben konnte. »Ich habe jahrelang Tennis gespielt, ich bin gepaddelt. Das ging alles nicht mehr.« Lange war sie auch zu schwach, um wieder arbeiten zu können. Mit Herz und Seele war sie zuvor Leiterin eines Jugendheimes gewesen. Nachdem sie aber auch zwei Jahre nach der Operation noch nicht fit genug war, um zurückzukehren, wurde sie kurzerhand frühpensioniert. »Entweder man ist nach zwei Jahren wieder da, oder man ist raus. Da war ich 49?Jahre alt. Das war bitter. Ich habe meinen Beruf geliebt. Ich habe lange getrauert und zurückgeblickt auf die verschlossenen Türen. Ich konnte den Hebel nicht umlegen und nach vorne schauen.« Ihr Leben war aus den Fugen geraten. »Ich habe das Vertrauen in meinen eigenen Körper verloren.«
Hilde Schulte ist inzwischen aufgestanden und macht uns Kaffee. Sie fährt noch selbst Auto, hat verschiedene Spielerunden, ist viel unterwegs. Man spürt, dass sie gern unter Leuten ist, sie erzählt anschaulich und lebendig, aber sie ist auch aufmerksam, kann gut und genau zuhören. Nach der Operation blickte sie sich um und versuchte herauszufinden, wie es um sie stand und wie es weitergehen konnte. »Ich habe immer nach Strohhalmen gesucht, aber kein Arzt hat gesagt: >Das packen Sie!< Manchmal hat eine Krankenschwester mir zugenickt und etwas gemurmelt wie >Wird schon wieder<. Aber das waren nur Oberflächlichkeiten. Deshalb war ich ganz negativ eingestellt. Ich habe mehrfach nach Prognosen gefragt, bekam aber immer nur vage Antworten, und das hat meine Angst vergrößert.«
Es gab damals keine Gesprächsangebote für sie, keine Sozialarbeiterin, die mal vorbeigeschaut hätte, keine Psychologin. »Ich habe höllisch darunter gelitten, dass niemand für mich da war, dass ich nicht an die Hand genommen wurde«, erzählt Hilde Schulte und gießt uns Kaffee in die Tassen. Wohin sie auch blickte, wichen Ärzte aus, zogen sich auf das Allernotwendigste an sachlichen Informationen zurück. Einzig wenn sie ins Gespräch mit anderen Patientinnen kam, hatte sie das Gefühl, Widerhall zu spüren - ein Gegenüber, das die eigenen Nöte und Sorgen kennt, und zwar aus eigenem Erleben. »Ich habe schnell gemerkt, dass Gespräche mit anderen Patientinnen große Bedeutung für mich bekamen«, erzählt Hilde Schulte. »Die hatten eine derartige Intensität und Glaubwürdigkeit, die sprachen ganz neue Ebenen an.«
Anfang der Neunzigerjahre steckte Hilde Schulte fest - in ihren Ängsten, in ihrer Traurigkeit angesichts der veränderten Lebensperspektiven, der verlorenen Arbeitsstelle. Als sie aber in die Rehaklinik Urbachtal kam, traf sie Professor Hans Helge Bartsch, der kurz zuvor den Verein »Auxilium - Hilfe für Krebskranke und deren Angehörige« gegründet hatte. »Professor Bartsch wies mich auf eine offene Tür«, sagt Hilde Schulte und schmunzelt. So kam sie zum Verein »Frauenselbsthilfe nach Krebs« und gründete in ihrer Gegend zusammen mit Hans Helge Bartsch eine Gruppe unter dem Dach der Frauenselbsthilfe. »Da wurde ich wieder gebraucht. Ich war mir ja vorgekommen wie ausgemustert.«
Hilde Schulte fand bei der Selbsthilfe Antworten auf ihre vielen Fragen, fand sich endlich...
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